Fallersleben. Viele Bewohner lebten seit 1964 im Komplex Mozartstraße 15/16 in der Oststadt. Jetzt will Volkswagen Immobilien das markante Gebäude kernsanieren.

Gerüchte gab’s schon lange, doch seit September haben die Mieter Gewissheit: Alle müssen raus aus der Mozartstraße 15/16, dem in vielerlei Hinsicht einmaligen Hochhaus in der Kurve inmitten der Fallersleber Oststadt. Weil Volkswagen Immobilien den Komplex komplett sanieren wird. Für viele Bewohner war der Bau seit Jahrzehnten ihr Zuhause. Drei von ihnen blicken wehmütig zurück.

Ein harter Einschnitt ist der Umzug in eine von VWI bereitgestellte neue Wohnung in der nahen Georg-Friedrich-Händel-Straße für Doris „Dorle“ Gerber (82). Sie hat seit der Fertigstellung 1964 in dem Komplex gelebt, ist damals mit ihrem vor wenigen Jahren gestorbenen Mann und ihrem Sohn dort eingezogen.

Mozartstraße 15/16 ist einziges Mietshaus mit Aufzug von VWI in Fallersleben

„Ich habe 57 Jahre hier gelebt“, sagt die Seniorin traurig. Sie verliert nicht nur ihr Zuhause und ihre gute Hausgemeinschaft. „Dass ich in dem Alter noch umziehen muss… Ich kann nicht mehr schlafen, seit ich die Nachricht bekommen habe“, verrät sie. Zudem muss sie im künftigen Domizil, wohin sie Ende Mai zieht, plötzlich Treppen steigen. Die Mozartstraße 15/16 ist nämlich das einzige Mietshaus von VW Immobilien in Fallersleben, das einen Aufzug hat.

„Ich kann ohne Rollator nicht laufen. Die fünf Stufen zur neuen Wohnung im Erdgeschoss muss ich mich dann irgendwie hochhangeln. Wie das werden soll, weiß ich auch noch nicht", überlegt Doris Gerber. In einen anderen Teil von Wolfsburg zu ziehen, war für sie keine Option: „Dann bin ich nach einer Woche tot. Man braucht Freunde und Bekannte in der Nähe. Die waren meine besten Freunde hier.“

Gebürtiger Wolfsburger zog als Kind 1964 in dem Mietkomplex ein

Gemeint sind Friedrich „Fritz“ und Rosemarie „Rosi“ Sert, ihre Nachbarn in der achten Etage der Hausnummer 15. Eine eingeschworene Gemeinschaft seit Jahrzehnten, hatten voneinander die Wohnungsschlüssel, haben sich unterstützt, sich regelmäßig getroffen.

Diese Aussicht wird ihnen fehlen: Rosemarie und Friedrich Sert auf dem West-Balkon ihrer Wohnung im achten Stock mit der Fallersleber Altstadt und dem Michaelis-Kirchturm im Hintergrund.
Diese Aussicht wird ihnen fehlen: Rosemarie und Friedrich Sert auf dem West-Balkon ihrer Wohnung im achten Stock mit der Fallersleber Altstadt und dem Michaelis-Kirchturm im Hintergrund. © regios24 | Helge Landmann

„Wir sind ja noch da!“, versucht Sert (67) sie aufzumuntern. Der gebürtige Wolfsburger hat für VW als Facharbeiter für Versuchsangelegenheiten und Ausbildungsbeauftragter gearbeitet. Mit seiner Frau Rosi (65), die aus Wittingen stammt und in Fallersleben in der „Spielkiste“ arbeitet, sowie Tochter Miriam zog er 1993 in die Wohnung im achten Stock, wo es eine unvergleichliche Aussicht gibt – und zwar gleich zweimal: vom Westbalkon und vom Laubengang auf der Ostseite des Hauses. „So eine Aussicht kriegen wir nicht wieder“, sinniert er, als er nach Südosten blickt, zur Walter-Kollo-Straße, wohin er mit seiner Frau am Donnerstag umzieht.

Gerüchteküche brodelte schon länger, bei älteren Bewohnern flossen viele Tränen

„Ich habe mit einer Unterbrechung von etwa 17 Jahren immer hier im Haus gelebt“, erzählt Fritz Sert. 1964 zogen seine Eltern mit ihm und dem kleineren Bruder ein, damals im fünften Stock, auch in der Hausnummer 15. „Die Gerüchteküche hat ja schon länger gebrodelt“, sagt er in Bezug auf die Hochhaus-Zukunft. „Aber als es offiziell war, dass wir alle hier raus müssen, haben Rosi und ich ganz schön geweint.“ Auch bei Nachbarn seien schon viele Tränen geflossen. „Es ist eine Tragik, weil hier fast nur Ältere leben, und zwar schon sehr lange.“

Gemeinsam schwelgen Fritz Sert und Dorle Gerber in Erinnerungen: „Die Infrastruktur im Haus war bemerkenswert. Wir hatten eine große Waschküche, einen Mangelraum und Trockenräume. Man konnte eine große Wäsche innerhalb eines Tages wieder in den Schrank kriegen“, betont der Fallersleber. Als 1964 die ersten Mieter einzogen, war die Mozartstraße noch unbefestigt, der Möbelwagen blieb im Schlamm stecken, erinnert er sich schmunzelnd.

Gute Hausgemeinschaft wird durch Auszug aller zwangsläufig auseinandergerissen

VW Immobilien kümmere sich gut um die Mieter und ihre Bedürfnisse rund um die Umzüge, versichern Friedrich Sert und Doris Gerber. Das Auseinanderbrechen der Hausgemeinschaft kann das aber nicht aufwiegen. „Das wird auseinandergerissen, auch wenn viele in der Oststadt bleiben“, konstatiert die Bewohnerin der ersten Stunde. „Wir werden aber in Kontakt bleiben“, versichert ihr Nachbar.

Anfangs habe er mit seiner Frau überlegt, nach der Kernsanierung des Hochhauses wieder zurückzuziehen, verrät Sert. Allerdings vermutet er, dass das Ganze wohl eher vier als zwei Jahre dauern werde. „Dann der ganze Umzug nochmal?“, verneint er kopfschüttelnd.

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Gute Aussicht zu Silvester und bei schönem Wetter bis zum Brocken

Rosi Sert gesteht: „Ich bin traurig. Die gute Nachbarschaft werde ich vermissen. Die Älteren leiden richtig unter den Umzügen.“ Sie erinnert sich aber auch an tolle Zeiten: „Bei schönem Wetter kann man bis zum Brocken gucken. Silvester war die Aussicht eh bombig. Und wir haben die Sprengung der Zuckerfabrik vom Balkon aus gesehen.“

Mit in die neue Wohnung umziehen wird übrigens eine Postkarte von 1965, die das Gebäude von Süden zeigt. Rosemarie Sert verrät: „Die hat meine Tochter im Internet von einem Ehepaar in Österreich ersteigert, das hier mal Urlaub gemacht hat.“