Goslar. Voreingenommen, einseitig, schlampig: Im Prozess um den Missbrauchsfall von Goslar hagelte es Kritik an der Polizei. Nun werden neue Vorwürfe bekannt.

Nach dem Urteil gegen ein Ehepaar aus Goslar im Falle des „Horror-Missbrauchs“ an ihrer 25 Jahre alten Tochter laufen die Ermittlungen weiter. Im Fokus steht ein größerer Kreis von Beschuldigten, der ebenfalls an Vergewaltigungen und Folter beteiligt gewesen sein soll. Darüber hinaus ermittelt die Staatsanwaltschaft – laut gemeinsamen Recherchen von unserer Zeitung und dem NDR – gegen einen Polizeibeamten aus Goslar. „Im Raum steht der Verrat von Dienstgeheimnissen“, bestätigt Sprecher Christian Wolters. Konkrete Details will der Erste Staatsanwalt nicht nennen, um das Verfahren nicht zu gefährden.

Die Kritik an der Arbeit der Polizei

Bereits während des jüngsten Prozesses um den komplexen Missbrauchsfall aus Goslar erntete eine Ermittlungsgruppe der dortigen Polizei harte Kritik für ihr Vorgehen. Die ermittelnde Oberstaatsanwältin und die Opferanwältin sprachen von Versäumnissen: Anstatt ergebnisoffen vorzugehen, hätten Beamte einseitig gegen das Vergewaltigungsopfer und dessen Glaubwürdigkeit ermittelt. Voreingenommen und stümperhaft sei das Vorgehen gewesen, sagte die Anwältin der Geschädigten und sprach von einem „Polizeiskandal“.

Auch die Richter hatten bei der Urteilsbegründung wenig gute Worte für die Arbeit der Beamten übrig. Naheliegende Ermittlungsansätze seien ignoriert worden. Richter Dr. Ralf-Michael Polomski sagte: „Es wurde deutlich, dass sich der Ermittlungsführer frühzeitig ein bestimmtes Bild machte – aus welchen Gründen auch immer.“

Das Vorgehen der Beamten war schlimm für meine Mandantin. Ihre Mutter hatte ihr ein Leben lang eingetrichtert, dass ihr die Polizei nie glauben wird.
Gabriele Rieke, Anwältin des Opfers

Die Staatsanwaltschaft wies in ihrem Plädoyer darauf hin, dass es nur wenige Tage gedauert habe, bis sich der Beamte in dem Missbrauchsverfahren eine Meinung bildete. Obwohl es komplex und umfassend ist. Rein nach Aktenlage sei er zu der Einschätzung gekommen: Die heute 25 Jahre alte Frau sage die Unwahrheit. Die Vorwürfe gegen die eigene Mutter und den Adoptiv-Vater seien unzutreffend, der Haftbefehl des Amtsgerichts Braunschweig solle aufgehoben werden. So empfahl er es der Oberstaatsanwältin Anfang September 2022. Die jedoch ermittelte weiter. Und wurde fündig.

Was der Polizist als Zeuge aussagte

Seine Einschätzung wiederholte der Polizeibeamte Monate später als Zeuge vor dem Landgericht. Er und sein Team hätten nichts gefunden, was die Angeklagten belastet. Stattdessen unterstellte er, die Staats- und die Opferanwältin würden zusammen in Urlaub fahren und attestierte ihnen eine „auffällige Nähe“.

Zudem lege ein von der Ermittlungsgruppe rekonstruierter Chat nahe, dass die Opferanwältin Informationen aus dem Gefängnis schmuggele – und sie an ihre Mandantin weitergebe. Vorwürfe, die durch Fakten schnell widerlegt wurden. Einem Zuhörer sagte er dann in der Verhandlungspause: „Wenn Sie wüssten, was ich weiß!“ Was das sein soll, bleibt offen.

Natürlich ist es angebracht, unglaublichen Vorwürfen zunächst mit professionellen Zweifeln zu begegnen. Unsere Aufgabe als Ermittler ist es aber, nicht bei anfänglichen Zweifeln zu verharren, sondern Fakten zusammenzutragen. Potenzielle Opfer haben einen Anspruch darauf, dass man genau hinschaut.
Christian Krause, Erster Staatsanwalt

Die derart attackierte Oberstaatsanwältin Vanessa Beyse sprach in ihrem Schlussvortrag von „diffamierenden, regelrecht verleumderischen Unterstellungen“, die ohne einen Beweis in den Raum gestellt wurden. Der Beamte habe Ermittlungsergebnisse aus einem anderen Verfahren direkt an das Gericht geleitet. Erkenntnisse, die selbst die Staatsanwaltschaft noch nicht hatte.

