Liebenburg. Das Urteil ist gesprochen – doch der „Mord ohne Leiche“ lässt die Beteiligten nicht los. Sie bitten die Bevölkerung um Unterstützung.

„Mama, hör auf damit. Du machst dich verrückt“, sagen die Söhne von Katrin M. Doch die 50-Jährige kann nicht anders. Immer wieder zieht sie los in der Hoffnung, den Leichnam ihres Mannes zu finden. Auf Feldwege in der Umgebung ihres Wohnortes in der Gemeinde Liebenburg (Kreis Goslar). In Wälder im Harz. An Seen und Tümpel in der Nähe von Hannover. Seit mehr als einem Jahr.

Karsten M. aus Groß Döhren wird bis heute vermisst. Die Polizei geht davon aus, dass sein bester Freund ihn ermordet hat.
Karsten M. aus Groß Döhren wird bis heute vermisst. Die Polizei geht davon aus, dass sein bester Freund ihn ermordet hat. © Polizei Goslar | Privat

Es gibt zwei Sätze, die sie dann immer wieder leise für sich spricht, wie ein Mantra. „Ich will dich finden. Ich hole dich heim.“ 34 Jahre lang waren Katrin und Karsten ein Paar. Bis er am 13. April 2021 spurlos verschwand. Zurück blieb seine zerbrochene Brille im Garten des Wohnhauses, ein großer Blutfleck auf der Terrasse und Blutspuren auf der Rückbank seines Wagens.

Warum der Fall auch einen Kommissar mit 46 Dienstjahren bewegt

Es sind Streifzüge auf den Spuren eines Toten. Wie findet man eine Leiche ohne einen Anhaltspunkt? Allein an der Sarstedter Seenplatte „gibt es dutzende Stellen, die infrage kommen“. Trotzdem setzt Katrin M. ihre einsame Suche fort.

„Wenn ich nichts tue, tut das weh. Ich muss einfach etwas machen“, sagt die schmale Frau. In ihrem Blick unter dem dunklen Pony hervor liegen Schmerz und Stärke, Zerrissenheit und Zerbrechlichkeit. . Und eine Hoffnung, die nicht stirbt. „Wenn andere helfen, dann müssen wir ihn doch finden?“ An den Gedanken klammert sie sich.

Die Polizei Goslar geht davon aus, dass der Täter den Leichnam von Karsten M. innerhalb eines Umkreises von 70 Kilometern um den Tatort in Liebenburg versteckt hat. Dafür sprechen das Zeitfenster und die Kilometerstände von angemieteten Fahrzeugen.
Die Polizei Goslar geht davon aus, dass der Täter den Leichnam von Karsten M. innerhalb eines Umkreises von 70 Kilometern um den Tatort in Liebenburg versteckt hat. Dafür sprechen das Zeitfenster und die Kilometerstände von angemieteten Fahrzeugen. © Funke | Karte: Jürgen Runo

Seit dem 13. April 2021 ist Karsten M. aus dem Liebenburger Ortsteil Groß Döhren verschwunden. Das Braunschweiger Landgericht ging nach einem langen Indizienprozess davon aus, dass er am Morgen dieses Tages von seinem Freund Martin G. ermordet wurde, während die Familie nebenan im Haus schlief. Womöglich mit einer Armbrust. Weil er nach einer Affäre mit der Frau des Opfers dessen Platz einnehmen wollte.

Die Leiche soll der 50 Jahre alte Bundespolizist versteckt haben. Wo? Das bleibt eines der großen Rätsel dieses Verbrechens, das als „Mord ohne Leiche“ durch die Medien geht. Das Ende des zehrenden Prozesses war für Katrin M. zwar erleichternd. „Aber abschließen können wir nicht.“ Nicht nur, weil das Urteil – lebenslang – noch vom Bundesgerichtshof geprüft wird und somit noch nicht rechtskräftig ist.

