Braunschweig. Niedersachsens Spitzengewerkschafter Mehrdad Payandeh, Detlef Ahting und Dietmar Schilff fordern im Interview den Abschied vom öffentlichen Sparkurs.

Welcher Weg führt am schnellsten aus der Corona-Krise? Im Interview mit unserer Zeitung erläutern Mehrdad Payandeh, Chef des Deutschen Gewerkschaftsbundes (DGB in Niedersachsen, Bremen und Sachsen-Anhalt, Detlef Ahting, Leiter des Verdi-Landesbezirks Niedersachsen-Bremen, und Dietmar Schilff, Landesvorsitzender der Gewerkschaft der Polizei in Niedersachsen, welche Strategie aus ihrer Sicht am geeignetsten ist.

DGB-Landesvorsitzender Mehrdad Payandeh.
DGB-Landesvorsitzender Mehrdad Payandeh. © dpa | Lucas Bäuml

Zu Beginn der Corona-Krise entstand der Eindruck, die Gewerkschaften halten sich auffällig mit eigenen Positionen zurück. Wollten Sie zunächst die Entwicklung abwarten?

Schilff: Nein, wir waren sehr früh mit der Politik und den Regierungen in Gesprächen. Das gilt sowohl auf Bundes- als auch auf Landesebene. Ich bin über den DGB auf Bundesebene derzeit als Vertreter für die Gewerkschaft der Polizei (GdP) an nahezu allen Verhandlungen unmittelbar oder mittelbar beteiligt und kann sagen, dass aufgrund unserer Gespräche mit den Mitgliedern der Bundesregierung und der Regierungsfraktionen auch einiges in die Papiere eingearbeitet und verbessert wurde, wie man zum Beispiel am Kurzarbeitergeld feststellen kann. Und auch auf Landesebene finden fortlaufend in unterschiedlichen Runden auch Abstimmungsgespräche statt.

Payandeh: Dabei stand die Kommunikation nach außen nicht im Vordergrund. Die erste Überlegung war, wie Unternehmen in dieser besonderen Situation geschützt werden können. Wir Gewerkschaften haben aber auch schon sehr früh dafür eingesetzt, dass zum Beispiel Soloselbständige Zuschüsse bekommen – und nicht etwa Kredite. Damit der Druck auf sie nicht noch größer wird. Wir haben uns bei der Politik zudem für das erleichterte Kurzarbeitergeld und die Entgeltentschädigung bei Schul- und Kita-Schließungen gesorgt. Und wir werden weiter am Ball bleiben, weil alle Gewerkschaften die wirtschaftliche Situation wesentlich ernster bewerten, als es augenblicklich scheint.

Warum haben Sie die Öffentlichkeit über ihre Diskussionen mit der Politik nicht informiert?

Payandeh: Weil die Gespräche nicht für die Öffentlichkeit gedacht waren und wir die Politik nicht vorführen wollten.

Welche Wege führen nach Ihrer Einschätzung aus der Krise?

Ahting: Der VW-Betriebsratsvorsitzende Bernd Osterloh hat die hohe Bedeutung des Gleichgewichts zwischen Ökonomie, Ökologie und Sozialem betont. Das trifft den Nagel auf den Kopf. Ein Schlüssel ist die Kaufkraft der privaten Konsumenten in Deutschland. Die Bedeutung steigt sogar noch, weil der Export wohl noch auf längere Sicht schwach sein wird. Wird die Kaufkraft gestärkt, profitiert davon der Handel. Das kommt wiederum den Kommunen durch die Steuereinnahmen zugute.

Verdi-Landeschef Detlef Ahting.
Verdi-Landeschef Detlef Ahting. © dpa | Hauke-Christian Dittrich

Das klingt so einfach.

Ahting: Das ist es natürlich nicht, weil die Herausforderungen groß sind. Aus unserer Sicht muss zum Beispiel die Digitalisierung des stationären Handels vorangetrieben werden, um ihn auf Augenhöhe mit Amazon zu bringen. Das wird aber ohne öffentliche Förderung zu langsam geschehen. Wir brauchen daher einen Rettungsschirm für die Kommunen. Sie müssen handlungsfähig bleiben und weiter investieren können.

Payandeh: Es wäre grundfalsch, jetzt weiter die öffentlichen Haushalte konsolidieren zu wollen. Das wäre die falsche Politik.

Was wäre die richtige Politik?

Payandeh: Die Politik muss endlich mehr Mut zeigen, private Investitionen massiv fördern und auch selber investieren. Wir dürfen nicht vergessen, dass Deutschland ein Industriestandort ist. Die Autoindustrie als Schlüsselbranche steckt auch ohne die Corona-Krise in einer Transformation. Nun kommen die Belastungen der Corona-Krise noch hinzu. Wir sollten die aktuelle Situation als Chance begreifen, das Land zu modernisieren.

Woran denken Sie?