Auf die Untersuchung eines potenziellen Spurenträgers in demselben Verfahren – es geht um ein Bettlaken – hätten die Ermittler jedoch eigenmächtig verzichtet, trotz eines entsprechenden Auftrags der Staatsanwaltschaft.

„Opfer haben einen Anspruch, dass man genau hinschaut“

Wie häufig bei Fällen sexueller Gewalt zweifelte man an der Glaubwürdigkeit des „mutmaßlichen“ Opfers. Was dazu führte? Waren es die Dimensionen des von der jungen Frau skizzierten Missbrauchs? Ihre Erkrankung? Die 25-Jährige ist schwer traumatisiert und war in psychiatrischer Behandlung. Dort lernte sie eine weitere Patientin kennen, die später auch zur Täterin wurde. Die Polizei vermutet, die Frauen hätten den Missbrauch gemeinsam inszeniert.

Erster Staatsanwalt Christian Krause erklärte dazu in seinem Schlussvortrag: „Natürlich ist es angebracht, unglaublichen Vorwürfen zunächst mit professionellen Zweifeln zu begegnen. Unsere Aufgabe als Ermittler ist es aber, nicht bei anfänglichen Zweifeln zu verharren, sondern Fakten zusammenzutragen. Potenzielle Opfer haben einen Anspruch darauf, dass man genau hinschaut.“

Urteil wirft schlechtes Licht auf Polizeiarbeit

Auch das Urteil des Landgerichts erteilte den Theorien der Polizei eine Absage – und lässt die Arbeit die Goslarer Polizisten in einem denkbar schlechten Licht erscheinen: „Wir teilen die Einschätzung des Ermittlungsführers nicht“, betonte der Vorsitzende Richter. Die Mutter (52) soll 13,5 Jahre in Haft und anschließend in Sicherungsverwahrung. Der Adoptivvater (56) wurde zu neuneinhalb Jahre Freiheitsstrafe verurteilt. Nach Ansicht der Richter haben sie die Tochter der Frau als Sex-Sklavin gehalten, gefoltert und gequält.

Die Entscheidungen beziehen sich auf 19 Übergriffe zwischen 2021 und 2022 und sind noch nicht rechtskräftig. Bei der Urteilsbegründung sprach der Kammervorsitzende von monströsen Taten, die er nicht für möglich gehalten hätte. Neben weiteren Indizien stützte sich das Gericht vor allem auf die Aussage des Opfers, die ein Gutachter als bemerkenswert gut bezeichnete. Insgesamt ist es bereits das zweite Urteil in diesem Fall: Im Vorjahr hatte das Landgericht eine mehrjährige Haftstrafe gegen ihre ehemalige Partnerin verhängt.

Wenn Sie wüssten, was ich weiß!
Der hart kritisierte frühere Ermittlungsführer

Der Missbrauch, so die Vermutung hinter den fortlaufenden Ermittlungen, begann bereits in der Kindheit des Opfers. Weitere Personen stehen in Verdacht, beteiligt gewesen zu sein. Es ist ein Verfahren, dessen endgültige Dimensionen noch nicht abzusehen sind. Gab es einen Vergewaltigungsring?

Polizeispitze löste Ermittler ab - und nun?

Opferanwältin Gabriele Rieke sagte: „Das Vorgehen der Beamten in Goslar war schlimm für meine Mandantin, deren Mutter ihr ein Leben lang eintrichterte, dass ihr die Polizei niemals glauben wird. Am Ende war sie es dann, die von der Polizei als Täterin abgestempelt und durchleuchtet wurde – und nicht die Angeklagten.“ Rieke erklärt: „Es wurden absurde Sachen ermittelt, andererseits Wichtiges, das naheliegend war, nicht. Ich kann mir das nicht erklären.“

