Braunschweig. Vor 75 Jahren erschien die erste Braunschweiger Zeitung. Der Historiker Ebbo Schröder erläutert, wie der Neubeginn in Redaktionen nach 1945 aussah.

Gerade einmal acht Monate lag der Zweite Weltkrieg zurück, als am 8. Januar 1946 die erste Nummer unserer Zeitung erschien. Die Braunschweiger Zeitung erschien als erste deutsche Zeitung in der damaligen britischen Besatzungszone. Wie sah der Neuanfang der Presse in der Nachkriegszeit aus? Was stand damals in der Zeitung – und warum überhaupt? Darüber sprachen wir mit dem Historiker Ebbo Schröder (TU Braunschweig), der über die Arbeit von Journalisten in der Nachkriegszeit geforscht hat. Im Stadtarchiv blättern wir mit ihm durch die sechsseitige Erstausgabe unserer Zeitung.

Historiker Ebbo Schröder (rechts) und BZ-Wissenschaftsredakteur Andreas Eberhard beim Interview im Lesesaal des Braunschweiger Stadtarchivs. (Das Gespräch fand bei offenem Fenster und unter Einhaltung der geltenden Corona-Regeln statt. Nur für das Foto setzten beide kurzzeitig den Mund-Nase-Schutz ab.)
Historiker Ebbo Schröder (rechts) und BZ-Wissenschaftsredakteur Andreas Eberhard beim Interview im Lesesaal des Braunschweiger Stadtarchivs. (Das Gespräch fand bei offenem Fenster und unter Einhaltung der geltenden Corona-Regeln statt. Nur für das Foto setzten beide kurzzeitig den Mund-Nase-Schutz ab.) © Braunschweiger Zeitung | Bernward Comes

Unter dem Kopf „Braunschweiger Zeitung“, dort wo heute „Unabhängig, nicht parteigebunden“ steht, lesen wir in der Erstausgabe: „Veröffentlicht unter Zulassung der Militärregierung“. Wie stand es Anfang 1946 um die Pressefreiheit in Westdeutschland?

Schröder: Die Besatzungsmächte wollten den Nationalsozialismus und den Militarismus bekämpfen und gleichzeitig den demokratischen Aufbau vorantreiben – mit den Medien und dem Journalismus als Motoren der Demokratisierung. Das führte zu einer etwas paradoxen Situation: Einerseits wollte man eine demokratische Presse aufbauen. Andererseits wollte man nach den Erfahrungen des Nationalsozialismus die Presse nicht gleich wieder in deutsche Hände geben. Man darf nicht vergessen, dass die deutschen Medien bis 1945 komplett gleichgeschaltet und gelenkt waren. Die Alliierten folgten deshalb einem Dreistufenplan: Zunächst wurden alle bisherigen Medienorganisationen in Deutschland geschlossen. Dann gaben die Alliierten Zeitungen unter eigener Kontrolle heraus. Erst im dritten Schritt wurden wieder Lizenzen an Deutsche vergeben – wie im Fall der Braunschweiger Zeitung. Damit einher gingen klare Vorgaben, die man durchaus als Zensur bezeichnen kann.

Wie sah diese Zensur aus?

Die britischen Presseoffiziere haben überprüft, inwieweit die Veröffentlichungen im Einklang mit den Vorgaben waren. Etwa durfte keine Kritik an den Besatzungsmächten geübt werden. Auch über die Spannungen zwischen den Alliierten durfte nicht berichtet werden. Und was die Außenpolitik anbelangte, musste das gedruckt werden, was der Deutsche Pressedienst (dpd), eine Nachrichtenagentur der britischen Militärregierung, zur Verfügung stellte.

Was musste man erfüllen, um eine Lizenz zu erhalten?

Die Alliierten wollten in Deutschland eine strenge Entnazifizierung der Medieneliten durchsetzen. Deshalb war ganz klar: Niemand, der im Nationalsozialismus einen Verlag geführt hatte oder Mitglied der NSDAP gewesen war, kam infrage. Im Vordergrund stand zunächst, Leute zu finden, die nicht belastet waren. Die verlegerische Erfahrung kam erst an zweiter Stelle.

