Salzgitter. Die 28-jährige Salzgitteranerin Miriam folterte und vergewaltigte Hanna und filmte ihre Taten. Was dahinter steht.

Triggerwarnung: Dieser Text handelt von sexualisierter Gewalt. Er enthält Schilderungen, die verstörend sein können, belastend oder retraumatisierend. Rat und Unterstützung gibt das „Hilfetelefon Sexueller Missbrauch“: 0800-22 55 530. Ein Überblick über Ansprechpartner zum Thema findet sich unter: hilfeportal-missbrauch.de. Es handelt sich um eine gekürzte Fassung: die ganze Geschichte von Miriam und Johanna finden Sie im Magazin „Tatort Niedersachsen“.

Inhalt

Johanna kauert fast nackt im Bad. Die schmale junge Frau ist an die Heizung gefesselt. Ihre abgeschnittenen Haare liegen in der Duschkabine, ihre Augenbrauen sind abrasiert, ihr Hals weist Würgemale auf, an Hand- und Fußgelenken sind Abdrücke von Fesseln. Es ist der Morgen des 9. April 2021. Polizisten mussten die Tür zu ihrer Wohnung im Süden von Goslar aufbrechen. An den Wänden klebt Blut.

Johanna ist gezeichnet von Hämatomen, am Körper, im Gesicht. Im Schlafzimmer ist ein leeres Kamerastativ auf das Bett gerichtet, an dessen Kopfende Reste eines blauen Seils baumeln. Johanna ist kaum ansprechbar, es gibt Anzeichen einer Vergewaltigung. Auf ihrem Rücken hat jemand das Wort „Fehler“ eingeritzt. Vermutlich mit einer Rasierklinge.

„Es war beängstigend“, sagt eine Polizistin, die am Tatort war. Miriam A., die vermeintlich besorgte Freundin des Opfers, hatte den Notruf gewählt. Dass sie etwas mit dem Übergriff zu tun haben könnte, ahnt zu diesem Zeitpunkt niemand.

Mehr als ein Jahr nach dem Vorfall schildert die Beamtin ihre Eindrücke in einem Prozess vor dem Braunschweiger Landgericht. „Erst später fielen uns Widersprüche auf“. In dem Verfahren geht es um Vergewaltigung, sexuelle Übergriffe, Entführung und schwerste Misshandlungen. Um unfassbare Vorwürfe, wie ein langjähriger Strafrichter sagt.

Im Gerichtssaal prallen die Blicke von Miriam A., der Täterin, und Johanna S. (Name geändert), dem Opfer, aufeinander. Dort die junge Frau, die kaum vorstellbare Qualen erlitt. Johanna, 24 Jahre alt, trägt das dunkelblonde Haar kurz, dazu Jeans, Turnschuhe und einen Blazer. Am anderen Ende des Saals die mutmaßliche Täterin. Aus großen, aufmerksamen Augen schaut sie herüber. Schwarzes, glattes Haar umfließt das runde Gesicht der Industriekauffrau in einer grauen Strickjacke.

Das Verfahren öffnet die Tür zur Geschichte der beiden ein kleines Stück weit. Wer hindurchschaut, meint einen Blick in die Hölle zu erhaschen. In Abgründe so tief, dass kein Boden in Sicht ist. Durch den Spalt leuchtet der fahle Kegel einer Taschenlampe. Im Lichtschein blitzen Rasierklingen auf, ein Skalpell, glühende Zigaretten, ein erhitzter Stahlkamm.

I. „Mission: Hannas Therapie beenden“

Miriam und Johanna lernen sich im Dezember 2020 auf der Station 7A der psychiatrischen Klinik in Liebenburg im Kreis Goslar kennen. Die beiden Frauen teilen ein Zimmer. Bei Miriam, der späteren Täterin, die aus dem nahen Salzgitter stammt, diagnostiziert man Depressionen, eine Borderline-Erkrankung und eine Essstörung.

Ihre vier Jahre jüngere Zimmergenossin stammt aus Sachsen-Anhalt. Johanna gilt als stark traumatisiert und ist nicht zum ersten Mal in Liebenburg. Sie hat Angststörungen, starke Albträume, fürchtet sich vor Krankenhäusern und der Polizei, leidet unter einer komplexen posttraumatischen Belastungsstörung. Immer wieder wird Johanna von Flashbacks gepackt. Im Raum steht, dass sie seit ihrer Kindheit missbraucht wurde, sexuelle Gewalt erfuhr und zur Prostitution gezwungen wurde.