Payandeh: Wir müssen klotzen und dürfen nicht kleckern. Wir müssen wirtschaftliche Anreize schaffen, damit die Unternehmen volle Auftragsbücher haben. Das ist doch viel besser, als sie zu alimentieren. Ich denke, nur mit kräftigen Prämien können wir Anreize auch im Sinne des Klimaschutzes auslösen. Also für jeden sichtbar machen: Du muss jetzt zugreifen und dir Prämien „Alt gegen Neu“ sichern, um zum Beispiel alte Autos oder alte Heizungen zu ersetzen. Davon würden die Umwelt, die lokale Wirtschaft und das Handwerk profitieren. Die Politik muss mit Anreizen erreichen, dass Privathaushalte und Unternehmen Investitionen nicht aufschieben, sondern vorziehen. Das hätte positive wirtschaftliche Effekte, und die vom Staat gesetzten Anreize kämen über die Mehrwertsteuer zurück.

GdP-Landeschef Dietmar Schilff.
GdP-Landeschef Dietmar Schilff. © Florian Kleinschmidt/BestPixels.de

Welches Modell der Anreize favorisieren Sie: Eine staatliche Konsumpauschale für jeden Bürger oder gezielte Prämien zum Beispiel für Autos?

Payandeh: Eine Pauschale ist nicht zielgenau, deshalb sind gebundene Prämien besser. Die Finanzkrise 2009 hat gelehrt, dass Prämien wie damals die Abwrackprämie sehr positive Effekte haben. Heute könnten Anreize helfen, die CO2-Bilanz zu verbessern. Ein Beispiel: Im Klimapaket der Bundesregierung sind viele sinnvolle Maßnahmen wie unter anderem der Austausch alter Öl-Heizungen vorgesehen, die mit den Einnahmen aus der künftigen CO2-Steuer finanziert werden. Ich schlage vor, diese Anreize vorzuziehen und nicht erst dann zu fördern, wenn der CO2-Topf voll ist.

Flankiert von Investitionen der öffentlichen Hand?

Ahting: Als Signale des Aufbruchs, unbedingt. Würde das Klimapaket vorgezogen, dann würde das dafür sorgen, dass die Kommunen in die energetische Sanierung ihrer Gebäude investieren – zum Beispiel in Kitas und Schulen. Dafür bräuchte es den kommunalen Rettungsschirm.

Schilff: Bei der Polizei in Niedersachsen sind allein 120 Millionen Euro erforderlich, um das Notwendigste zu sanieren. Nicht nur in den Schulen ekelt man sich, auf die Toilette zu gehen. Von solchen Investitionen würde auch das lokale Handwerk profitieren.

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Würde es ausreichen, den Binnenmarkt zu beleben? Schließlich ist Deutschland eine Exportnation.

Payandeh: Die Belebung des Binnenmarktes hätten viele positive Effekte. 60 Prozent der Konjunktur entsteht über die Binnennachfrage. Sie ist nach wie vor die treibende Kraft.

Ahting: Und sie sorgt mit dafür, Arbeitsplätze zu sichern. Die sind derzeit aber vielerorts bedroht. Der Tourismus zum Beispiel wird weiter warten müssen, bis das Geschäft wieder richtig anläuft. Nicht viel besser ist die Situation in der Gastronomie. Da muss geprüft werden, ob Hilfspakete verlängert werden müssen.

Sie sprachen die soziale Komponente an. Was meinen Sie genau?

Ahting: Für Menschen mit geringem Einkommen könnte es zum Beispiel Einkaufsgutscheine für den lokalen Handel geben. Das würde nicht nur ihnen helfen, sondern auch die Binnennachfrage stärken.

Und was ist mit dem Export?

Payandeh: Auch hier gilt: Wir müssen mutig sein. 63 Prozent der deutschen Exporte gehen ins europäische Ausland. Deshalb sollten Eurobonds, das sind Gemeinschaftskredite der EU, schon aus Eigeninteresse kein Tabu für Deutschland sein. Sollte sich Deutschland verweigern, dann steigen die Risikoaufschläge für Staatsanleihen aus Spanien und Italien – das wäre ein weiteres Risiko für die Stabilität in Europa. Würde es diesen Staaten aber besser gehen, dann würde Deutschland zuallererst profitieren. Was den Export außerhalb Europas betrifft, sollten wir darüber nachdenken, uns Schritt für Schritt unabhängiger zu machen.

All Ihre Vorschläge kosten viel Geld in einer Zeit, in der ohnehin schon viele Milliarden an Hilfe fließen. Die Finanzminister warnen längst vor zu hohen Schulden.