Galt das auch für die Mitglieder der Redaktionen, oder hielten im Windschatten untadeliger Verleger, wie Hans Eckensberger es war, von Anfang an auch Journalisten Einzug, die bereits für die NS-Presse gearbeitet hatten?

Das wurde in den Besatzungszonen unterschiedlich gehandhabt. Aber in den Jahren 1945 und 1946 galt noch ziemlich klar: Niemand, der in der Partei, der Reichspressekammer oder während der NS-Zeit journalistisch tätig gewesen war, sollte für eine Zeitung arbeiten dürfen. Deshalb setzte man zum einen auf Rückkehrer aus der Emigration, zweitens auf ehemalige Verfolgte des NS-Regimes und drittens auf junge Menschen – die sogenannte 1945er-Generation, die wie Eckart Schimpf berichtet, von Hans Eckensberger stark gefördert wurde. Aus dieser Generation sind ja ganz prägende Figuren des deutschen Journalismus hervorgegangen wie Hanns Joachim Friedrichs, Rudolf Augstein und Günter Gaus, der ja auch bei der Braunschweiger Zeitung hospitiert hat. Aber man muss auch sagen: In der deutschen Presse herrschte damals ein großer Mangel an kompetenten Leuten. Deshalb strömten bereits ab 1947/48 viele, die bereits in der NS-Presse Karriere gemacht hatten, zurück in die Redaktionen. Die Gründe dafür waren zunächst ganz pragmatisch. Allerdings begünstigte auch die veränderte politische Großwetterlage im beginnenden Kalten Krieg diese Entwicklung. Zwei Jahre nach Kriegsende waren viele Redaktionen bereit, „Ehemalige“ wieder ins Boot zu holen.

Wie lässt sich die Braunschweiger Zeitung 1946 politisch einordnen?

Zunächst plante die britische Militärregierung, dass die Braunschweiger Zeitung eine SPD-nahe Zeitung sein sollte. Die Redaktion war relativ bunt zusammengewürfelt, aber der erste Chefredakteur der Zeitung, Fritz Sänger, der bis 1943 für die „Frankfurter Zeitung“ geschrieben hatte, war ein SPD-Mann. Wenn wir uns die Erstausgabe anschauen, sehen wir an vielen Stellen die sozialdemokratische Ausrichtung. Im Leitartikel ist etwa zu lesen: „Sozialismus und Demokratie sind die Aufgaben, vor denen der politische Wille in Deutschland steht.“ Auch der Artikel zur Lage der Kultureinrichtungen in unserer Region legt den Fokus klar auf die „werktätige Bevölkerung“ als Zielgruppe.

In der Rubrik „Im Spiegel der Frauen“ steht ein Artikel ganz im Geiste der „Reeducation“. Er ruft Frauen zu Selbstkritik auf mit Blick auf das Wegschauen in der NS-Zeit. Waren solche Artikel glaubhaft oder eher Versuche, Erwartungen der Besatzer zu erfüllen?

Das lässt sich im Einzelfall schwer sagen, erst recht, wenn man nicht weiß, wer das geschrieben hat. Aber es gab damals – insbesondere 1945/46 – viele, die sehr ernsthaft am demokratischen Neuaufbau mitwirkten und nicht nur ihr Fähnchen in den Wind hängen wollten.

Vielleicht liegt es auch am extrem getragenen Stil, dass dieser Text heute etwas künstlich wirkt.

Das ist ein interessanter Aspekt. Denn Ziel der alliierten Reeducation war es nicht nur, die Sprache der deutschen Journalisten zu entnazifizieren sondern auch zu „entschwurbeln“. Das betraf sowohl den Aufbau als auch den Stil von Nachrichtentexten. Man wollte den Deutschen Journalisten das gedrechselte, mit bildungsbürgerlichen Begriffen überfrachtete Deutsch abgewöhnen.

Sie haben gesagt, über Gegensätze zwischen den Alliierten dufte nicht berichtet werden. Wer zwischen den Zeilen liest, findet in der Erstausgabe aber viele Hinweise auf den beginnenden Kalten Krieg.