Sondern viel mehr, weil ein Ort zum Abschiednehmen fehlt. „Dass Karsten da draußen irgendwo liegt, kann ich kaum ertragen“, sagt Katrin M., und ihre Augen werden feucht.

Auch Hauptkommissar Lutz Lucht (62) lässt das Verschwinden von Karsten M. nicht los: Dabei ist die Mordkommission „Fortuna“, die er leitete, längst aufgelöst. Auch wenn der Mord ungewöhnlich ist und es bundesweit nur eine Handvoll vergleichbarer Verbrechen gab: Der berufliche Alltag des Ermittlers (46 Dienstjahre), der unter Kollegen als gründlich und hartnäckig gilt, kreist längst um andere schwierige Fälle.

Kriminalhauptkommissar Lutz Lucht (62) von der Polizei Goslar
Kriminalhauptkommissar Lutz Lucht (62) von der Polizei Goslar © Funke | Erik Westermann

Trotzdem telefoniert der Kriminalbeamte immer wieder mit der Witwe, hört zu, wälzt Ideen, wägt ab.

Lucht ging selbst abwegigen Hinweisen nach: Zweimal meldeten sich Personen, die meinten, den Ort, an dem die Leiche versteckt ist, mittels eines Pendels ermittelt zu haben.

Der Kommissar orientiert sich für gewöhnlich an Fakten, an Esoterik glaubt er nicht. Nachgesehen hat er trotzdem. „Um nichts unversucht zu lassen.“

Gemeinsam starten die Ermittler und die Familie nach zahlreichen Appellen im Vorjahr und einem Auftritt bei „Aktenzeichen XY ungelöst“ im Fernsehen nun einen neuen Anlauf, womöglich den letzten: Die Polizei Goslar veröffentlicht einen Zeugenaufruf und zeigt erstmals Aufnahmen einer Überwachungskamera.

Lesen Sie mehr:

Auch die Familie M. wendet sich an die Bevölkerung und lobt 5000 Euro aus für Hinweise, die zum Auffinden der sterblichen Überreste von Karsten M. führen. Für die Familie ein finanzieller Kraftakt, doch sie hofft „auf diesem Weg weitere Menschen zu erreichen, damit sie sich bereitfinden, nach Karsten zu suchen“.

Im August 2021 war der „Mord ohne Leiche“ Thema in der Sendung „Aktenzeichen XY ungelöst“. Damals gingen zahlreiche Hinweise ein - doch keiner führte zum Leichnam von Karsten M.
Im August 2021 war der „Mord ohne Leiche“ Thema in der Sendung „Aktenzeichen XY ungelöst“. Damals gingen zahlreiche Hinweise ein - doch keiner führte zum Leichnam von Karsten M. © ZDF | Nadine Rupp

Katrin M. hat einen Aufruf verfasst. „Ich appelliere an alle Gruppen, an Vereine jeder Art, besonders an den TSV Liebenburg, dem Karsten seit frühester Jugend angehörte. Ich appelliere an Angler, Imker, Taucher, Wanderer, an Pilger, die Landesforsten, an Pilzsucher und Pfadfinder. Ich appellieren an die katholische Kirche Nordharz, an Gemeinden von Liebenburg bis Hannover, an Kolpingvereine und das Rote Kreuz sowie Karstens Arbeitskollegen. Ich appelliere an jeden, der für Gerechtigkeit einstehen möchte, und jeden, der Karsten kannte und gern hatte. Wer auf so grausame Art sterben musste, hat es verdient, dass sich Menschen für ihn auf den Weg machen.“

Mehrere Mannschaften aus dem Handballverein, in dem der Familienvater spielte, haben bereits Hilfe zugesagt. Karsten M.’s Söhne Elias und Niklas haben eine Mailadresse eingerichtet, über die man die Suchtrupps organisiert will. Besonders für den Hannoveraner Raum suchen sie Helfer. Ab September, hofft die Familie, könnten sie loslegen.