Horror-Missbrauch- Das waren „Hannahs Regeln“

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Überwältigen sie Angst und Panik, kann es passieren, dass Johanna umkippt, erstarrt, oder ohnmächtig wird. Sie dissoziiert, heißt das in der Fachsprache. Der Zustand kann Stunden andauern, ihre Sinneswahrnehmungen sind dann teilweise beeinträchtigt, es ist ihr nicht möglich, sich zu wehren. Nicht immer kann sie hinterher zusammenhängend wiedergeben, was in der Zwischenzeit geschehen ist. Psychiater beschreiben das als eine Art Schutzmechanismus der Seele, der einsetzt, wenn das Erlebte zu furchtbar ist, oder an traumatischen Vorerfahrungen rührt. Ein Zustand, der sich bei manchen Menschen provozieren lässt. Johanna ist so ein Mensch.

Für Miriam A. ist es der erste lange Klinik-Aufenthalt, doch sie schimpft über das „unfähige Personal“ und die Ärzte. An ihrer Mitbewohnerin, die sie Hanna nennt, findet sie hingegen Gefallen: „Sie wäre total mein Typ“, notiert sie in ihrem Tagebuch, das im Prozess gegen sie verlesen wird. Auf dem roten Einband stehen die Namen der beiden, flankiert von Herzchen. Darunter Zeichnungen von Handschellen und einer Peitsche sowie der Satz: „She ist mine…forever“. Im Prozess ist das Buch ein entscheidendes Beweisstück.

Miriam beginnt, ihre Zimmergenossin zu studieren. Wie ihr Opfer gilt sie als intelligent. Sie beobachtet genau und hat feine Antennen dafür, wie sich andere fühlen. Nach der Schule arbeitete sie in einem Kindergarten. Später lernte sie in einem Großbetrieb in Salzgitter.

Ihr Opfer seziert sie regelrecht, fertigt einen Steckbrief an mit Johannas Gewohnheiten und Schwächen. Sie hält fest, welche Kosmetika Johanna nutzt, welche Bekleidung sie trägt, wie viel Zeit sie auf der Toilette verbringt, welche Tage mit belastenden Ereignissen verbunden sind.

Besonders die Krankengeschichte ihrer Angebeteten weckt ihr Interesse. „Häufig dissoziiert sie so, dass sie bewegungsunfähig und hilflos oder komplett bewusstlos ist. Das könnte mir von Nutzen sein“, notiert sie unter der Überschrift „Hintergrundwissen: Um Hannas Willen, ihren Geist und ihre Seele zu brechen“.

Hannas Selbstwertgefühl, bemerkt Miriam, ist bei null. Die junge Frau hat mehrere Suizidversuche hinter sich und wird beherrscht von der „Angst, etwas falsch zu machen, nicht auszureichen oder die Kontrolle zu verlieren“. Das macht sie in den Augen ihrer Zimmergenossin „leicht zu manipulieren“.

In ihrem Tagebuch entwirft Miriam einen detaillierten Plan, der sich liest wie ein Drehbuch. Die Idee: Ihrem Opfer und der Außenwelt will sie sich als mitfühlende Helferin präsentieren. Hinter den Kulissen schreibt sie von einem anderen Ziel: absoluter Gehorsam und vollkommene Kontrolle. Sie will Johanna abrichten. Durch Gehirnwäsche, mit Schlägen, Tritten, Schnitten und Drogen. Und dabei ist sie nicht allein.

In der Silvesternacht 2020, beide sind noch in der Klinik, setzt Miriam ihr gesammeltes Wissen zum ersten Mal ein. Sie zwingt Johanna in eine Beziehung und greift dabei zu einer Drohung: Gibst du nicht nach, hetze ich das Klinikpersonal gegen dich auf. Es sind Hannas einzige Vertrauenspersonen, das Verhältnis zu ihrer Familie ist extrem belastet.

