Cherson. Die Ukraine bereitet sich auf die Gegenoffensive vor: Unsere Reporter haben in Cherson Menschen getroffen, die müde sind vom Krieg.

Die Frauen und die Männer mit den viel zu kleinen Schutzwesten kehren an diesem kalten Sonntagmorgen müde, aber routiniert die Trümmer zusammen. Glassplitter knirschen unter ihren Schuhen. Polizisten machen Fotos, vermessen die Größe des Kraters, den das Geschoss gerissen hat, das vor dem Wohnhaus explodiert ist.

Oleksandr, der Chef des kleinen Trupps der Stadtverwaltung von Cherson raucht eine selbstgedrehte Zigarette, er ist kein redseliger Mann. „Ich möchte, dass sie alle sterben“, sagt er, drückt die Kippe zwischen seinen schwieligen Fingern aus und schmeißt sie auf den Haufen mit zerfetzten Fensterrahmen und Betonbrocken. Sie – das sind die russischen Soldaten auf der anderen Seite des Flusses, die seine Stadt seit einem halben Jahr fast täglich beschießen.

Ukraine-Krieg: Ernüchterung hat sich breit gemacht

Cherson im Süden der Ukraine. Die Stadt ist die erste und einzige Regionalhauptstadt, die die russischen Streitkräfte nach dem Beginn des Angriffskrieges erobern können. Die Soldaten aus Russland errichten ein brutales Besatzungsregime. Im November ziehen sich die Invasoren auf die östliche Seite des Dnepr zurück, nachdem die ukrainischen Streitkräfte ihre Nachschublinien zerstört haben. Anfangs ist der Jubel über die Befreiung groß. Jetzt hat sich in Cherson Ernüchterung breit gemacht.

Aufräumen nach dem russischen Angriff - mal wieder. Die Männer und Frauen tragen Schutzwesten beim Schaufeln. Die Menschen in Cherson sind müde vom Krieg.
Aufräumen nach dem russischen Angriff - mal wieder. Die Männer und Frauen tragen Schutzwesten beim Schaufeln. Die Menschen in Cherson sind müde vom Krieg. © FUNKE Foto Services | Reto Klar

Nur noch ein Fünftel der ursprünglichen Einwohner ist geblieben, weil die Russen von der anderen Seite des Flusses immer wieder mit Mehrfachraketenwerfern in die Stadt hineinschießen. Geblieben sind vor allem die Älteren, die nicht wissen, wo sie hingehen sollten, Menschen wie Zynovii Volodymyrovych.

Ukraine-Krieg: „Wir werden jeden Tag bombardiert, niemand hilft uns“

Volodymyrovych, 72, steht vor dem Kino am Freiheits-Platz, in seiner Hand eine Tüte mit Lebensmittel, auf dem Kopf eine Schiebermütze. Er ist mit dem Bus ins Stadtzentrum gekommen, aus Antoniwka, einer Siedlung im Osten Chersons. Dort lebt er mit seiner pflegebedürftigen Schwiegermutter, seiner gehbehinderten Frau, seinem behinderten Sohn. Antoniwka liegt direkt am Flussufer, es ist ein gefährlicher Ort. Am vergangenen Mittwoch tötet ein russischer Scharfschütze in der Nähe der Antoniwka-Brücke einen ukrainischen Journalisten und verletzt einen italienischen Reporter. „Wir werden jeden Tag bombardiert, niemand hilft uns“, klagt Volodoymyrovych.

Es gibt in seiner Siedlung anders als in anderen Teilen Chersons noch immer keinen Strom, kein Gas zum Heizen. In seiner Straße seien alle Häuser zerstört, nur seines nicht. „Vielleicht liegt es daran, dass wir neben einer Kirche leben. Gott beschützt uns.“ Jetzt sehnt der alte Mann den Beginn der ukrainischen Gegenoffensive herbei. „Ich hoffe, sie wird erfolgreich sein. Wir werden uns im Keller verstecken und auf unsere Freiheit warten.“

Zynovii Volodymyrovych trägt seine Einkäufe über den Freiheits-Platz. Er lebt mit seiner pflegebedürftigen Schwiegermutter, seiner gehbehinderten Frau und seinem behinderten Sohn direkt am Fluss - ein gefährlicher Ort.
Zynovii Volodymyrovych trägt seine Einkäufe über den Freiheits-Platz. Er lebt mit seiner pflegebedürftigen Schwiegermutter, seiner gehbehinderten Frau und seinem behinderten Sohn direkt am Fluss - ein gefährlicher Ort. © FUNKE Foto Services | Reto Klar

Volodoymyrovych und den anderen Menschen, die in Cherson geblieben sind, ist die Kriegsmüdigkeit deutlich anzumerken. Sie liegt wie der bleierne Himmel an diesem Tag über der ganzen Stadt. Sie hoffen, dass den ukrainischen Streitkräften gelingt, die Russen aus der Schussweite der Stadt zu vertreiben, damit sie endlich Ruhe haben.

Himmelfahrtskommandos, die der Aufklärung dienen

In den vergangenen Tagen haben ukrainische Soldaten im Mündungsdelta des Dnepr amphibische Missionen durchgeführt, sind mit Schlauchbooten auf Inseln übergesetzt und haben kleinere Brückenköpfe errichtet. Es sind Himmelfahrtskommandos, die der Aufklärung dienen. Auf russischer Seite sind frische Kräfte eingetroffen.

