Braunschweig. Für die deutsche Internet-Enzyklopädie schreiben derzeit 6000 Freiwillige. Vor allem weibliche Autoren fehlen.

Wikipedia ist die siebtbeliebteste Internetseite der Deutschen. „Die deutsche Wikipedia wird über 1,4 Millionen Mal aufgerufen – und das pro Stunde“, weiß Jan Apel als Unternehmenssprecher von Wikimedia Deutschland.

„Allein die deutsche Wikipedia wird 1,4 Millionen Mal aufgerufen – pro Stunde.“
Jan Apel, Unternehmenssprecher von Wikimedia Deutschland

Am 16. März wird die Netz-Enzyklopädie 15 Jahre alt. Längst hat sie sich etabliert, gedruckte Pendants wie das Brockhaus-Lexikon in Sachen Aktualität ausgestochen. „Und die deutschsprachige Version ist eine der weltweit umfangreichsten“, sagt Apel. Insgesamt ist Wikipedia in 300 Sprachen verfügbar. Probleme könnte laut Apel künftig allerdings der Schwund in der Community verursachen. Denn: „Inzwischen gibt es weniger Autoren als noch vor fünf Jahren.“

Deren Zahl gebe allerdings keinen Hinweis darauf, wie viele täglich auf die Seiten des Online-Kompendiums zugreifen und daran arbeiten. Für Wikipedia Deutschland schreiben laut Apel 6000 Autoren regelmäßig mehr als fünfmal monatlich – weltweit sind es 70 000.

„Die gesammelte Intelligenz des Schwarms stößt bei Wikipedia aktuell an ihre Grenzen.“
„Die gesammelte Intelligenz des Schwarms stößt bei Wikipedia aktuell an ihre Grenzen.“ © Rolf Nohr, Medienwissenschaftler der HBK Braunschweig.

Einer von ihnen ist Matthias Süßen, ein Journalist aus Bremen. Gemeinsam mit 14 Mitstreitern bearbeitet er seit zehn Jahren Themen rund um seine Heimat Ostfriesland. „Lust auf Recherche habe ich auch in meiner Freizeit“, sagt der 40-Jährige. Seiner Meinung nach fördere Wikipedia die Medienkompetenz der Leser. „Im Artikel verweisen Links auf themenverwandte Beiträge. Wer sich informieren will, kann bei uns die ganze Bandbreite des Internets nutzen.“ Mit „uns“ meint Autor Süßen die aktiven „Wikipedianer“.

Als „Flaggschiff-Projekt des Web 2.0“ bezeichnet Rolf Nohr, Professor am Institut für Medienforschung der Hochschule für Bildende Künste Braunschweig, das Online-Lexikon. „Wikipedia verbindet kollaboratives Arbeiten und den Open-Source-Gedanken des Internets in nie da gewesener Form“, umreißt der Medienwissenschaftler die Vorzüge der Gemeinschaftsprojekte, das für jedermann zugänglich und editierbar ist.

1,9 Millionen Beiträge, sogenannte Wikis, umfasst die deutsche Version. „Eine stolze Zahl“, bekräftigt Apel. Es gebe aber noch vieles, das noch nicht zu finden sei. Zum Vergleich: Die 30-bändige, 70 Kilo schwere 21. Auflage der Brockhaus-Reihe umfasst weniger als ein Sechstel dessen – genau 300 000 Stichworte und 40 000 Bilder auf 24 500 Seiten.

Trotz unbegrenzter Speichermöglichkeiten macht Medienwissenschaftler Nohr eine „Mini-Krise“ beim Online-Lexikon aus. Die Autoren schwinden – allmählich aber stetig. Dabei ist es recht simpel, ein Wiki-Autor zu werden. Denn: Alle können mitschreiben. Laut Nohr ein Problem: „Die ursprüngliche Idee, dass alle gemeinsam an einem Lexikon arbeiten und jeder Input liefert, stößt an ihre Grenzen. Die Intelligenz des Schwarms – also aller Autoren – liefert wegen zu unterschiedlicher Ansichten nicht immer die erwünschten Ergebnisse“, sagt der Medienexperte. Das führe dazu, dass die Fassung eines Themas niemals endgültig fixiert werden kann.

