Berlin. Krisen prägen Merkels vierte Amtszeit. Bei Landtagswahlen folgt die Quittung für die Große Koalition.

Als Bundesinnenminister Horst Seehofer (CSU) in einem Zeitungsinterview im September zu seinem heute schon legendären Satz anhebt und „die Migration als Mutter aller Probleme in Deutschland“ bezeichnet, ist er schon längst selbst zum größten anzunehmenden Problemfall für die Bundesregierung und Kanzlerin Angela Merkel (CDU) geworden. In diesem Satz kumuliert ein unionsinterner Streit, der das politische Berlin seit Sommer beschäftigt und auch den dritten Koalitionär, die SPD, mit hineinzieht. In diesen Tagen entsteht in der Öffentlichkeit ein Bild von Politikern, das mit Verdrossenheit noch freundlich umschrieben ist.

Schon jetzt ist absehbar, dass zwei Dauerthemen des Jahres 2018 auch die politische Agenda 2019 bestimmen werden: der Aufstieg der AfD, die mittlerweile in allen Landtagen und im Bundestag sitzt. Und damit eng verbunden der Umgang mit dem Thema Flucht und Migration, das die Rechtspopulisten nutzen, um Sorgen und Ängste in der Bevölkerung zu schüren.

Ein Rückblick: Schon die Koalitionsverhandlungen waren für Merkel, die Union und die SPD ein quälend langer Prozess. Eigentlich hatte der damalige SPD-Chef und Spitzenkandidat Martin Schulz direkt nach der Bundestagswahl im September 2017 verkündet, man werde auf keinen Fall in eine erneute Koalition mit der Union ziehen. Doch nach dem Scheitern von Jamaika ändert sich die Lage. Die Sozialdemokraten folgten nach langem internen Streit – angeführt wurden die Groko-Gegner von Juso-Chef Kevin Kühnert – dem Ruf der Union und begründeten das mit ihrer Verantwortung für das Land. Der einst gefeierte Schulz wird von Andrea Nahles als SPD-Vorsitzende ersetzt. Am 14. März wird die neue Regierung aus CDU, CSU und SPD vereidigt – doch vom im Koalitionsvertrag versprochenen „Aufbruch für Europa“ und der neuen „Dynamik für Deutschland“ ist zunächst nichts zu spüren.

Zwar bringt die Groko einige Reformen auf den Weg, doch in der Öffentlichkeit bleibt vor allem der Dauerstreit hängen. Kurz vor der Sommerpause scheitert Merkels Koalition fast an der Forderung von CSU-Chef Horst Seehofer, bereits in anderen Staaten registrierte Flüchtlinge an der deutschen Grenze zurückzuweisen. Auch im nationalen Alleingang will er dies tun, während für Merkel nur eine europäische Lösung in Frage kommt. Nur mit Ach und Krach kann der Konflikt beigelegt und die Unionsgemeinschaft im Bundestag erhalten werden. Zusätzlich befeuert wird der Streit durch ausländerfeindliche Ausschreitungen in Chemnitz und in diesem Zusammenhang relativierende Äußerungen des damaligen Verfassungsschutzpräsidenten Hans-Georg Maaßen. Dienstherr Seehofer stellt sich zunächst hinter Maaßen. Als Seehofer Maaßen Ende September dann doch aus dem Amt nehmen und ihn auf den höher dotierten Posten eines Staatssekretärs im Innenministerium wegloben will, stimmen Merkel und Nahles zunächst zu. Wenig später müssen sie kleinlaut zugeben, die Stimmung in der Bevölkerung falsch eingeschätzt zu haben. Aus der durch den Umgang mit Maaßen ausgelösten zweiten Regierungskrise innerhalb weniger Monate kommen Merkel und Nahles nur heraus, indem sie Fehler einräumen. Maaßen wird in den Ruhestand versetzt.

Die dramatischen Verluste von Union und SPD bei den Landtagswahlen in Bayern am 14. Oktober und in Hessen zwei Wochen später bringen in der Koalition und vor
allem in der Union eine Dynamik
in Gang, deren Ende noch nicht
absehbar ist. Dass etwas ins Rutschen gekommen war, muss Merkel spätestens am 29. September klar geworden sein. Gegen ihren ausdrücklichen Willen serviert die Unionsfraktion an diesem Tag in einer Kampfabstimmung ihren Vertrauten Volker Kauder als Fraktionschef ab – und wählt Ralph Brinkhaus zum Nachfolger.

Die Kanzlerin zieht selbst die Notbremse: Am 29. Oktober, einen Tag nach den Verlusten in Hessen, verkündet sie, dass sie nach 18 Jahren als CDU-Vorsitzende beim Parteitag im Dezember nicht erneut für dieses Amt kandidieren werde. Ihr folgt Annegret Kramp-Karrenbauer, die sich in einer Kampfabstimmung knapp gegen Ex-Unionsfraktionschef Friedrich Merz durchsetzen konnte.

Horst Seehofer wird Merkels Weg auch gehen müssen. Er hatte im Jahr 2018 mehrfach mit einem Rücktritt als CSU-Chef gedroht, diesen Schritt aber – für viele in seiner Partei bedauerlicherweise – nie vollzogen. Noch im Januar 2019 soll das nachgeholt werden. Sein designierter Nachfolger als CSU-Vorsitzender ist Markus Söder. Der bayerische Ministerpräsident hatte Seehofer zunächst immer wieder angetrieben, in der Migrationsfrage auf Konfrontation mit Merkel zu setzen. Als er jedoch merkt, dass es ihm im Landtagswahlkampf nicht sonderlich hilft, sondern im Gegenteil schadet, setzt er sich schnell von Seehofer ab und lässt ihn im Kritiker-Hagel alleine stehen.

Für den langjährigen Inhaber des Lehrstuhls für Internationale Beziehungen und Vergleichende Regierungslehre an der TU Braunschweig, Professor Ulrich Menzel, beweisen – bei aller berechtigten Kritik an der schlechten Performance der politischen Akteure – die jüngsten Landtagswahlergebnisse die strukturellen Veränderungen, die auf die deutschen Parteien zukommen. Entwicklungen, die in anderen europäischen Ländern schon vor Jahren eingeleitet worden seien. Den „alten Volksparteien“ droht die Ablösung durch neue Parteien, die sich an anderen gesellschaftlichen Konfliktlinien orientieren. „Die Grünen auf der einen und die AfD auf der anderen Seite sind die neuen politischen Repräsentanten der größer werdenden Milieus aus weltoffenen Kosmopolitischen und der sich abschottenden Kommunitaristen.“

So droht der SPD ein Niedergang wie anderen europäischen sozialdemokratischen Parteien. Die Grünen könnten bald den Anspruch haben, einen eigenen Kanzlerkandidaten zu stellen. Und die AfD könnte bei den Landtagswahlen in Ostdeutschland im Herbst 2019 stärkste Kraft werden.

Bei der CDU bleibt abzuwarten, ob es der neuen Vorsitzenden Kramp-Karrenbauer gelingt, eine „gespaltene Partei“ wieder zu einen, erklärt der Braunschweiger Politikwissenschaftler Menzel.