Liebenburg. Mehr als 60 Freiwillige durchkämmen einen Wald bei Hannover – sie hoffen, ein Mordopfer aus Liebenburg zu finden.

Aus der Ferne könnte man den Pulk in Regenjacken und schweren Stiefeln für eine Gruppe von Wanderern halten, die einen trüb-feuchten Samstagmorgen nutzen, um ihrem Hobby nachzugehen und den Kananoher Forst zu durchstreifen. Ein 45 Hektar großes Waldidyll mit Eichen, Buchen, Bruchwäldern nördlich des Flughafens Hannover-Langenhagen.

Eine Karte des Suchgebiets und Fotos der Bauzäune, auf die die Freiwilligen achten sollen.
Eine Karte des Suchgebiets und Fotos der Bauzäune, auf die die Freiwilligen achten sollen. © Funke | Erik Westermann

Doch dieser Eindruck verfliegt, als eine schmale, kerzengerade Frau auf dem Parkplatz am Eingang zum Forst zu sprechen beginnt. Mit Schmerz in ihren Augen. „Wir danken euch, dass ihr hier seid und mit uns nach Karsten sucht. Wir sind überwältigt von so viel Zusprache.“

Ihre Stimme zittert, doch sie bricht nicht. Es ist die Witwe von Karsten M., die hier das Wort ergreift – und es geht heute um die Suche nach einem Leichnam, der seit mehr als einem Jahr unauffindbar ist.

Mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit wurde der Familienvater aus Liebenburg (Kreis Goslar) am 13. April 2021 hinter seinem Haus getötet. Als Mörder verurteilte das Landgericht Braunschweig Martin G., einen engen Freund der Familie, der an Karstens Stelle an die Seite der Frau rücken wollte, sagen die Richter. Wo das Opfer sich befinden könnte, bleibt bis heute ein Rätsel, der mutmaßliche Mörder schweigt.

In diesem Radius wurde der Leichnam versteckt, vermutet die Polizei.
In diesem Radius wurde der Leichnam versteckt, vermutet die Polizei. © Jürgen Runo | Jürgen Runo

Die Polizei vermutet, dass der Leichnam in einem Radius von 80 Kilometern Luftlinie um den Tatort versteckt wurde. Sie suchte mit Tauchern, Reitern, Kletterern, per Hubschrauber, mit Hunden: Doch mehr als 40 Einsätze endeten erfolglos.

Doch die Angehörigen von Karsten M. machen auf eigene Faust weiter. Mehr als 60 Menschen sind ihrem ersten Aufruf an diesem Samstag gefolgt. Mindestens die Hälfte von ihnen sind Wildfremde: Sie fuhren aus Hannover oder Braunschweig hierher, aus Wolfenbüttel oder Goslar. Sie hörten vom Schicksal der Familie, der Frau und der beiden Söhne, die von einem Tag auf den anderen einen vertrauten Menschen verloren. Und sie beschlossen zu helfen. Unter ihnen einer der Schöffen, die Martin G. zu lebenslanger Haft verurteilten.

Das Gebiet in dem die sterblichen Überreste sein könnten, ist riesig. Doch das schreckt hier niemanden. Dafür sorgt auch der bestimmte Ton von Sebastian Conrad, ein Neffe des Vermissten. Der Bundeswehrsoldat und frühere Panzerkommandeur hat das Areal in Quadranten eingeteilt und bringt die einzelnen Trupps mit klaren Ansagen auf den Weg. Alles ist genau geplant. „ „Worauf achten wir: Auf Bauzäune mit diesen speziellen Verbindungselementen“. Conrad zeigt auf laminierte Fotos, die am Auto hinter ihm hängen. Daneben eine Karte des Suchgebiets. Solche Bauzäune hat der mutmaßliche Täter um den Tatzeitpunkt gekauft. Zusammen mit zwei Rollen Stacheldraht.

 Markus Franke aus Seesen war Schöffe im Prozess um den Mordfall. „Solche Schicksale gehen nicht nicht an einem vorbei.
Markus Franke aus Seesen war Schöffe im Prozess um den Mordfall. „Solche Schicksale gehen nicht nicht an einem vorbei."  © Funke | Erik Westermann

Was mit den Sachen geschah? Ist völlig unklar. Doch die Ermittler sind sicher, dass es einen Zusammenhang gibt. „Auch verlassene Bienenstöcke haben wir im Blick“.