Das Magazin

Das Titelbild der zweiten Ausgabe von „Tatort Niedersachsen“, dem neuen True-Crime-Magazin unserer Zeitung.
Das Titelbild der zweiten Ausgabe von „Tatort Niedersachsen“, dem neuen True-Crime-Magazin unserer Zeitung. © Funke | Kristin Heine

Die ganze, ausführliche Geschichte lesen Sie in der zweiten Ausgabe von „Tatort Niedersachsen“, dem neuen True-Crime-Magazin unserer Zeitung, das am 15. November erschienen ist. Es stellt Kriminalfälle aus unserer Region vor und ist für zwölf Euro online und in den Service Centern von Funke Medien Niedersachsen sowie im regionalen Buch- und Zeitschriftenhandel erhältlich. Der Doppelpack mit der ersten Ausgabe kostet 18 Euro.

Wenige Tage später berichtet Miriam, wie sie Johanna zum ersten Mal vergewaltigt. Trotz aller „Neins“, obwohl ihr Opfer wimmert, „habe ich einfach weitergemacht […] Es war gigantisch. Wir werden eine fantastische Zukunft haben.“

In der Klinik ist man ahnungslos. „Die sind so dumm. Die kennen mein wahres Gesicht nicht ansatzweise – tja, ihr Pech.“

Miriam erzählt auch ihren Eltern von Johanna. Deren Reaktion verblüfft sie: Sie kennen die junge Frau. Immer wieder sagen ihre Eltern, dass Johanna Ihnen gehöre, notiert sie in ihrem Tagebuch. „Wie das zusammenhängt, hat mir noch niemand erklärt.“ Erst nach und nach erfährt sie mehr über die Verbindung zu ihren Eltern, vor denen Johanna große Angst hat, wie sich herausstellt. Dabei scheint es um Zwangsprostitution und Missbrauch zu gehen, deutet Miriam in ihren Aufzeichnungen an.

Es gibt ein Beziehungsgeflecht – doch wohin die losen Enden führen und wer die Fäden knüpfte, bleibt bis zum Ende des Prozesses unklar. Welche Rolle spielt Miriam in diesen Machenschaften? Was wusste sie?

II. „Mission: Dramatischer Vorfall, ich als Held, ihre Mutter eliminieren“; und „Ich gebe meinen Eltern Zeit mit Hanna“

Nach wenigen Wochen erreicht Miriam ihr erstes Ziel: Johanna zu isolieren. „Ich hab‘ sie so weit, dass sie mir ziemlich hörig ist.“ Johanna bricht die Therapie ab. Im Februar 2021 verlässt das Paar die Psychiatrie und zieht in Hannas Wohnung im nahen Goslar. „Dort ist alles perfekt“, notiert Miriam. Die erste Nacht verläuft in ihrem Sinn: „Sie hat sich im Schlaf an mich geklammert. Ich schaffe es – ich bin unentbehrlich.“

In der Folge plant Miriam einige „dramatische Vorfälle“, um sich als Retterin zu inszenieren. Teil des Plans ist es, den Verdacht auf Johannas Mutter zu lenken, die ihr ein Dorn im Auge ist. Im April macht sie sich an die Umsetzung. Miriams Vater sei ganz erpicht darauf gewesen, „seine kleine Schlampe“ wiederzutreffen, schreibt sie in ihr Tagebuch.

Es ist der Tag, an dem Polizeibeamte Johanna gefesselt im Bad finden. Wie es dazu kam, stellt das Gericht später anhand der Tagebuchaufzeichnungen fest: Miriam täuscht ihrer Partnerin vor, die Wohnung zu verlassen, kehrt aber heimlich zurück. Als sich die Wohnungstür plötzlich öffnet, gerät Johanna in Panik und dissoziiert. Miriam schlägt sie bewusstlos, verbindet ihr die Augen, schleift sie ins Schlafzimmer und fesselt sie an das Kopfteil des Bettes.