Und was sagt die Polizeiführung zu alldem? Kurz nach der Zeugenaussage des Chefermittlers im März wurde seine Ermittlungsgruppe in Goslar abgelöst. Die Polizeidirektion übertrug die Verantwortung an die Inspektion Wolfsburg. Polizeivizepräsident Roger Fladung erklärte damals: „Die Entscheidung war zu diesem Zeitpunkt richtig, da jedem Anschein einer Kritik, die gebotene Neutralität polizeilicher Ermittlungen könnte tangiert sein, entgegenzuwirken war.“

Die Staatsanwaltschaft forderte 14 Jahre Haft  für die Hauptangeklagte Mutter (52) des Opfers und elf Jahre für den Adoptivvater (56) im Prozess um den „Horror-Missbrauch“ von Goslar vor dem Braunschweiger Landgericht. Die beiden sollen die heute 25 Jahre alte Frau als eine Art „Sex-Sklavin“ gehalten und sie immer wieder vergewaltigt und gequält haben.  Prozessbeteiligte sprechen von beispiellosen Vorwürfen, der zu einem Zerwürfnis zwischen Polizei und Staatsanwaltschaft führte. 
Die Staatsanwaltschaft forderte 14 Jahre Haft  für die Hauptangeklagte Mutter (52) des Opfers und elf Jahre für den Adoptivvater (56) im Prozess um den „Horror-Missbrauch“ von Goslar vor dem Braunschweiger Landgericht. Die beiden sollen die heute 25 Jahre alte Frau als eine Art „Sex-Sklavin“ gehalten und sie immer wieder vergewaltigt und gequält haben. Prozessbeteiligte sprechen von beispiellosen Vorwürfen, der zu einem Zerwürfnis zwischen Polizei und Staatsanwaltschaft führte.  © Erik Westermann | Erik Westermann

Wie sieht man das bei der Polizeidirektion, die für die Region zwischen Harz und Heide verantwortlich ist, nach dem Urteil? Intern gab es erhebliche Unruhe, die Polizeispitze wurde zum Rapport einbestellt.

Weiter als bis zur Ankündigung einer Aufarbeitung ist man bei der Polizeidirektion noch nicht gekommen: Sie werde „die am letzten Verhandlungstag bekanntgewordenen Vorwürfe und Bewertungen, aber auch die Sicht der eingesetzten Ermittlungsbeamten einbeziehen“. Diesbezüglich erfolge „eine enge Abstimmung mit der Staatsanwaltschaft“.

Weitergehende Antworten könne man aktuell nicht geben. Gleichzeitig betont man in einer Stellungnahme: „Ungeachtet einer Analyse des Verfahrens sind alle Mitarbeitenden im Umgang mit Opfern von Sexualstraftaten geschult.“

Ich kann allen Opfern sagen: Es gibt viele Beamte, die vorurteilsfrei zuhören und sich nicht vorschnell eine Meinung bilden
Vanessa Beyse, Oberstaatsanwältin

Für die Zukunft hofft man auf Seiten der Staatsanwaltschaft wieder auf eine bessere Zusammenarbeit – auch mit der neuen Ermittlungsgruppe „Eisberg“. Behördensprecher Christian Wolters sagt: Die Arbeit der Polizei in Goslar „war leider nicht so, wie wir es aus anderen Verfahren gewohnt sind“. Durch die Veränderungen hoffe man, dass die weiteren Ermittlungen „so geführt werden wie sich das alle wünschen: vertrauensvoll, seriös, gründlich, objektiv“.

Staatsanwältin: Ich schäme mich für diesen Polizisten

Oberstaatsanwältin Beyse bezeichnete den Tag der Zeugenaussage des Ermittlungsführers als „einen schwarzen Tag für den Opferschutz“. Für seinen Auftritt schäme sie sich in Grund und Boden Gleichzeitig betonte sie: „Meine Kritik wendet sich nicht gegen die Polizei als Ganzes.“

Es handele sich „um einen Einzelfall“, innerhalb ihrer mehr als zwei Jahrzehnte umfassenden Dienstzeit habe sie ein so erkennbar einseitiges Agieren noch nicht erlebt. „Ich kann allen Opfern sagen: Es gibt viele Beamte, die vorurteilsfrei zuhören und sich nicht vorschnell eine Meinung bilden.“

Hier lesen Sie, was Opferschützerinnen zum Thema sagen.