Während Conrad erklärt, hört man Maschinen, die den nahen Flughafen ansteuern. Dort arbeitete der mutmaßliche Täter, ein Bundespolizist, viele Jahre lang. In der Gegend kennt er sich aus, so kam die Familie nach Rücksprache mit der Polizei auch auf diese Gegend.

„Wer etwas entdeckt, ruft diese Nummer an- und nichts anfassen“, sagt der Bundeswehrsoldat, als er zwei Männer in die Parzelle 9 schickt. Den Anschluss hat die Familie eigens für die Suche eingerichtet. So filtert sie eventuelle Funde und prüft, ob sie relevant sind. „Damit nicht 100 Mal am Tag die Polizei gerufen wird.“

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Olaf Weingarten (57) kämpft sich durch das nasse Dickicht, immer wieder regnet es. Brusthohe Farne, junge Tannen und umgestürzte Bäume machen das Gelände unwegsam. Stellenweise ist es ein regelrechter Dschungel, ohne Durchkommen, in der Ferne klopft ein Specht. Plötzlich bleibt der große Mann mit der dunklen Outdoor-Weste stehen und legt den Kopf schräg. „Wartet mal“, ruft er aufgeregt. Seine beiden Begleiterinnen, die in fünf Metern Abstand gehen, bleiben stehen.

Weingarten bückt sich, hebt einige Äste beiseite – um sie enttäuscht fallenzulassen. „Falscher Alarm“, brummt er. Weingarten und seine Partnerin Katharina Blomer sind aus Goslar angereist, rund 75 Minuten Autofahrt entfernt. Sie sind Freunde eines Polizisten, der mit der Sache zu tun hatte und hörten von der Suchaktion. „Wir wandern ohnehin gern – das können wir dann ja auch hier machen, oder?“

Sebastian Conrad (mitte), Bundeswehrsoldat und ein Neffe des Vermissten, teilte den Helfer die Suchquadranten zu.
Sebastian Conrad (mitte), Bundeswehrsoldat und ein Neffe des Vermissten, teilte den Helfer die Suchquadranten zu. © Funke | Erik Westermann

Eine Bekannte der beiden sagt: „Jeder hat wohl ganz eigene Gründen hierzusein. Ich war vor zehn Jahren schon einmal bei einer Vermisstensuche im Fall eines Kollegen. So etwas vergisst man nicht.“

Markus Franke war am Morgen einer der ersten am Sammelplatz. Ihn hat der Mordfall nicht losgelassen. Der Mann aus Seesen war einer der beiden Schöffen im Prozess gegen Martin G. am Braunschweiger Landgericht. „Das sind Schicksale, die einen nicht kaltlassen. Auch als Richter nicht. Im Prozess waren wir natürlich neutral. Hier und heute versuche ich der Familie zu helfen.“

Viele Freiwilligen sind stundenlang unterwegs. Sie finden Schuhsohlen, Müllsäcke, Tierknochen. Eine Leiche finden sie nicht. Am Ende haben sie einen Bruchteil des Gebiets durchforstet – aber doch mehr als die Angehörigen zuvor erhofft hatte.

Die Familie dankt jedem einzelnen. Sie will weitermachen. Auch wenn es der Suche nach einem Stecknadelkopf in einem riesigen Berg gleicht. Im Oktober ziehen mehrere Mannschaften des Handballvereins los, in dem Karsten M. spielte, auch die örtliche Feuerwehr hat Hilfe zugesagt.

Weitere Termine sind bereits geplant. „Meine Tante steckt all ihre Energie hinein“, sagt eine Nichte der Witwe. „Wir unterstützen sie. Man muss es versuchen.“

Das sagt die Polizei

Die Polizei Goslar appellierte zuletzt Ende August: Achten Sie auf

•Zufahrten zu abgelegenen Grundstücken

•ungewöhnliche Dauerbaustellen mit Bauzäunen/Stacheldraht

•Eingezäunte Bienenstöcke

•seit einem Jahr ungenutzte Kleingärten

• markante Bodenveränderungen.

Sie vermutet das Versteck des Leichnams im einem Umkreis von 80 Kilometern Luftlinie um den Tatort in Liebenburg. Hinweise nimmt jede Dienststelle entgegen.

Die Familie des Opfers will weiter Trupps bilden, um den Leichnam zu suchen, etwa im Bereich des Koldinger Sees/Sarstedter Seeplatte nahe Hannover. Wer helfen und einige Stunden entbehren kann, meldet sich unter . Daten und Zeiten werden dann abgestimmt.