Payandeh: Sparen ist das falsche Verständnis vom Job des Finanzministers. Die Krise ist nicht die richtige Zeit, Schulden abzubauen. Vielmehr sind staatliche Investitionen gefragt, um die Krise zu bewältigen. Ein großes Problem in der Corona-Krise ist die vielerorts depressive Stimmung. Auch die Politik ist verunsichert. Ein Weg, der aus der Depression herausführt, sind Signale des Aufbruchs und dass wir der Krise mit Investitionen in Wiederaufbau trotzen wollen. Ja, wir packen es gemeinsam an. Wenn jetzt aber niemand handelt, dann ist das für die Konjunktur weiteres Gift. Und wir dürfen nicht vergessen: Im Ausland schauen viele auf uns, weil wir in Europa die größte Volkswirtschaft sind. Sie warten auf richtige Signale aus Deutschland.

Schilff: Jetzt ist genau der richtige Zeitpunkt für Investitionen des Staates. Nehmen Sie nur die Digitalisierung: Seit Jahren mahnen wir an, dass mehr in die digitale Ausstattung der Polizei investiert werden muss . Der Digitalfunk zum Beispiel bei der Bundespolizei funktioniert nicht reibungslos. Auch bei den Liegenschaften gibt es einen großen Investitionsstau. Jetzt wäre die Zeit für einen Investitionsschub bei der Polizei: Personal, Digitalisierung, Fuhrpark, Arbeits- und Gesundheitsschutz, Liegenschaften. Hier kann man auch bei unseren niedersächsischen Betrieben für einen Aufbruch sorgen. Und natürlich müssen wir auch über die Auswüchse der Globalisierung sprechen. Ich denke da zum Beispiel auch an Investitionen in den Aufbau neuer Produktionsstätten für Arbeitsschutzmaterialien bei uns in Deutschland. Dass dies zukünftig so nicht weitergehen kann, hat die Pandemie ja eindrucksvoll gezeigt. Und auch in anderen wichtigen Bereichen ist eine Umkehr dringend notwendig. Wir haben zum Beispiel die Produktion von Medikamenten ins Ausland verlagert, jetzt fehlen sie hier. Darüber müssen wir uns ernsthafte Gedanken machen.

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Ist es nicht dennoch angebracht, vor einem allzu laxen Umgang mit Schulden zu warnen?

Payandeh: Der niedersächsische Finanzminister Reinhold Hilbers spricht von einem Einstieg in harte Zeiten. Ich halte das für das falsche Signal. Das macht die ohnehin bedrückende Situation für viele Menschen nur noch düsterer, denken Sie nur an die vielen Kurzarbeiter. Die Politik sollte nicht eine düstere Zukunft prophezeien, sondern Perspektiven für mehr Wohlstand für alle schaffen. Sie muss dafür sorgen, dass die Wirtschaft wieder wächst. Dafür muss jetzt ein stabiles Fundament gelegt werden, und dazu passt keine schwarze Null. Wir brauchen für eine Aufbruchsstimmung aber ein gesellschaftliches Bündnis, das mit Mut, Vernunft und gegenseitiger Unterstützung nach den besten Lösungen sucht. Die Demokratie muss sich als handlungsfähig und überlegen erweisen, sonst spielen wir den rechtsextremen und autoritären Kräften in die Hände.

Schilff: Auch für den öffentlichen Dienst gilt: Hier darf nicht gespart werden. Wir sehen gerade in Krisenzeiten, dass wir eine gut aufgestellte Verwaltung benötigen. Auf dem Rücken der Beschäftigten des öffentlichen Dienstes darf nicht wieder gespart werden, darauf werden wir achten und gegebenenfalls die Öffentlichkeit auch einbinden. Auch die Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen des öffentlichen Dienstes sind doch die Menschen, die den Laden im Moment mit am Laufen halten, die systemrelevant sind. Ich sehe das natürlich insbesondere bei den Beschäftigten der Polizei, die wie immer auch jetzt vollen Einsatz zeigen, trotz einer relativ hohen Eigengefährdung. Diejenigen, die jetzt sofort wieder Kürzungen einfordern, wie der nicht systemrelevante Steuerzahlerbund, sollten lieber mal mit den Menschen in den Bereichen sprechen, anstatt über sie zu reden. Und abschließend möchte ich sagen, dass wir als Gewerkschaften es auch für wichtig halten, dass wir uns intensiver um die psychischen Auswirkungen bei vielen belasteten Menschen in unserer Gesellschaft kümmern müssen. Da haben wir eine Initiative gestartet. Und wir fordern ebenso, dass die Politik nicht nachlassen darf bei ihren Aktivitäten gegen Populisten und Extremisten.

Ahting: Ökonomie ist zu einem großen Teil Psychologie: Deshalb müssen wir zurückkommen zu einer vertretbaren Normalisierung und einem langsamen hochfahren mit gutem Gesundheitsschutz und Vorsorge. Und zu einer guten gesundheitlichen Perspektive brauchen wir gerade in allen sensiblen Bereichen Coronatests. So wie es die Stadt Salzgitter nun in der Altenpflege einführt, ist es richtig und muss ausgeweitet werden.