Berlin. Nach Erdogans Hetze gegen Israel fordern auch Koalitionspolitiker, den türkischen Präsidenten auszuladen. Doch der Kanzler braucht ihn.

Der Staatsbesuch des türkischen Präsidenten Recep Tayyip Erdogan am Freitag in Berlin sorgt schon im Vorfeld für Streit. Kommt es zum großen Krach auf offener Bühne? Auch Koalitionspolitiker fordern vom Kanzler, Erdogan wegen seiner Hetzreden gegen Israel wieder auszuladen. Die Regierung räumt ein, der Besuch sei „herausfordernd“. Doch warum kann sich Erdogan so viel erlauben? Und was erhofft sich der Kanzler von seinem Besuch?

Warum ist Erdogan eingeladen?

Olaf Scholz hatte die Einladung an den türkischen Präsidenten im Mai nach dessen Wiederwahl ausgesprochen. Der Kanzler setzt ebenso wie andere EU-Regierungschefs auf eine Neubelebung der seit Jahren angespannten Beziehungen zur Türkei. Geplant ist am Freitag ein Abendessen im Kanzleramt, um die „gesamte Bandbreite politischer Themen zu besprechen“, wie es heißt. Vorher wird Erdogan von Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier empfangen.

Warum gibt es Streit um Erdogans Besuch?

Schon beim letzten Staatsbesuch Erdogans 2018 gab es heftige Proteste wegen der Menschenrechtsverletzungen in der Türkei, 4000 Polizisten waren im Einsatz. Diesmal ist es noch brisanter: In provozierenden Reden hat Erdogan nach dem Terrorangriff der Hamas das Existenzrecht Israels infrage gestellt. „Diejenigen, die mit Gewalt das Land an sich gerissen haben, auf dem die Palästinenser seit Tausenden Jahren gelebt haben, versuchen einen Staat aufzubauen, der erst seit 75 Jahren besteht und dessen Legitimität durch ihren eigenen Faschismus fragwürdig geworden ist“, sagte Erdogan vorigen Freitag in Ankara.

Darum ist Erdogans Staatsbesuch in Deutschland so umstritten

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    In Gaza werde „ein Verbrechen gegen die Menschlichkeit“ verübt, die Türkei aber werde als Vorreiter die „Unterdrücker“ und ihre „Komplizen“ zur Rechenschaft ziehen. Die islamistische Hamas würdigt der Autokrat aus Ankara als „Befreiungsorganisation“ – für Politiker der Hamas ist die Türkei ein wichtiger Rückzugsraum, sie stellt ihnen sogar Pässe aus.

    Die Beziehungen zu Israels Premier Benjamin Netanjahu hat Erdogan inzwischen abgebrochen, im Gegenzug hat Israel seine Diplomaten zurückgerufen. Auch für den Bundeskanzler sind die Äußerungen so kurz vor dem Besuch eine Provokation: Existenzrecht und Sicherheit Israels gelten für die Bundesregierung als deutsche Staatsräson, die Hamas ist EU-weit als Terrororganisation eingestuft – größer könnten die offenen Differenzen also nicht sein.

    Wird Erdogan jetzt wieder ausgeladen?

    Kanzler Scholz will aber keine deutsch-türkische Krise riskieren, der Besuch soll auf jeden Fall stattfinden. Die Differenzen in der Nahostpolitik seien bekannt, heißt es im Kanzleramt. Der Austausch sei aber gerade bei schwierigen Gesprächspartnern „sehr wichtig“. Allerdings: Laut einer Umfrage des Meinungsforschungsinstituts YouGov sind 45 Prozent der Bundesbürger für die Ausladung Erdogans, nur 32 Prozent befürworten den Besuch. In der Koalition hat Scholz ganz überwiegend Unterstützung, Kritik kommt aber von der FDP: Generalsekretär Bijan Djir-Sarai nennt es „mehr als fraglich“, ob Erdogan in Berlin empfangen werden sollte, ähnlich äußert sich FDP-Innenpolitiker Konstantin Kuhle.

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    Auch Politiker der Linkspartei fordern eine Absage des Besuchs. Ex-Linken-Politikerin Sevim Dagdelen twitterte, die Bundesregierung dürfe Erdogan „nicht den roten Teppich ausrollen“. Grünen-Außenexperte Sergey Lagodinsky mahnte, Scholz müsse Erdogan klarmachen, dass seine Äußerungen „unsere nationalen Interessen und den Zusammenhalt unserer Gesellschaft gefährden.“ Dazu sei eine klare Haltung des Bundeskanzlers wichtig, sagte der Europaabgeordnete unserer Redaktion. Scholz müsse mit Erdogan auch über die Funktionsweise der Moscheen des Islamverbands Ditib in Deutschland sprechen.

    Wieso ist der Besuch für Scholz so wichtig?

    Kanzler Scholz setzt ebenso wie andere EU-Regierungschefs auf eine neue Annäherung an die Türkei – und auch von Erdogan kommen in letzter Zeit freundliche Signale. Beide Seiten brauchen einander: Scholz will vor allem über die Neuauflage des 2016 maßgeblich von Berlin eingefädelten Flüchtlingsabkommens zwischen der Europäischen Union und der Türkei sprechen. Die EU hat der Türkei bislang zehn Milliarden Euro zugesagt, wenn sie illegale Einreisen nach Europa verringert und Flüchtlinge im eigenen Land versorgt.

    Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD), spricht mit Recep Tayyip Erdogan, Präsident der Türkei, bei einem bilateralen Treffen am Rande der Generaldebatte bei der 77. Vollversammlung der UN.
    Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD), spricht mit Recep Tayyip Erdogan, Präsident der Türkei, bei einem bilateralen Treffen am Rande der Generaldebatte bei der 77. Vollversammlung der UN. © picture alliance/dpa | Michael Kappeler

    Damit sich Ankara wieder stärker engagiert, wird hinter den Kulissen über neue Milliardenhilfen und Visaerleichterungen für die Türkei gesprochen. Dringend erwartet wird auch die türkische Zustimmung zum Nato-Beitritt Schwedens; die Ratifizierung durch das türkische Parlament steht kurz bevor. Weil die Nato das nicht gefährden will, verkneifen sich die meisten Bündnisstaaten Kritik an Erdogan – auch Nato-Generalsekretär Jens Stoltenberg spielt den Konflikt herunter.

    Die Türkei nimmt zudem selbstbewusst eine Vermittlerrolle im Ukraine-Krieg ein, etwa beim Getreideabkommen. Es ist nicht ausgeschlossen, dass auch Erdogan in der Krisendiplomatie im Nahen Osten noch helfen kann. Um diese Themen soll es auch im Kanzleramt gehen. Erdogan dürfte die gestiegene geopolitische Bedeutung der Türkei unterstreichen. Sein zentrales Interesse gilt in Berlin allerdings besseren wirtschaftlichen Beziehungen, weil die Türkei in eine schwere Wirtschaftskrise geraten ist.

    Kommt es zum offenen Krach mit Erdogan?

    Zunächst sah es danach aus, dass sich Bundeskanzler Scholz im Vorfeld des Treffens mit Kritik zurückhält. Bei einer Pressekonferenz am Dienstag distanzierte sich der Kanzler jedoch von Erdogans Verbalattacken gegen Israel. Israel sei ein Land, „das sich den Menschenrechten, das sich dem Völkerrecht verpflichtet fühlt und in seinen Aktionen auch dementsprechend handelt“, verteidigte Scholz das militärische Vorgehen im Gazastreifen. „Und deshalb sind die Vorwürfe, die da gegen Israel erhoben werden, absurd. Und daran kann es gar keinen Zweifel geben.“

    Es handle sich bei der Hamas um eine Terrororganisation. „Israel hat jedes Recht, sich gegen die Hamas zu verteidigen und auch diejenigen anzugreifen, die als Hamas-Kämpfer in Gaza tätig sind.“ Es gebe auch keinen Zweifel daran, dass Israel eine Demokratie sei. „Und das werden wir auch in jedem Gespräch und bei jeder Gelegenheit betonen, dass das unsere Sicht der Dinge ist“, so der Kanzler im Vorfeld.

    Ob der Konflikt weiter öffentlich eskaliert ist offen. Bisher stehen keine öffentlichen Auftritte fest, anders als bei früheren Besuchen Erdogans. Anzeichen, dass der Präsident am Sonnabend das Fußball-Länderspiel Deutschland-Türkei im Berliner Olympiastadion besuchen könnte, gibt es nicht – dass Scholz oder Steinmeier ihn dort begleiten würden, ist ohnehin ausgeschlossen. Bleibt noch eine mögliche Pressekonferenz im Kanzleramt.

    Doch ob die stattfindet, ist fraglich – wenn Erdogan dann seine Israel-Schmähungen bekräftigen würde, müsste Scholz ihm auch hier offen entgegentreten. Scholz hängt noch immer nach, dass er voriges Jahr in der Regierungszentrale vor Journalisten die Behauptung von Palästinenserpräsident Mahmoud Abbas unwidersprochen ließ, Israel habe „50 Holocausts“ begangen. Diesmal ist der Kanzler vorbereitet, eine solche Szene soll sich nicht wiederholen.

    Welches Spiel spielt der türkische Präsident?

    Wie so häufig versucht der Präsident auch im Nahost-Konflikt zweigleisig zu fahren und seine Position als wichtige Regionalmacht auszuspielen. Lange galt die Türkei als Bündnispartner Israels, doch wegen der Erstürmung eines Gaza-Solidaritätsschiffs durch die israelische Marine 2010, bei der zehn türkische Staatsbürger getötet wurden, kam es zum Zerwürfnis. Seit Jahren wechseln sich Wiederannäherungsversuche und Eklats ab. Erst 2022 nahmen Ankara und Jerusalem wieder vollständige diplomatische Beziehungen auf, erst Ende September gab es in New York ein freundliches Treffen zwischen Erdogan und Netanjahu, bei dem beide ihre „verbesserten Beziehungen“ lobten.

    In diesem Sinne hatte Erdogan kurz nach dem Terrorangriff der Hamas sogar seine Vermittlung angeboten. Doch die konservativ-muslimischen Wähler von Erdogans AKP stehen klar auf Seiten der Hamas und der Palästinenser. Mit der Israel-Hetze macht der Präsident im Vorfeld wichtiger Kommunalwahlen nun innenpolitisch Punkte. Dass sich der außenpolitische Schaden bei westlichen Regierungen in engen Grenzen halten würde, hat Erdogan wohl richtig einkalkuliert.