Braunschweig. Mein perfektes Wochenende: Wilfried Bludau und Harald Gehrke lieben seit 40 Jahren das Tippkick-Spiel.

Der Ball ist rund. Und ein Spiel dauert 90 Minuten. Behauptete einst der legendäre Bundestrainer Sepp Herberger (1897-1977). Fußballweisheiten, wie in Stein gemeißelt. In Volkmarode spielen sie mit eckigen Bällen, genauer: mit zweifarbigen kuboktaedrischen (zwölfeckigen) Kugeln, die insgesamt 14 Flächen haben: sechs Quadrate und acht gleichseitige Dreiecke. Im Vereinsheim von Rot-Weiß am Seikenkamp. Und ein Spiel dauert hier auch nicht 90, sondern nur nur 3 Minuten. Das haben Wilfried („Willi“) Bludau und seine Jungs so festgelegt. „Weil ein Turnier sonst zu lange dauern würde.“

Roter Pinökel auf dem Kopf

Bludaus Tippkicker – nur so lang wie ein Finger sind sie, mit einem roten Pinökel auf dem Kopf, ein Druckknopf, der aussieht wie ein Feuermelder. Zum Draufhauen. Motto: Leichte Schläge auf den Hinterkopf… Erhöhen das Schussvermögen! Das Besondere an ihnen: Sie alle haben nur ein bewegliches Bein, mit dem sie die zwölfeckige Pille ins Tor kicken können. Und wie!

Tippkick nennt sich der „Sport“, den sie in Volkmarode seit 39 Jahren betreiben. Mit handelsüblichen Spielfiguren aus dem Spielwarenladen, auf einem Filz-Spielfeld im Format 1:100, das exakt 1,06 mal 0,70 Meter groß sein muss. Das schreibt der Deutsche Tipp-Kick-Verband (DTKV) vor. Zwei Torhüter mit ausgestreckten Armen bewachen die 8,5 Zentimeter breiten Tore.

Über eine Stange sind sie mit einem Bedienungskästchen verbunden, das hinter dem Tor steht. Mit Hilfe von zwei Druckknöpfen kann man sie in die rechte oder linke Ecke tauchen lassen – je nachdem. Und tatsächlich: Bei ausreichender Geschicklichkeit des Bedieners können sie so selbst die gefährlichsten Gewaltschüsse und Aufsetzer parieren. „Ein bisschen Glück gehört aber immer dazu“, sagt der 61-jähriger Tippkicker. „Man muss die richtige Ecke ahnen.“

Im Wohnzimmer ging’s los

Seit dem Jahr 1980 sind er, Bludau, und sein Kumpel Harald („Harry“) Gehrke (62) am Ball. Los ging’s mit dem Spielbetrieb in Gehrkes Wohnzimmer, später wechselte man in verschiedene Volkmaroder Gaststätten. „Seit 2003 tragen wir unsere Turniere nun im Vereinsheim aus! Bei Volker. 25 Tippkicker sind es inzwischen geworden, die sich immer montags um 19.30 Uhr treffen. Und immer das gleiche Ritual vor so einem harten Turnier: Man stärkt sich gemeinsam mit einer Currywurst mit Pommes, natürlich rot-weiß. Was sonst?

Tippkick – erfunden zu einer Zeit, als es noch keine Playstation gab, keine Fifa-Games auf der Konsole. Als Kinder noch auf dem Bolzplatz kickten. Und wer hat’s erfunden? Ein Schwabe war’s. Als Tippkick-Erfinder gilt der Stuttgarter Möbelfabri-kant Carl Mayer, der das Spiel 1921 zum Patent anmeldete („Fußballbrettspiel“). Der Schwenninger Exportkaufmann Edwin Mieg erwarb die Lizenz 1924, machte sich noch im selben Jahre selbständig und entwickelte das Spiel zu einem marktgerechten Artikel, das sich bis 1938 zu einem echten Verkaufsschlager entwickelte.

Nur ein bewegliches Bein

Aus den einstigen Blechfiguren sind heute präzise Hightech-Kicker geworden. Das Grundprinzip ist aber gleich geblieben: Der Feldspieler kickt den Ball mit seinem rechten, beweglichen Bein, das per Knopfdruck mechanisch bewegt wird.