Ein Feuer im September 2021 legt die Wohnung von Miriam A. und Johanna S. in Schutt und Asche. Nur knapp soll Johanna, die bewusstlos im Bad lag, den Flammen entkommen sein. Die Ermittlungen zu diesem Fall laufen noch. Das Feuer wurde gelegt – als verdächtig gilt Miriam A.
Ein Feuer im September 2021 legt die Wohnung von Miriam A. und Johanna S. in Schutt und Asche. Nur knapp soll Johanna, die bewusstlos im Bad lag, den Flammen entkommen sein. Die Ermittlungen zu diesem Fall laufen noch. Das Feuer wurde gelegt – als verdächtig gilt Miriam A. © Funke | Jörg Koglin

In ihren Aufzeichnungen beschreibt Miriam, wie ihr Vater Johanna dort vergewaltigt und auch sie sich an Johanna vergeht: „Das wird sie erneut traumatisieren und ich werde die Einzige sein, die sie auffängt.“ Die Angaben in ihrem Tagebuch und alle Spuren am Tatort passen zusammen.

Danach organisiert Miriam weitere Übergriffe, laut ihren Notizen häufig gemeinsam mit ihren Eltern. Kurz darauf nimmt die Polizei aufgrund von fingierten Fährten Johannas Mutter fest. Renate S. verbringt vier Wochen in Untersuchungshaft. Doch die Zweifel bei den Ermittlern wachsen.

Die Rolle von Miriams Eltern bleibt rätselhaft. Auch gibt es Andeutungen, dass der Kreis der Täter womöglich größer sein könnte. Da sind Hinweise auf einen Missbrauchsring, auf Gehirnwäsche und Folter, Gewalt und sexuelle Ausbeutung. Miriams Tagebuch ist wie eine flackernde Kerze in einem Raum, der im Zwielicht liegt: Unscharfe Dinge werfen riesige Schatten. In den Ecken scheinen sich Kreaturen zu verkriechen. Das Licht reicht kaum bis zu Tür. Doch in den nächsten Kammern, das ist zu spüren, hausen noch monströsere Gestalten. Doch wer hält die Fäden in der Hand?

III. „Mission: Ausflug nach Polen. Eltern stolz machen, Urlaub mit meiner Prinzessin und Geld“

Nach mehreren Übergriffen auf Johanna hat Miriam einen neuen Plan: Sie will ihr Opfer nach Polen verfrachten, um sie dort anschaffen zu lassen. Eine Idee, die ihrem Tagebuch zufolge von ihrer Familie stammt, den Gewinn habe man teilen wollen. Sie mietet einen Transporter, auf dessen Boden Johanna liegt – gefesselt und geknebelt. Es folgt eine Irrfahrt durch den Nordosten Deutschlands.

Die Polizei ist Miriam auf den Fersen. Johannas Therapeut hatte die Ermittler verständigt, als er irritierende Briefe erhielt: „Sklavin zu verkaufen“ stand dort ­­— neben einer Werbeanzeige mit dem Bild seiner Patientin. Schreiben, die Miriam ihm schickte. Fehler einer Nachwuchs-Sadistin mit Allmachtsfantasien? Hilferufe? Wie Vieles bleibt die Antwort im Dunkeln. Im Prozess erklärt sich Miriam A. nicht.

Als die Polizei den Transporter am Abend des 1. Juli auf einem Autobahnparkplatz bei Schwerin stoppt und Johanna befreit, kommt Miriam hinter Gitter. Bei der Vernehmung sagt sie aus, eine Stimme habe ihr befohlen, Johanna zu entführen. Rasch ist sie wieder auf freiem Fuß. Dass Johanna S. bei der Polizei aussagt, fürchtet sie nicht. „Ich werde sie einfach dazu bringen zu sagen, dass sie das alles genau so wollte.“ Sie gehöre zu ihr „und das wird auch so bleiben“. Ein Irrtum.

IV. „Mission: This girl is on fire“

Wirken die Monate bis zum Sommer 2021 für Johanna S. bereits wie ein Vorhof zur Hölle, muss danach ein Inferno über die junge Frau hereingebrochen sein. Sie wird wie ein Gegenstand herumgereicht, benutzt, gebucht, gequält, deutet Miriams Tagebuch an. „Das Business“ mit Johanna laufe gut, man verkaufe sie online und im Darknet.

