Braunschweig. Kunstrasen ist in die Kritik geraten, weil er Mikroplastik in die Umwelt abgibt. Viele Beläge müssen wohl getauscht werden.

Im Frühsommer wurde Fußball-Deutschland mächtig aufgeschreckt. Eine Studie des Fraunhofer Instituts und eine Ankündigung der EU ließen manche Funktionäre sowie Bundesinnenminister Horst Seehofer (CDU) schon reflexhaft das Ende des Amateurfußballs heraufbeschwören. Denn plötzlich wurden Kunstrasen-Plätze in Frage gestellt. Dabei waren sie in den Jahren zuvor deutschlandweit zu hunderten durch die Kommunen für die Amateurvereine neu errichtet worden und galten zwischenzeitlich als Ideallösung im Sportstättenbau.

Doch in der festen Absicht, die Freisetzung von umwelt- und gesundheitsschädlichem Mikroplastik in die Umwelt einzudämmen, hatte die EU-Kommission angekündigt, eventuell ab 2022 jenes Kunststoffgranulat europaweit verbieten zu wollen, mit dem die Mehrzahl der Kunstrasen-Fußballplätze aufgefüllt ist. Diese häufig aus Altreifen bestehende Substanz wird auf die Plätze aufgestreut, um die Verletzungsgefahr der Spieler zu verringern und das Roll- und Sprungverhalten des Balles zu verbessern.

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Seehofer forderte als Sportminister einen „vernünftigen Ausgleich zwischen Umweltschutz und Interessen des Sports“ und unkte: „Viele Tausend Sportanlagen in deutschen Kommunen wären sonst von der Schließung bedroht.“ Im Sturm der Entrüstung bemühte sich die EU-Kommission schnell klarzustellen, dass sie durchaus die große Bedeutung von Kunstrasenplätzen würdige. Es sollten keineswegs die Plätze, sondern nur die Verfüll-Granulate aus synthetischem Kautschuk verboten werden. Der Deutsche Fußball-Bund forderte zumindest Bestandsschutz und Übergangsfristen von sechs Jahren.

Inzwischen hat sich die Aufregung ein bisschen gelegt. Die alarmierenden Zahlen des Fraunhofer Instituts für Umwelt- Sicherheits- und Energietechnik, wonach Verwehungen der Sport- und Spielplätze die Nummer fünf der Großverschmutzer seien und bis zu 11.000 Tonnen Mikroplastik im Jahr über Kunstrasenplätze in die Umwelt gelangten, wurden von der Kunstrasenbranche angezweifelt.

Es sei in der Studie, die auf Schätzungen beruht, von falschen Konzentrationen der Schadstoffe ausgegangen worden. Die Hersteller hätten den Anteil der gesundheits- und umweltschädlichen Kautschukkügelchen an den Granulat-Belägen in jüngster Zeit deutlich reduziert, auch müsse weniger Granulat aufgetragen werden.

Zum anderen gibt es natürliche Alternativen zum Kunststoffgemisch, die auch bereits genutzt werden, allerdings teurer sind. In Hamburg beispielsweise ist der Großteil der Spielfelder mit Quarzsand verfüllt, und in Braunschweig wird – für 10.000 Euro Mehrkosten gegenüber der ursprünglichen Granulat-Planung – der Platz in Rüningen mit Kork belegt.

Und so läuft es wohl darauf hinaus, dass – je nach Schärfe des zu erwartenden EU-Gesetzes mehr oder weniger schnell – die Kunststoffgranulate auf den Kunstrasen-Fußballplätzen durch Sand oder Kork ersetzt werden. Das soll zwischen 30.000 und 60.000 Euro pro Anlage kosten. Allerdings haben auch die natürlichen Beläge ihre Nachteile. Auf Sand zu grätschen ist höchst unangenehm, Kork kann bei Regen aufschwemmen und schneller gammeln.

Mit der Frage nach dem Verfüllmaterial ist allerdings noch nicht die nach der Gesamt-Klimabilanz der Kunstrasenplätze im Vergleich zu Naturspielfeldern beantwortet. Denn auch die Tragschicht mit den Rasenfasern ist ja künstlich und somit nicht umweltfreundlich. Und was ist mit dem Pflegeaufwand?

Fragen, die uns ein Mann aus der Praxis beantwortet: Jerome Sittler. Der 36-Jährige ist bei Eintracht Braunschweig derzeit noch als Berater und ab Januar als „Head-Greenkeeper“ tätig. Dabei liegt sein Hauptaugenmerk auf den Naturrasenplätzen. Die Kunstrasenplätze des Vereins, für die Hockeyabteilung, im Nachwuchsleistungszentrum und am Biberweg, werden in Zusammenarbeit mit der Stadt gepflegt. Sittler, der vier Jahre lang als Greenkeeper beim Braunschweiger Golfklub und zuletzt ein Jahr für den GCC Basel gearbeitet hat, lässt auch keinen Zweifel daran, dass sein Herz für den echten Rasen schlägt.

