Berlin/Enerhodar. Atomexperten warnen vor einem atomaren Unfall beim AKW Saporischschja. Die Evakuierung von Städten in der Umgebung hat begonnen.

Vor der anstehenden ukrainischen Gegenoffensive spitzt sich die Situation um das von russischen Streitkräften besetzte Atomkraftwerk Saporischschja erneut dramatisch zu. Rafael Grossi, der Chef der Internationalen Atomenergiebehörde IAEA, warnte am Wochenende vor der Gefahr eines „ernsten atomaren Unfalls“. Die Situation werde „zunehmend unberechenbar und potenziell gefährlich“, weil die am Kraftwerk gelegene Stadt Enerhodar von den russischen Besatzern evakuiert werde. Nahezu alle Beschäftigten des Atomkraftwerks leben in der Stadt, deren Name so viel wie „Energiegeschenk“ bedeutet.

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Das Kraftwerk ist wie die erst 1970 gegründete Stadt am südlichen Ufer des Kachowkaer Stausees von den Russen besetzt. Seitdem gibt es immer wieder Befürchtungen, es könne aufgrund der Kampfhandlungen zu einer nuklearen Katastrophe in Europas größtem Atomkraftwerk kommen. Immer wieder muss die Kühlung der Brennstäbe über einen Notbetrieb gewährleistet werden.

Ein russischer Soldat bewacht einen Bereich des Kernkraftwerks Saporischschja.
Ein russischer Soldat bewacht einen Bereich des Kernkraftwerks Saporischschja. © dpa | -

Bürgermeister: Die Evakuierung der Region hat bereits begonnen

Im März musste der Meiler bereits zum sechsten Mal auf die Notversorgung durch Dieselgeneratoren umgestellt werden. Bemühungen der IAEA, die Konfliktparteien zur Einrichtung einer Sicherheitszone zu bewegen, sind bislang gescheitert. Zudem berichten die verbliebenen ukrainischen Beschäftigten immer wieder von Schikanen und Einschüchterungen durch die russischen Streitkräfte, die sich auf dem weitläufigen Gelände des Kraftwerks verschanzt und dort militärisches Gerät deponiert haben.

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Am Freitag hatte der von Moskau eingesetzte Verwaltungschef der von Russland im vergangenen Herbst annektierten Region Saporischschja angesichts der bevorstehenden ukrainischen Gegenoffensive die Teilevakuierung von 18 besetzten Orten angeordnet, darunter auch Enerhodar. Der Bürgermeister der Stadt, Dmytro Orlov, der seine Amtsgeschäfte in einem Büro im rund 70 Kilometer nordöstlich gelegenen und ukrainisch kontrollierten Saporischschja führt, berichtet, dass in der Stadt zwar noch ausreichend Personal des Kernkraftwerks sei, um zu rotieren und Ruhepausen einzulegen. Jedoch hätten die „Besatzer und Kollaborateure“ in Enerhodar am Freitag die Anweisung erhalten, sich auf eine Evakuierung vorzubereiten.

Ostukraine: Lebensmittelläden schließen, Patienten werden verlegt, Ansturm auf Medikamente

„Einzelne Busse und Personen in privaten Fahrzeugen werden an die Küste des Asowschen Meeres, auf das Gebiet der besetzten Krim oder in das Gebiet der Russischen Föderation gebracht“, so Orlov. Darunter seien Krankenhaus-Patienten, ältere Menschen und Familien mit Kindern.

Die Besatzer entfernten Computer und medizinische Gerätschaften aus den Krankenhäusern, in der Stadt seien seit Sonntag die Lebensmittelgeschäfte geschlossen, es gebe kein Internet, die Tankstellen hätten keinen Treibstoff und die Geldautomaten seien leer. „Es gibt einen Ansturm auf Medikamente, aber auch auf lebensnotwendige Güter und einige Lebensmittel“, so Orlov.

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Die Evakuierung könne zwei Gründe haben: Entweder um „Provokationen“ aus den besetzten Gebieten durchzuführen oder weil die Besatzer verstünden, dass sie einer Gegenoffensive nichts entgegensetzen können. Der inständige Wunsch des Bürgermeisters ist ein gewaltloser Rückzug der Besatzer: „Wir alle hoffen, dass sie als ‚Geste des guten Willens die Stadt‘ verlassen, wie sie die Region Kiew im vergangenen Frühjahr verlassen haben.“

Kämpfe um Bachmut: Was steckt hinter den Plänen von Wagner-Chef Prigoschin?

Rätselraten herrscht hingegen weiterhin um den Abzug der berüchtigten Wagner-Söldner aus der seit Monaten umkämpften Stadt Bachmut im Osten der Ukraine. Nachdem Wagner-Finanzier Jewgeni Prigoschin bereits am Freitag die russische Militärführung wegen mangelhafter Unterstützung in beispielloser Schärfe kritisiert und den Abzug seiner Söldner für den 10. Mai angekündigt hatte, bat er am Samstag in einem auf seinem Telegram-Kanal veröffentlichten Schreiben den Kreml offiziell um die Ablösung von Wagner durch Truppen des Tschetschenen-Führers Ramsan Kadyrow. Bachmut werde „zweifellos“ von dessen Achmat-Söldnern eingenommen, lässt sich Prigoschin zitieren.

Menschen betrachten ein Gebäude in Saporischschja, dass nach ukrainischen Angaben durch russischen Beschuss zerstört wurde.
Menschen betrachten ein Gebäude in Saporischschja, dass nach ukrainischen Angaben durch russischen Beschuss zerstört wurde. © Andriyenko Andriy/AP/dpa

Die Wagner-Söldner versuchen seit Monaten vergeblich, die mittlerweile nahezu vollends zerstörte Industriestadt vollständig einzunehmen und haben dabei horrende Verluste erlitten. Prigoschin versucht dem Eindruck entgegenzutreten, seine Männer hätten beim Sturm auf Bachmut versagt. Sie hätten ihre Aufgabe erfüllt, die Kleinstadt in einen „Fleischwolf“ für die ukrainischen Streitkräfte zu verwandeln und den regulären russischen Streitkräften somit die Möglichkeit eröffnet, ihre Ränge mit neuen Rekruten aufzufüllen und ihre Verteidigungspositionen auszubauen, schreibt er in einem weiteren langen Eintrag vom Samstag.

Ukrainer werden Russen Einsatz von Phosphor-Bomben vor

Ob die Wagner-Söldner Bachmut tatsächlich wie angekündigt am Mittwoch verlassen werden und durch Kadyrows Achmat-Kämpfer ersetzt werden, ist aber offen. Am Samstag führten sie noch heftige Angriffe auf den westlichen Teil des Stadtzentrums durch und erzielten minimale Geländegewinne. Am Sonntag berichtete Prigoschin auf seinem Telegram-Kanal von einem Einschwenken des Kremls: „Sie haben uns versprochen, uns all die Munition und Ausrüstung zu geben, die wir brauchen, um unsere Aktionen fortsetzen zu können.“ Aus Moskau sind noch keine Reaktionen auf die irrlichternden Äußerungen des Söldner-Chefs bekannt.

Die ukrainische Seite beschuldigt die russischen Streitkräfte im Kampf um Bachmut mittlerweile, massiv weißen Phosphor einzusetzen. Am Wochenende veröffentlichte Drohnenaufnahmen zeigen ein Flammenmeer in der zerstörten Stadt, die wie kaum eine andere zum Symbol des Krieges geworden ist.