An dieser Stelle hat Wikipedia eingegriffen und Standards geschaffen, die zur Sicherung der Qualität beitragen sollen. Laut Apel kümmern sich sogenannte (Super-)Administratoren mit verschiedenen Kompetenzen um Wartung und Inhalte von Wikipedia. Die Admins würden zuvor von der Community gewählt und mit Sonderrechten ausgestattet .

Das schreckt einige Autoren ab. Wenngleich Neutralität und Relevanz für Wikipedia bei jeder Veröffentlichung Priorität haben: „Manchmal müssen exemplarische Fälle diskutiert werden“, ergänzt der Unternehmenssprecher und meint damit vor allem verschärfte Kriterien für Beiträge zu politischen Strömungen oder der Flüchtlingsdebatte. „Wenn Bearbeitungen nicht den Prinzipien des neutralen Standpunktes entsprechen, werden sie wieder gelöscht.“ Diese Aktionen verprellten Autoren, meint Medienwissenschaftler Nohr. „Für ein Projekt, das sich im Internet mit freiwilligen Autoren entfalten wollte, ist der Schritt hin zu mehr Kontrolle durch dominante Positionen ein Schritt zurück.“

Ein Schritt in die falsche Richtung sei für Autor Süßen auch eine endgültige Version bestimmter Einträge. Eine Wikipedia-Geschichte sei schließlich nie zu Ende erzählt, findet der Journalist. Selbst Historisches könne mit aktuellen Forschungsergebnissen immer wieder angereichert werden.

Medienwissenschaftler Nohr sieht einen weiteren Grund für die sinkende Autorenzahl. Um bei Wikipedia aufzusteigen, brauchen Autoren Zeit. „Und einige wollen die einfach nicht ständig aufbringen“, sagt Nohr, der sich dabei nicht ausnimmt. „Es ist für ein freiwilliges Projekt schwer, die Kontinuität in der Autorenschaft zu verwalten.“ Abhilfe könnten - so zumindest Nohrs Vorschlag – professionelle Bezahlmodelle schaffen. „Viele Inhalte im Netz sind nicht mehr umsonst. Warum sollte die gute Arbeit der Wikipedia-Autoren davon ausgenommen sein?“

Journalist Süßen macht unter den Autoren vor allem Nachteile für Anfänger aus . „Durch die gestiegenen formellen Standards, müssen sich neue Schreiber durch einen Regel-Dschungel kämpfen.“ Oft fehle die Unterstützung der Erfahrenen. Deshalb würden den Ansprüchen nicht genügende Beiträge – speziell von Anfängern – mitunter rigoros entfernt.

Und noch etwas fällt Süßen während der Autorentreffen wie etwa in Braunschweig auf. Weibliche Autoren sind Mangelware. „Hier setzt Wikipedia an und startet gehäuft Kampagnen, um Autorinnen zu gewinnen.“ Wenn es nach Süßen geht, eine zukunftsweisende Maßnahme.

WIKIPEDIA-PANNEN

Falscher Verwandter Mit einem frisierten Wikipedia-Eintrag gelangte ein Fan 2015 in den Backstage-Bereich der australischen Band Peking Duk. David Spango gab sich als Verwandter des Elektro-Duos aus. Als diese einen Nachweis verlangten, zückte er Ausweis und Smartphone mit dem Wikipedia-Eintrag zur Band, den er zuvor um die Worte „Family David Spango“ ergänzt hatte.

Falscher Name Freiherr zu Guttenberg hat viele Vornamen. Wilhelm gehört nicht dazu. Als der CSU-Politiker im Februar 2009 Wirtschaftsminister wurde, mogelte ein Scherzbold in dessen Wikipedia-Biografie neben den anderen Namen auch Wilhelm rein. Der Fehler stand zwar nicht lange auf der Seite, einige Medien übernahmen ihn aber aus dem Online-Lexikon.

Falsche Verdächtigungen

Der amerikanische Journalist John Seigenthaler stellte im September 2005 schockiert fest, dass ihm in Wikipedia eine Verwicklung in die Morde an John F. Kennedy und dessen Bruder Bobby unterstellt wurde. Die Behauptung stand monatelang online. Der Fall führte zu heftigen Kontroversen, wie das Lexikon zuverlässiger werden kann.