Seit 1959 werden alle zwei Jahre Deutsche Meisterschaften ausgespielt. Unter der Bundesliga befinden sich 2. Bundesliga, Regional- und Verbandsligen. Concordia Lübeck ist Rekordmeister mit 12 Titeln.

So viel zu den „Profis“. Doch da möchten unsere Volkmaroder gar nicht mitmischen. Sie bleiben unter sich, spielen allwöchentlich Turniere aus, bei Volker im Vereinsheim. Und da geht’s zur Sache. Es wird geballert, bis das Schussbein wackelt. Doch nicht immer gewinnt der Bessere, auch Glück muss man haben. Denn stets darf nur der den Ball spielen, dessen Farbe, nachdem der Ball ausgekullert ist, oben zu liegen kommt. „Da brauchst du Glück. Es kann passieren, dass zehn Mal hintereinander die gleiche Farbe kommt. Das heißt dann für den Gegner, dass er nicht rankommt – und keine Tore erzielen kann.“

Das Farbspiel – zentrales taktisches Element des modernen Tipp-Kick-Spiels. Der zwölfeckige Tipp-Kick-Ball, der zur Hälfte schwarz und zur Hälfte weiß ist, wird mit viel Geschick so gespielt, dass er auf einer bestimmten, der vom Schützen intendierten „Farbe“ liegen bleibt.

Durch das Farbspiel, sagen Experten, habe sich das gute alte Tipp-Kick-Spiel, das auf dem Zufallsprinzip basierte, revolutionär verändert. Profis ist es möglich, den Zufallsfaktor auf ein Minimum zu reduzieren, da nur noch in wenigen Spielsituationen das Glück darüber entscheidet, auf welcher Farbe der Ball liegen bleibt und welcher Spieler somit am Zug ist.

Profis feilen die Füße an

Doch wie schießt man den Ball ins Tor? Bludau lacht. „Da gibt’s einige Kniffe.“ Entscheidend sei zum einen, wie stark man die Spielfigur antippt. „Zum anderen sind Abstand und Winkelstellung des Fußes zum Ball entscheidend. Steht mein Spieler ganz dicht dran am Ball, und ich tippe ihm locker auf den Kopf, wird’s ein Heber. Steht er weiter weg, und ich haue stärker drauf, wird’s ein harter Flachschuss.“

Den unsere beiden Volkmaroder Tippkicker „Willi“ und „Harry“ bevorzugen. Mit einem Affenzahn sausen die Bälle durch die Gegend, wenn sie loslegen.

Und dann der Spielerfuß. Die Mauke, wie Fußballer sagen. Bei den Volkmaroder Tippkickern ist es verpönt, an dem Ding rumzumanipulieren. Profis tun’s. Der Schussfuß wird mit einer Feile bearbeitet, dass er in der Lage ist, den Ball in Drehung zu versetzen. Torhüter haben’s da schwer. „Manche setzen der Figur auch andere Beine ein. Aber auch das machen wir hier nicht.“

Kick it like Günter Netzer

„Willi“ und „Harry“, wie sie hier jeder nennt, könnten noch viel erzählen über ihren „Sport“. Etwa, dass zur Fußball-WM der Frauen 2011 erstmals Figuren hergestellt wurden, die weibliche Spieler darstellen. Oder dass auch Prominente wie Campino von den Toten Hosen und die Hoeneß-Brüder Uli und Dieter begeisterte Tipp-Kick-Spieler sind/waren. Oder dass sich im Film „Aus der Tiefe des Raumes“ eine Tipp-Kick-Figur in einen echten Menschen verwandelt, der zum Schluss wie Günter Netzer aussieht.

Der Film spielt im Jahr 1965. Hauptfigur ist der Kfz-Lackierer Hans-Günter, der von seinem Chef schikaniert wird. Hans-Günter beherrscht das Tipp-Kick-Spiel fast bis zur Perfektion. Bei einem Turnier lernt er die hübsche Zeitungsfotografin Marion kennen. Aber das ist wieder ein anderes Thema.