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„Wir glauben an die Tapferkeit unserer Soldaten und daran, dass sie alles tun werden, was nötig ist“, sagt Liudmyla Oleksiivna. Sie steht mit einem Einkaufswagen vor einem der wenigen Supermärkte, die noch geöffnet sind. Die Fenster sind mit Sperrholz verbrettert, die Menschen hasten schnell hinein und hinaus. „Jeder Mensch in Cherson lebt im Moment gefährlich“, sagt die Mittfünfzigerin, die in Stepaniwka im Norden der Stadt lebt.

„Jeder Mensch in Cherson lebt im Moment gefährlich“, sagt Liudmyla Oleksiivna beim Einkauf.
„Jeder Mensch in Cherson lebt im Moment gefährlich“, sagt Liudmyla Oleksiivna beim Einkauf. © FUNKE Foto Services | Reto Klar

Auch in Stepaniwka schlagen ständig Geschosse ein. „Wir haben uns daran gewöhnt. Wir haben keine Angst mehr“, sagt Oleksiivna und versucht zu lächeln. Ihre Kinder und Enkel haben die Stadt verlassen, sie ist geblieben, weil sie auf deren Haus aufpassen will. „Es ist schon einmal ausgeraubt worden, die Polizei unternimmt nichts“, beschwert sie sich.

Gott möge die Soldaten schützen, wünscht sich die 82-Jährige

Auf die Behörden ist sie ohnehin nicht gut zu sprechen. In der Stadt liege zu viel Müll herum, die ärmeren Einwohner, die auf Hilfe angewiesen seien, müssten tagelang warten, ehe sie unterstützt würden. Sie arbeitet als Krankenschwester, erhält einen Lohn von umgerechnet 145 Euro. Die Hälfte geht für Strom, Wasser und Gas weg. „Wie soll ich davon leben?“, empört sich Oleksiiva.

Ukraine-Krieg – Hintergründe und Erklärungen zum Konflikt

Ievgeniia Grygorivna erlebt bereits ihren zweiten Krieg. An den ersten kann sie sich noch gut erinnern, obwohl sie damals noch ganz jung war, das war, als die Deutschen ihr Land überfielen. „Das war nicht so schlimm wie das, was heute passiert“, behauptet die kleine Dame, „die Russen vernichten alles, Bäume, Tiere, Menschen, sogar schwangere Frauen.“

Die Nacht zuvor, die hat ihr wieder große Angst gemacht, weil die Explosionen so furchtbar laut waren, als die Raketen in die Wohnstraße in der Nähe des Bahnhofs einschlugen. Sie denkt kurz nach. „Als Kind hatte ich oft nichts zu essen. Ich hatte gehofft, ich hätte im Alter ein normales Leben.“ Die 82-Jährige bekreuzigt sich hastig. „Ich möchte nur, dass dieser Krieg so schnell wie möglich vorbei ist und endlich wieder Frieden herrscht.“ Gott möge die Soldaten schützen, wünscht sie sich. „Die Jungs sind von zu Hause weggegangen. Mögen sie wieder lebendig nach Hause kommen, zur Freude ihrer Mütter.“

Das zerstörte Haus ist für die Polizei ein Tatort

Einige dieser Soldaten stehen an einer kleinen Kaffeebude in der Nähe des Freiheitsplatzes, es sind Sanitäter. Dmytro, Ende 30, groß, stämmig, raspelkurze Haare, lässt sich auf ein Gespräch ein, er beantwortet Fragen militärisch kurz und knapp. Vor dem Krieg war er Rettungssanitäter in Saporischschja, etwa 300 Kilometer nordöstlich von Cherson.

Als der russische Überfall im Februar vergangenen Jahres beginnt, schickt er seine Familie ins Ausland und meldet er sich freiwillig zur Armee. „Wir sind rund um die Uhr bereit für die Gegenoffensive“, sagt er und dass er an den Erfolg glaubt. „Wir kämpfen auf unserem eigenen Land. Das ist der wichtigste Faktor.“

Ievgeniia Grygorivna erlebt bereits ihren zweiten Krieg, sie hat große Angst, erzählt sie.
Ievgeniia Grygorivna erlebt bereits ihren zweiten Krieg, sie hat große Angst, erzählt sie. © FUNKE Foto Services | Reto Klar

Wenige Hundert Meter entfernt beseitigen die Mitarbeiter der Stadtverwaltung die Schäden der letzten Nacht. Zwei Raketen sind auf der Straße explodiert, in Wohnblocks links und rechts klaffen Löcher, wo einmal Fenster waren, Bäume vor den Häusern sind zersplittert. Es hat bei diesem Angriff zum Glück keine Toten gegeben, nur zwei Verletzte, die meisten Wohnungen sind leer.

Für die Polizisten, die die Spuren sichern, ist das ein Tatort. Sie ermitteln wegen eines Kriegsverbrechens. An diesem Sonntag werden die russischen Streitkräfte Cherson und die umliegenden Siedlungen noch fast vierzigmal beschießen. Ein Mensch stirbt, drei werden verletzt, darunter ein Kind. Es ist der blutige Alltag in Cherson.

LandUkraine
KontinentEuropa
HauptstadtKiew
Fläche603.700 Quadratkilometer (inklusive Ostukraine und Krim)
Einwohnerca. 41 Millionen
StaatsoberhauptPräsident Wolodymyr Selenskyj
RegierungschefMinisterpräsident Denys Schmyhal
Unabhängigkeit24. August 1991 (von der Sowjetunion)
SpracheUkrainisch
WährungHrywnja