Das stimmt. Und wir wissen, dass es genau darüber Auseinandersetzungen zwischen Chefredakteur Fritz Sänger und dem zuständigen britischen Presseoffizier gab. Es ging um die Frage, inwieweit die Braunschweiger Zeitung über die offensichtlichen Spannungen zwischen Ost und West berichten durfte. Es war zwar einiges möglich, wie man an dem Titelseitentext über die sich anbahnende Zwangsehe von SPD und KPD in der sowjetischen Zone sieht. Aber wenn die Redaktion die Spannungen explizit ansprach und womöglich auch noch kommentierte, ging das den Briten zu weit. Der Presseoffizier ermahnte Sänger, sich streng an die vorgefertigten Berichte des dpd zu halten. Aber Sänger gab nicht klein bei. Über sein sozialdemokratisches Netzwerk, das bis in die britische Labour Party reichte, versuchte er sich gegen die Auflagen zur Wehr zu setzen – offenbar auch mit einigem Erfolg.

Auch über den Nürnberger Prozess gegen die NS-Hauptkriegsverbrecher wird berichtet. Allerdings sehr oberflächlich. Sie haben zu den Journalistinnen und Journalisten in Nürnberg geforscht. Wie ordnen Sie den Text ein?

Dieser Bericht ist ein damals typischer Versuch, den klassischen angloamerikanischen Nachrichtenjournalismus zu imitieren. Die Berichterstattung in einigen englischen Zeitungen liest sich nicht viel anders. Es ist eine relativ lieblose Aneinanderreihung von Zitaten aus dem Gerichtssaal. Zusammenhänge werden nicht erläutert. Nichts wird anschaulich. Es wird keine Position bezogen. Der Leser hat kaum die Möglichkeit, eine Vorstellung von dem zu bekommen, worum es da eigentlich geht. Und das zieht sich durch alle dpd-Artikel zu den Nürnberger Prozessen, wie sie nicht nur in der Braunschweiger Zeitung erschienen sind.

Stießen diese Berichte denn auf Interesse bei den Leserinnen und Lesern im Jahr 1946?

Das lässt sich natürlich nur schwer sagen, da das Leseverhalten – anders als heute beim E-Paper – damals nicht erfasst wurde. Fest steht: Über kein Thema wurde so viel berichtet wie über den Nürnberger Prozess. Das lag aber vor allem an den Vorgaben der Alliierten. Dass sich die Öffentlichkeit dagegen wenig für das Thema interessierte, sehen auch einige Historikern so. Diese Sichtweise las man damals übrigens auch in der Braunschweiger Zeitung. In ihren Leitartikeln stand: Das deutsche Volk leide, es habe angesichts der Not der Nachkriegszeit andere Probleme. Die NS-Oberen auf den Anklagebänken hätten nichts mehr mit den übrigen Deutschen zu tun, weil man sich bereits meilenweit von der NS-Zeit entfernt habe. All das sei „dunkle Vergangenheit“. Hier findet sich das gesamte Repertoire der Selbstentlastung: Von „Wir sind die eigentlichen Opfer“ bis zur „Siegerjustiz“. Zudem wies man jede Form von Kollektivschuld weit von sich. Die Braunschweiger Zeitung ist hierfür ein ganz typisches Beispiel.

Verblüffend finde ich die Wahl des Aufmacherthemas „Angriffsziel: Schweiz“ über NS-Pläne, im Krieg Teile der Schweiz zu annektieren. Ich frage mich ehrlich: War das ein Thema, das bei Braunschweiger Leser damals einen Nerv traf?

(Lacht) Ich würde sagen, diese etwas ausgefallene Themensetzung ist eher den Vorgaben der britischen Presseoffiziere geschuldet als dem vermuteten Interesse der Leserschaft. Dieser Text ist ein typischer Reeducation-Artikel – genauso übrigens wie die Berichte über den Nürnberger Prozess: Anhand historischer Dokumente soll den Deutschen vor Augen geführt werden, welche Verbrechen begangen oder geplant worden waren. Aber man kann mit Recht bezweifeln, ob solche „Geschichtsstunden“ geeignet waren, die Deutschen zu bewegen, sich mit ihrer NS-Vergangenheit auseinanderzusetzen.