Miriam A (Mitte) im Sommer 2022 mit ihrem Verteidiger bei dem Prozess vor dem Braunschweiger Landgericht.
Miriam A (Mitte) im Sommer 2022 mit ihrem Verteidiger bei dem Prozess vor dem Braunschweiger Landgericht. © dpa | Moritz Frankenberg

Johanna versucht zu fliehen. Doch es gibt psychische Ketten, die sie binden. Zudem wird sie eingesperrt. Miriam kontrolliert ihr Smartphone und liest ihre Mails – und bekommt Wind von den Plänen: „Die kleine Schlampe hat vor, in die Klinik zu gehen und sich zu verstecken.“

Wenig später kommt es in der gemeinsamen Wohnung in Braunschweig zu einer Explosion, ein Brand macht die Unterkunft unbewohnbar. „Sie soll merken, wie ernst es ist“, schreibt Miriam, die verdächtigt wird, das Feuer gelegt zu haben. Johanna darf „auf keinen Fall jemandem etwas sagen“. Doch genau das tut sie.

V. Der Arzt

Der Psychiater Carsten M. lernte Johanna im August 2019 in der Liebenburger Klinik kennen. „Mir fielen gleich ein paar Dinge an ihr auf“, schildert der Arzt den Richtern. Etwa ihr starker Waschzwang, aus Ekel vor dem eigenen Körper. „Es deutete sich an, dass es in ihrer Kindheit und Jugend Ereignisse gab, die sie stark belasten.“

Einige Monate später kommt Johanna S. auf seine Station. „Sie hatte Angst vor Menschen, aß nicht richtig und litt an körperlichen Beschwerden. Um überhaupt über ihr Trauma reden zu können, musste ich sie erst stabilisieren.“

Im Laufe der Zeit wächst das Vertrauen zwischen Psychiater und Patientin. Obwohl sie sich zu seiner Überraschung immer wieder selbst entlässt. Doch der Kontakt bleibt bestehen, Johanna kehrt zurück.

Trotzdem hat er den Eindruck, dass ihre Gespräche oft an der Oberfläche kratzen. An manche Dinge kann sie sich nicht erinnern. Andere will sie vergessen. Was genau ihr widerfährt? So viel ist dem Arzt klar: „Es sind schlimme Dinge.“ Gewalt und Missbrauch, sagt er, sind für sie Alltag. Er glaubt, dass man ihr seit ihrem vierten Lebensjahr beibrachte, „dass man über bestimmte Dinge nicht reden darf, mit Techniken, die bis heute wirken“. Ihre Schilderungen aber hält er für glaubhaft. „Solange sie nicht dissoziiert, beobachtet sie sachlich und differenziert.“

„Anfangs dachte ich noch, Miriam wäre fürsorglich“, sagt der Arzt. „Das fand ich positiv.“ Doch Johanna wird immer distanzierter und wortkarger. „Sie wirkte sehr belastet.“ Als seine Patientin dann abgemagert und mit rasiertem Kopf vor ihm steht, fühlt er sich an eine KZ-Insassin erinnert. „Ich machte mir immer größere Sorgen.“

Im Sommer 2021 kippt sein Eindruck von Miriam A. endgültig. Immer häufiger sendet sie Nachrichten in drohendem Tonfall, Mails, in denen sie Johanna abwertet. Eines Abends steht die Angeklagte vor der Haustür des Psychiaters.

Woher sie seine Privatadresse hat, weiß er nicht. Es gehe Hanna so schlecht, er müsse etwas tun. „Sie wirkte aufgeregt und besorgt.“ Seine Antwort: „Es geht ihr schlecht, weil man sie foltert und quält.“ Die Reaktion von Miriam A. hat sich ihm eingebrannt. „Sie grinste und sagte: ‚Da könnten Sie recht haben‘.“ Dann verschwand sie in der Dunkelheit.

VI. Die Flucht

Ab dem Sommer sucht Johanna immer verzweifelter nach einem Ausweg. Ihr Therapeut rät: Es braucht Beweise. Sie hat Angst – aber nichts mehr zu verlieren. Im Herbst 2021 befiehlt Miriam A. ihr, Dokumente und mehrere Briefe zu vernichten.

Doch Johanna deponiert die Unterlagen unter einem Müllcontainer im Osten Braunschweigs, wo der Therapeut sie abholt. Später übergibt man sie der Polizei, zusammen mit anderen Beweisstücken: Dem Tagebuch, Kabelbindern, einem Slip mit Johannas Blut, Tabletten, Panzerband, Handschuhen und Videos, die zeigen, wie Miriam A. sie missbraucht. Wie sie ihr einen Medikamentenbrei verabreicht.