Bekannter Profiler unterstützte Suche

Doch wo wollen sie schauen? Es gibt einige Anhaltspunkte und Ausschlusskriterien, sagt Hauptkommissar Lutz Lucht. Die Ermittler gehen davon aus, dass die Leiche in einem Radius von 70 Kilometer Luftlinie um das Wohnhaus der Familie M. herum versteckt worden sein muss. Dafür sprechen die zeitlichen Abläufe, die sie rekonstruieren konnten, und Kilometerstände von mehreren Fahrzeugen, die Martin G. anmietete.

Den Nahbereich um das Wohnhaus herum schließt man aus. Der Täter wird sich auf einem Terrain bewegt haben, dass ihm vertraut ist, nehmen die Polizisten an.

Eine These, die auch der bekannte Profiler Axel Petermann unterstützt. Ihn hatte man auf Bitten der Familie hinzugezogen. Petermann sagt: „Man muss den Täter genau kennenlernen. Er wird sich dort bewegt haben, wo er sich auskennt und wohlfühlt.“ Orte aus seiner Kindheit etwa. Lucht ist sicher: „Es muss ein abgelegener Ort sein, an dem er unbeobachtet ist und die Leiche ausladen kann. Gleichzeitig muss er gut erreichbar sein.“

Die Suche nach Karsten M. führte die Polizei unter anderem in eine Höhle im Nordharz: Doch auch im sogenannten „Grundlosen Graben“ wurden die Ermittler nicht fündig. (Symbolfoto)
Die Suche nach Karsten M. führte die Polizei unter anderem in eine Höhle im Nordharz: Doch auch im sogenannten „Grundlosen Graben“ wurden die Ermittler nicht fündig. (Symbolfoto) © picture alliance / dpa | Nicolas Armer

Bisher führten alle Ansätze in Sackgassen. Die Polizei suchte im Laufe der Mordermittlungen rund 30 Orte ab: in der Nähe des Hauses der Familie – dem Tatort – in der Gemeinde Liebenburg, auf der Route zur Arbeitsstrecke des Verschwundenen in Hannover, wo auch der mutmaßliche Mörder Martin G. lange als Bundespolizist arbeitete. Auf G.‘s letztem Arbeitsweg aus einem Nachbardorf nach Braunschweig; entlang der A2; im Harz.

Die Hubschrauberstaffel der Landespolizei war über Monate im Einsatz. Taucher durchkämmten Gewässer, Hunde versuchten, auf dem Expo-Gelände in Hannover Spuren zu erschnüffeln, Kletterer stiegen in den „Grundlosen Graben“ hinab, eine unwegsame Höhle im Nordharz, eine Drohne suchte den Marienteich bei Torfhaus im Harz ab. Wälder, ein stillgelegtes Eisenerzbergwerk und eine Biogasanlage wurden durchkämmt.

Solche Zaunelemente und Betonfüße und weitere Baumaterialien kaufte der mutmaßliche Täter kurz nach dem Verschwinden von Karsten M. Wurden Sie genutzt, um den Leichnam zu verstecken?
Solche Zaunelemente und Betonfüße und weitere Baumaterialien kaufte der mutmaßliche Täter kurz nach dem Verschwinden von Karsten M. Wurden Sie genutzt, um den Leichnam zu verstecken? © Polizei | Polizei

Eine Rolle beim Verstecken der Leiche dürften mehrere Utensilien spielen, die der mutmaßliche Mörder nach dem Verschwinden von Karsten M. Mitte April 2021 in zwei Baumärkten in Goslar und Bad Harzburg kaufte, sagen die Mordermittler.

Nach ihnen hält Katrin M. bei ihren Streifzügen Ausschau: mehrere Rollen grüner und verzinkter Stacheldraht, acht Baustellengitter und Betonstandfüße, Rasengittersteine und Baustahlmatten.