„Mit einem Kunstrasen entfernt man auf mindestens 0,8 Hektar einen natürlich gewachsenen Boden mit all seinen Kleinstlebewesen und Mikroorganismen“, verdeutlicht der Experte. „So verzichten wir auf eine Sauerstoff spendende Fläche, die dem Menschen und seiner Umgebung dient.“

In Studium und Ausbildung habe er gelernt, dass ein Naturrasen übers Jahr gesehen bis zu 30 vierköpfige Familien mit Sauerstoff versorgt, indem Kohlen- und Schwefeldioxide gebunden und zu Sauerstoff verarbeitet werden. „Dazu kommt, dass der Naturrasen ein kleines Mikroklima bildet und seine Umgebung abkühlt“, berichtet Sittler. „Der Kunstrasen dagegen heizt sich und damit auch die Umgebung auf, und das ist natürlich ein großer Nachteil. Wir wollen ja gerade keine Erderwärmung.“

Beim Naturrasen kämen die Abgase der Pflegemaschinen in die Klimabilanz, hin und wieder auch mal ein Pflanzenschutzmittel und der Verbrauch von Wasser, um den Platz zu sprengen. Wie viel Wasser benötigt werde, sei von der Witterung abhängig, sagt der Greenkeeper. „Ich würde sagen, alle zwei bis drei Tage muss man einen Naturrasen bewässern, wenn es keine natürlichen Niederschläge gibt.“

Der Unterschied zum Wasserverbrauch für einen Kunstrasen lasse sich schwer bemessen, sagt Sittler. Auch Kunstrasenplätze müssten gesprengt werden, vor allem im Sommer. „Eine Bewässerungsanlage ist eigentlich ein Muss bei Kunstrasen. Wenn die Sonne drauf scheint, erreicht man sonst ganz schnell 50 bis 60 Grad, das ist sehr unangenehm für die Sportler.“

Aber wie großzügig Kunstrasenfelder tatsächlich gewässert werden, hängt von vielerlei Faktoren ab. Hockeyplätze beispielsweise sind in Deutschland – auch in Braunschweig bei Eintracht, MTV und BTHC – fast immer reine Kunstrasenflächen, die einen kürzeren Flor als die Fußballplätze haben und immer beregnet werden müssen. Das Wasser bildet dann anstelle eines Verfüllmaterials die Gleitschicht, auf der die Bälle, aber auch die Akteure sanft rutschen.

Bei kommunaler Pflege der Fußballplätze werde auch schon mal am Wasser gespart, berichteten Vereinsvertreter unserer Zeitung, ohne ihren Namen nennen zu wollen. Schließlich sind die Klubs dankbar, wenn sie wie in Braunschweig Kunstrasenfelder von der Stadt bekommen, und wollen nicht meckern. In der gerade beginnenden nasskalten Jahreszeit werden die Vorteile des künstlichen Untergrundes ja auch wieder besonders deutlich: Wer einen robusten Kunstrasen nutzen darf, kann durchtrainieren und seine Spiele wie angesetzt bestreiten. Wer Naturrasen nutzt, muss damit leben, dass die aufgeweichten Plätze oft gesperrt werden, und schaut zu. Die höhere Zahl von Nutzungsstunden ist auch das Hauptargument der Kommunen für Kunstrasen.

Trotzdem benötigt auch ein Kunstrasen einiges an Pflege. Es sei ein Trugschluss zu glauben, man lege ihn aus und habe dann für 15 Jahre Ruhe, stellt Sittler klar. „Der Platz ist ja genauso äußeren Einflüssen ausgesetzt wie ein Naturrasen. Da sind drum herum Bäume oder Grünflächen, und es gibt Pollenflug und runterfallende Blätter, organisches Material, das die Grundlage zum Beispiel für Moosbildung sein kann“, schildert Sittler. „Nach eineinhalb oder zwei Jahren wird der Belag also rutschig, wenn er nicht richtig gepflegt wurde.“

So brauche man für die Pflege Maschinen, um zum Beispiel die Granulatfüllung zu lockern, zu kehren oder das Laub abzublasen. Auch ein neuer Belag müsse ja regelmäßig aufgearbeitet und gereinigt werden. Durch Wind und Wetter, Reibung und Anhaftung an der Kleidung wird das Material ständig abgetragen.„Im Endeffekt ist ein Pflegekonzept mit Maschinen und Arbeitskraft unerlässlich,“ betont Sittler.

Um den Jahres-Pflegeaufwand zu vergleichen, lassen sich die Zahlen für die von Kommunen unterhaltenen Plätzen heranziehen. „Für einen Naturrasen rechnet man mit 2,10 bis 2,20 Euro pro Quadratmeter und für einen Kunstrasen mit 1,80 Euro, bei einer Luxuspflege doppelt so viel“, berichtet der Eintracht-Fachmann. „Natürlich wirkt die Kunstrasenpflege da erstmal günstiger“, sagt er. „Aber dafür muss der Kunstrasen nach 15 Jahren ausgetauscht werden.“

Neben dem umweltschädlichen Gummibelag muss dann auch die Tragschicht mit den künstlichen Rasenfasern entsorgt werden. „Dies ist aus ökologischen Gesichtspunkten eine extreme Belastung für die Umwelt und fällt absolut negativ in seine Klimabilanz“, verdeutlicht Sittler. „Ein Naturrasen hält, wenn er gut gepflegt wird, Jahrzehnte.“ Müsse er ausgetauscht werden, handele es sich bei der Entsorgung zudem um ein natürliches Produkt.

„Natürlich sind Kunstrasenplätze für den Leistungssport unverzichtbar, und wir bei der Eintracht sind sehr froh, dass wir diese Ausweichplätze haben“, betont er. Dennoch plädiert er klar für den Naturrasen. Der sei auch für die Gelenke der Sportler viel schonender. „Und das Feeling, auf einem echten Rasen zu laufen, ist doch auch viel schöner“, schwärmt Sittler. „Aber der kleinklimatische Aspekt ist für mich der wichtigste.“