Karlsruhe. Größere Chancen für kleine Parteien: Bei der Europawahl im Mai gibt es in Deutschland keine Sperrklausel mehr. Politiker der etablierten Parteien fürchten nun eine Zersplitterung des Parlaments.

Freude bei Kleinst-Parteien, düstere Befürchtungen in der Koalition: Das Bundesverfassungsgericht hat am Mittwoch die Drei-Prozent-Hürde bei der Europawahl als unvereinbar mit dem Grundgesetz gekippt. Das sind die Folgen und die Hintergründe:

Was heißt das Urteil für die Europawahl?

Schon bei den nächsten Wahlen am 25. Mai ist die Drei-Prozent-Klausel hinfällig, ohne dass das Wahlgesetz bis dahin noch eilig geändert werden muss, erklärte Innenminister Thomas de Maiziere (CDU). Es genügen für eine Partei etwa ein Prozent der Stimmen, unter Umständen auch noch weniger, um einen der 96 deutschen Parlamentssitze zu bekommen: Die Zahl der bislang sechs deutschen Parteien mit Europa-Mandat dürfte sich etwa verdoppeln.

Welche Parteien profitieren?

Legt man das Wahlergebnis 2009 zugrunde, dann hätten laut Bundeswahlleiter sieben Parteien zusätzlich je einen Abgeordneten gestellt: Die Freien Wähler, die Republikaner, die Tierschutzpartei und die Familienpartei mit Ergebnissen zwischen 1 und 1,7 Prozent, dazu die Piraten, die Rentner-Partei und die ÖDP (Ökologisch-Demokratische Partei) mit 0,5 bis 0,9 Prozent. Profiteur ist auch die FDP, die nun fest mit dem Wiedereinzug rechnen kann; die eurokritische Alternative für Deutschland liegt in Umfragen bei 6 Prozent. Für CDU, CSU, SPD, Grüne und Linke wird damit der Mandats-Kuchen kleiner. Die deutsche Gruppe der EU-Parlamentarier wird bunter, möglicherweise auch extremer: Auch die NPD, die 2009 nicht angetreten war, bewirbt sich diesmal.

Kippt jetzt auch die Fünf-Prozent-Hürde bei Bundes- und Landtagswahlen?

Vorerst nicht. Das Bundesverfassungsgericht sieht in fortlaufender Rechtsprechung strukturelle Unterschiede zwischen nationalen Parlamenten und Europaparlament: Auf EU-Ebene gebe es keinen Gegensatz von Regierung und Opposition – deshalb sei auch eine stabile Mehrheit für die Wahl und Unterstützung einer handlungsfähigen Regierung nicht notwendig, in Bundes- und Landtagen dagegen schon. Wiederholt haben die Richter Klagen gegen die Fünf-Prozent-Hürde in Bundes- und Landtagen abgewiesen. Allerdings: Seit bei der Bundestagswahl 2013 fast 16 Prozent der gültigen Stimmen für Kleinst-Parteien unberücksichtigt blieben, plädieren Experten wie Ex-Verfassungsgerichtspräsident Hans-Jürgen Papier dafür, die Hürde auf drei Prozent zu senken.

Haben Splitterparteien jetzt Aufwind?

Klaus Dieter Sohn vom Centrum für Europäische Politik geht künftig von einer höheren Bereitschaft der Wähler aus, kleinste Parteien zu wählen. Die Wahlbeteiligung wird seiner Einschätzung nach also voraussichtlich steigen – mit dem Nebeneffekt, dass mehr Protestwähler zur Urne gehen. „Es kann passieren, dass mehr Rechtspopulisten ins Europäische Parlament einziehen. Aber solange diese Parteien nicht verboten werden, müssen wir damit leben.“

Ein Mandat im EU-Parlament wertet kleine Parteien auf, bedeutet mehr Öffentlichkeit, auch mehr Geld. Von der Wahlkampfkostenerstattung profitieren die Kleinen allerdings heute schon, wenn sie mindestens 0,5 Prozent der Stimmen erhalten.

Wie ist das Urteil begründet?

Die Karlsruher Richter sehen in der Drei-Prozent-Hürde einen Verstoß gegen die Verfassungs-Grundsätze der Wahlrechtsgleichheit und der Chancengleichheit der Parteien. Jede Stimme müsse den gleichen Zählwert und die gleiche rechtliche Erfolgschance haben – und bei der Verhältniswahl auch den gleichen Einfluss auf die Zusammensetzung des Parlaments.

Sperrklauseln seien zwar aus zwingenden Gründen erlaubt, vor allem wenn die Zersplitterung die Funktionsfähigkeit des Parlaments störe: Aber diese Gefahr verneinten die Richter für das Europaparlament. Sie halten es nach wie vor nicht für ein vollwertiges Parlament, es fehle der Gegensatz von Regierung und Opposition.

Welche Auswirkungen hat das Urteil auf die Zusammensetzung des EU-Parlaments?

Zwar werden nach der Europawahl nun auch Abgeordnete kleiner Parteien ins EU-Parlament einziehen, doch Klaus Dieter Sohn vom Centrum für Europäische Politik bezweifelt, dass sie sich politisch durchsetzen können. „Es ist unklar, ob sie in den Fraktionen eine Heimat finden.“

Im EU-Parlament gibt es derzeit sieben Fraktionen. Die größten sind die Europäische Volkspartei (Christdemokraten), der sich auch die CDU und CSU angeschlossen haben und die Fraktion der Progessiven Allianz der Sozialisten und Demokraten, der auch Abgeordnete der SPD angehören. Wahrscheinlich ist, dass die großen Parteien in Deutschland künftig Sitze abgeben müssen. Wegen der Sperrklausel durften bei der letzten Europawahl CDU, SPD und Grüne je 2 Abgeordnete mehr entsenden, als ihnen zustanden, die FDP und CSU je einen.

Wird das EU-Parlament funktionsfähig bleiben?

Ja. Wenn sich Christ- und Sozialdemokraten zusammentun, wird das zur Entscheidungsfindung reichen. Allerdings könnte die deutsche Position in den Fraktionen geschwächt werden. Wenn die großen Parteien nicht mehr so viele Abgeordnete entsenden, sinkt der Einfluss der deutschen Kontingente in der jeweiligen Fraktion – das wirkt sich auch auf die Besetzung von wichtigen Posten etwa in den Ausschüssen aus.

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