Die Polizei veröffentlicht nun erstmals Videomaterial, das zeigt, wie der mutmaßliche Mörder mit einem Anhänger das Gelände einer Firma in Bitterfeld ansteuert, wo er über eine Kleinanzeige Bauzäune kaufte. „Vielleicht erkennt jemand den Anhänger“, hofft Polizist Lutz Lucht. Das war der Tag vor dem 1. Mai des Vorjahres.

Die Beamten glauben, dass Martin G. das Material nutzte, um den Ablageort der Leiche als Baustelle zu tarnen oder in ähnlicher Art abzusperren. Bisher sind die gekauften Gegenstände unauffindbar.

Hubschrauber-Foto elektrisiert Ermittler

Mehr als einmal wähnte man sich schon am Ziel. Im März 2022 erhielt Lucht von einem Hubschrauberpiloten das Foto eines umzäunten Areals, das den Puls der Ermittler in die Höhe trieb. Katrin M. imkert. Der mutmaßliche Täter, der ihr einst beim Aufbau von Bienenstöcken geholfen hatte, könnte bedacht haben, dass ein Bienenstock, der abgesperrt in freier Wildbahn steht, von niemandem kontrolliert wird. Alles passt. „Die Kollegen sind sofort dorthin.“ Doch dann folgt Ernüchterung: falscher Alarm.

Monatelang flogen Hubschrauber der Polizei Gebiete ab, in denen die Ermittler die sterblichen Überreste von Karsten M. vermuten. Ein Fund um März 2022 elektrisierte die Fahnder. (Symbolfoto)
Monatelang flogen Hubschrauber der Polizei Gebiete ab, in denen die Ermittler die sterblichen Überreste von Karsten M. vermuten. Ein Fund um März 2022 elektrisierte die Fahnder. (Symbolfoto) © picture alliance/dpa | Mohssen Assanimoghaddam

Ohne den Leichnam ihres Vaters und Ehemanns, ohne einen Ort zum Trauern, werden Elias, Niklas und Katrin M. nicht zur Ruhe kommen. Ob der Zeugenaufruf und die Belohnung dazu betragen können, etwas Frieden mit einem schrecklichen Verbrechen zu finden? „Wir wollen alles versuchen“, sagt Katrin M. „Wir wollen ihn finden. Wir holen ihn heim.“

Das sagt die Polizei

Die Polizei Goslar appelliert: „Achtet bei Spaziergängen, Wanderungen und Freizeitaktivitäten in der Natur, aber auch in Eurem Umfeld auf vermeintliche Baustellen, an denen außer der Absicherung seit langem keine Arbeiten durchgeführt werden, oder auf „ungewöhnliche“ Absperrungen, die mit Stacheldraht abgesichert sind.“ Hinweise nimmt die Polizei Goslar unter (05321) 3390 entgegen, aber auch andere Dienststellen.

Empfohlener externer Inhalt
An dieser Stelle befindet sich ein externer Inhalt von Facebook, der von unserer Redaktion empfohlen wird. Er ergänzt den Artikel und kann mit einem Klick angezeigt und wieder ausgeblendet werden.
Externer Inhalt
Ich bin damit einverstanden, dass mir dieser externe Inhalt angezeigt wird. Es können dabei personenbezogene Daten an den Anbieter des Inhalts und Drittdienste übermittelt werden. Mehr dazu in unserer Datenschutzerklärung

Achten Sie auf:

• Zufahrten zu abgelegenen Grundstücken

•ungewöhnliche Dauerbaustellen

•Eingezäunte Bienenstöcke

•Kleingärten

• markante Bodenveränderungen

Die Familie des Opfers will Trupps bilden, um den Leichnam an einigen Orten zu suchen, etwa im Bereich des Koldinger Sees/Sarstedter Seeplatte nahe Hannover. Wer helfen und einige Stunden entbehren kann, meldet sich per Mail unter der Mailadresse . Daten und Zeiten werden dann abgestimmt.