Es sind verstörende Aufnahmen, auf denen Miriam für ein Publikum in die Kamera spricht. Die Videos sollen im Darknet gelandet sein.

Kurz darauf bietet sich eine Chance zur Flucht: Johanna darf für ein Abschlussgespräch in die Psychiatrie. Dort nimmt man sie sofort stationär auf, wie sie es heimlich mit dem Arzt vereinbart hatte.

Miriam A. sendet Drohnachrichten, ruft in der Klinik an. Am 6. November 2021 schleicht sie auf das Gelände. Mit einer platinblonden Perücke betritt sie die Station 7A und geht in Johannas Zimmer. Ihr Opfer versucht noch, den Notfallknopf zu drücken, als die Angreiferin ihr eine Weinflasche an den Kopf schlägt und ihr anschließend die Hände an den Hals legt.

Als Mitpatientinnen die Schreie des Opfers hören und herbeieilen, flüchtet die platinblonde Gestalt. Bis die Polizei Miriam endgültig festnimmt, vergehen zu ihrem eigenen Erstaunen sieben weitere Wochen.

Das Gericht wird später feststellen, dass Miriam nicht vorhatte, Johanna an diesem Tag umzubringen. „Es war eine Bestrafung.“ Eine unter vielen.

VII. Die Regeln

Mit dem Angriff in der Klinik endet die Liste der Vorwürfe gegen Miriam A., die im Sommer 2022 vor dem Braunschweiger Landgericht verhandelt werden. Die Leidenszeit von Johanna S. soll sich jedoch fortgesetzt haben. Denn einige Zeit nach dem Angriff mit der Weinflasche entließ sie sich erneut selbst aus der Klinik. Danach sollen die Übergriffe noch heftiger geworden sein: Die Rede ist von düsteren Kellern in Salzgitter, von Gruppenvergewaltigungen, Zwangsprostitution, auf Film gebannte Folter, Gewaltpornografie.

Im Prozess verliest das Gericht die 100 Regeln, die Miriam A. für Johanna aufstellte (hier ein Auszug). Von diesem menschenverachtenden Regelwerk gibt es ältere, kürzere Fassungen, die von anderen Personen stammen sollen
Im Prozess verliest das Gericht die 100 Regeln, die Miriam A. für Johanna aufstellte (hier ein Auszug). Von diesem menschenverachtenden Regelwerk gibt es ältere, kürzere Fassungen, die von anderen Personen stammen sollen © Funke/JHM | Anastasia Schneider

Warum kehrt Johanna immer wieder zurück? Später wird sie sagen, dass sie den Druck nicht mehr aushielt. Dass man drohte, die Klinik abzubrennen und ihren Arzt zu töten. „Sie sagte: Ich ertrage lieber alles, als dass Ihnen etwas passiert“, berichtet ihr Therapeut.

Ein weiterer Teil der Antwort findet sich am Ende des roten Tagebuchs mit den Handfesseln und der Peitsche. Ganz hinten steckte ein kariertes, handbeschriebenes Blatt mit der Überschrift: „100 Regeln für Hanna“. „Ich bin wertlos“, heißt es dort. „Ich bin eine Lügnerin und niemand glaubt mir.“

Die Regeln geben vor, wie viel Johanna trinken darf (300 Milliliter Wasser pro Tag, ansonsten: Urin), wie viel sie schläft (maximal drei Stunden), wie viel Gewicht sie zu verlieren hat (zwei Kilogramm pro Woche), wo sie ihre Notdurft verrichtet (in einen Eimer), dass ihr Platz auf dem Boden ist.

Sie dürfe nicht verhüten und nicht schwanger werden, nicht weinen oder schreien und nicht zu stark bluten. „Ich habe die Beine breit zu machen, wenn andere es verlangen.“ Wenn ein Kunde durch ihren Tod erregt werde, habe sie das hinzunehmen. „Mein Körper ist ein Nutzobjekt. Ich bin Sklavin, Nutztier, Hure.“ Für jeden Fehler habe sie Prügel verdient. „Ich habe Schmerzen verdient und muss dafür dankbar sein.“

Sie hat kein Recht auf ärztliche Versorgung. „Selbst wenn es meinen Tod bedeutet.“ Und wenn alles auffliegt, „muss ich sagen: Ich habe das freiwillig gemacht.“ Woher dieses Regelwerk der Erniedrigung stammt, ist unklar. Auch, von wann es datiert. Es existieren jedoch ältere Fassungen, die Miriam A. fortschrieb und ausbaute. Sie sollen aus Johannas Kindheit und Jugend stammen. Was haben Johannas Eltern damit zu tun?