Bemerkenswert finde ich dagegen den idealistischen Aufbruchsgeist, den andere Artikel versprühen. Etwa der Leitartikel über die „Deutsche Presse“.

Als Journalist lesen Sie diesen Text wahrscheinlich noch einmal anders als ich als Historiker. Aber es stimmt: Man spürt, wie ernst dem Autor seine Sache ist. Der Text atmet den unbedingten Willen, als Journalist eine gesellschaftliche Aufgabe zu erfüllen. Hier sehen wir das klassische Selbstverständnis eines Journalisten aus der Arbeiterbewegung. Es ist wirklich interessant zu sehen, was für einen Anfang die Braunschweiger Zeitung am 8. Januar 1946 nimmt – erst recht, wenn man bedenkt, was für einen Weg sie durch die folgenden Jahrzehnte in der Bundesrepublik genommen hat. Die lange konsequent konservative Linie wurde ja erst in den neunziger Jahren wieder verlassen – zugunsten einer größeren gesellschaftlichen Offenheit. Eckhard Schimpf hat das Anfang dieses Jahres in einem Interview Ihrer Zeitung ja anschaulich geschildert.

Lassen Sie uns noch einen Blick auf die Sport-Seite werfen. Da steht: TSV hat gegen St. Pauli 3:3 unentschieden gespielt. TSV?

Ja. Nach Kriegsende waren alle deutschen Vereine aufgelöst worden, natürlich auch Eintracht Braunschweig. Der TSV war der erste von den britischen Besatzern wieder zugelassene Großverein. Es dürfte aber allen Lesern klar gewesen sein, welche Mannschaft da spielte. Der Verweis auf die blau-gelben Trikots in der Unterschrift des – wohlgemerkt schwarz-weißen – Zeitungsfotos ist eindeutig. Dazu die Einschätzung des Sportreporters: „Zweifellos befindet sich die Mannschaft auf dem richtigen Wege, um das Weitere braucht man sich dann wohl kaum noch Sorgen zu machen.“ Das klingt doch gut. 1949 benannte sich der TSV dann wieder in Eintracht um.

Nach der ersten Ausgabe vom Dienstag, 8. Januar, erschien die zweite Braunschweiger Zeitung erst am Freitag, 11. Januar.

Ja, das lag daran, dass Zeitungspapier Mangelware und streng rationiert war – übrigens nicht nur im besetzten Deutschland, sondern auch in Großbritannien. Deswegen war es keine Ausnahme, dass die Braunschweiger Zeitung zunächst nur zweimal pro Woche erschien und auch nur sechs Seiten hatte.

1949 endete die Zeit der Lizenzen. In Westdeutschland durfte nun wieder jeder eine Zeitung gründen. Wie erfolgreich waren die Bemühungen der vorausgegangenen Jahre gewesen?

Die Historikerin Christina von Hodenberg hat das untersucht. Von den drei Zielen – Zerschlagung des NS-Propagandaapparats, Entnazifizierung der Medien-Eliten und Verwestlichung des Journalismus – wurde nur das erste voll erreicht. Über die schrittweise Rückkehr der alten, bereits bis 1945 aktiven Journalisten in die Redaktionen haben wir ja bereits gesprochen. Bei der Entnazifizierung kann man daher nur begrenzt von Erfolg sprechen. Eine Verwestlichung des Journalismus, mit einer Presse, die arbeitsteilig arbeitet, investigativ recherchiert und dem Staat kritisch gegenübersteht, entwickelt sich in Deutschland erst in den kommenden Jahrzehnten. Hierbei spielt „Der „Spiegel“ eine entscheidende Rolle.

75 Jahre Braunschweiger Zeitung

Dieser Text ist Teil unseres großem Themenschwerpunktes zum 75-Jährigen Bestehen der Braunschweiger Zeitung.

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