VIII. Das Urteil

Am 23. Dezember 2021 wird Miriam A. endgültig verhaftet, bis heute sitzt sie in Untersuchungshaft. Eine Oberstaatsanwältin aus der Abteilung für Kapitaldelikte hatte sich der Sache angenommen, die zuvor auf verschiedene Dezernate der Behörde verteilt war. Sie fürchtete um das Leben von Johanna S.

Sechs Monate später beginnt in Braunschweig der Prozess gegen die Industriekauffrau: Wegen sexueller Übergriffe bis hin zu schwerer Vergewaltigung, wegen Freiheitsberaubung, versuchten Totschlags, Körperverletzung. Weitere Angeklagte gibt es nicht. Johanna S. kommt so oft wie möglich ins Gericht. Trotz mehrerer Zusammenbrüche und gegen den Rat ihres Therapeuten.

Er fürchtet, ihre Psyche könnte weiteren Schaden nehmen. Doch Johanna will sichergehen, dass man ihr glaubt, sagt ihre Anwältin. An einem besonders belastenden Tag im Gericht rutscht Johanna bewusstlos vom Stuhl. An einem anderen bricht sie auf dem Gang des Gerichts zusammen.

Als die Richter die Vernehmungen von Johanna verlesen, wird Miriam A. blass. Sie atmet schwer, scheint mit Übelkeit zu kämpfen. Sie beteuert: „Ich bin nicht das Monster aus der Anklage. Ich habe keine Freude daran, Menschen weh zu tun.“

Miriam A. gesteht pauschal alle Vorwürfe. Nur töten wollen habe sie Johanna nicht. Die Beweislast ist erdrückend: Die Angaben im Tagebuch von Miriam A. decken sich mit den Spuren an den Tatorten, Berichten der Gerichtsmedizin und Johanna S.‘ Aussagen bei der Polizei.

Dem Opfer habe Miriam mit ihrem Geständnis eine weitere Aussage ersparen wollen, sagt ihr Anwalt. Doch zu Mittätern und Hintergründen schweigt Miriam A. Ihr Verteidiger deutet nur an, dass sie zu den Taten gezwungen wurde. „Sie stand unter erheblichem Druck von außen“, wolle jedoch Familienmitglieder nicht verraten. Den vom Gericht bestellten psychiatrischen Sachverständigen fragte er: Was sind die Folgen von Missbrauch in der Kindheit und fehlender Elternliebe?

Der psychiatrische Sachverständige hält Miriam A. für voll schuldfähig. Sie sei manipulativ und womöglich sadistisch veranlagt. Johannas Therapeut denkt nicht, dass Miriam die Taten allein beging. „Sie redete immer von ‚Wir‘.“

Der Tag der Urteilsverkündung im Juli 2022 ist einer der heißesten des Jahres. Kurz bevor die Oberstaatsanwältin zu ihrem Plädoyer anhebt, sitzt Miriam A. da, mit beiden Händen vor dem Gesicht. Für einen Moment wirkt sie wie ein verlorenes Kind. Dann erinnert die Anklägerin an das, was man ihr zur Last legt.

Das Gericht befindet Miriam A. für schuldig, mehr als ein Dutzend schwerste Strafraten begangen zu haben. Im Gegenzug für ihr Geständnis hatte man ihr eine Strafe von höchstens sechseinhalb Jahren zugesichert.

Der Vorsitzende Richter hält fest: „Es ist schwierig, die Taten mit den Kategorien der Justiz und der Buchstaben des Gesetzes zu fassen.“ Die Bilder aus den Akten „lassen einen nicht wieder los“.

Alle im Saal wissen: Es wird nicht der letzte Prozess sein. Die Aufklärung der „Horror-Misshandlungen“ von Goslar, Salzgitter und Braunschweig steht erst am Anfang. Es laufen mehrere Ermittlungsverfahren. Nicht nur gegen Miriam A., die nach der Urteilsverkündung ankündigt, ihr Schweigen brechen zu wollen.