Berlin. Fast jeder hat in seinem Umfeld derzeit Corona-Fälle. Wie stark steigen die Zahlen? Und ist das ein Grund zur Sorge? Ein Überblick.

Die Kollegin ist der krank, auch der Nachbar liegt mit Fieber im Bett, Notbetreuung in der Kita. Immer wieder fällt aktuell das Wort „coronapositiv“. Auch wenn die meisten es anders als zu Pandemiezeiten wohl nicht mehr täglich akribisch verfolgen – das Infektionsgeschehen hat Fahrt aufgenommen. Sie ist da, die nächste Corona-Welle.

Eine deutsche Beobachtungsstudie geht von einer Inzidenz wie zu Hochzeiten der Pandemie aus. Die Zahlen des Robert-Koch-Instituts (RKI) liegen deutlich niedriger. Doch wie sind die Zahlen zu den aktuellen Corona-Fällen und zum allgemeinen Infektionsgeschehen zu lesen? Wurde das vielfach verkündete Ende der Pandemie etwa zu früh ausgerufen?

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Corona-Zahlen steigen – sind aber wenig aussagekräftig

Ein Blick auf die Corona-Zahlen zeigt: Lag die Sieben-Tage-Inzidenz pro 100.000 Einwohnerinnen und Einwohnern Anfang August laut Corona-Pandemieradar des Bundesgesundheitsministeriums noch bei 2, ist diese inzwischen wieder auf 28 angestiegen. Sie beruht auf den RKI-Meldezahlen.

Die dort angegebene Inzidenz könne man aber im Prinzip gar nicht verwenden, sagt Carsten Watzl, Generalsekretär der Deutschen Gesellschaft für Immunologie (DGfI). Der Grund: Es werde gar nicht mehr richtig getestet und Sars-CoV-2-Infektionen so meist auch nicht mehr gemeldet. Eine ganz andere Ausgangslage als zur Hochphase der Pandemie.

Nur die im Labor bestätigten Covid-19-Fälle fließen in die Statistik des RKI ein. Routinemäßig werden die Tests im Moment meist nur noch bei Klinikpatientinnen und -patienten mit Symptomen durchgeführt. Wobei Fachleute selbst dabei teils skeptisch sind.

Hospitalisierung und Auslastung der Krankenhäuser: Wie verlässlich sind die Corona-Zahlen?

Infektiologe Julian Schulze zur Wiesch vom Universitätsklinikum Hamburg-Eppendorf (UKE) vermutet, dass auch die sogenannte Hospitalisierungsinzidenz nur begrenzt aussagekräftig ist, also die Zahl, an der sich schwere Corona-Verläufe ablesen lassen. Gezählt werden hier Patientinnen und Patienten, die wegen einer Covid-19-Erkrankung ins Krankenhaus kommen oder dort positiv auf das Coronavirus getestet werden.

Aktuell liegt sie laut Corona-Pandemieradar bei 6,7. Ende 2022 erreichte die Inzidenz teilweise Werte über 16. Die coronabedingte Auslastung der Intensivbetten soll sich demnach auf 5,4 Prozent belaufen. „Hier wird es eine hohe Dunkelziffer geben“, meint Schulze zur Wiesch. Selbst im Krankenhaus würden viele Patienten gar nicht getestet, da kein Verdacht auf eine Corona-Infektion bestehe.

Julian Schulze zur Wiesch vom Universitätsklinikum Hamburg-Eppendorf.
Julian Schulze zur Wiesch vom Universitätsklinikum Hamburg-Eppendorf. © Universitätsklinikum Hamburg Eppendorf | SFB

Grund für Alarmismus sei das nicht, jedoch eine Mahnung, weiter wachsam zu sein. „Wir gehen aktuell von einem endemischen Virusgeschehen bei Covid aus, mit hohen Inzidenzen“, so der UKE-Infektiologe. „Ob sich bezüglich der Grundimmunisierung in der Bevölkerung ein Gleichgewicht eingestellt hat, wissen wir aber noch nicht.“

Studie aus Mainz: Corona-Inzidenz bei über 1800?

Auch um diesbezüglich Klarheit zu schaffen, versuchen Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler der Universitätsmedizin Mainz, sich mit der sogenannten SentiSurv-Studie der Dunkelziffer bei den Corona-Infektionen anzunähern. Die Forschenden analysieren wöchentlich Testergebnisse von 10.000 repräsentativ ausgewählten Erwachsenen aus Rheinland-Pfalz.

Für das Bundesland lag die Inzidenz demnach zum 22. November, als zuletzt Daten veröffentlicht wurden, bei 1847 – und damit nah an den bisherigen Höchstwerten aus Zeiten der Pandemie. Geht man davon aus, dass die Werte in ganz Deutschland ähnlich sind, entspräche das über 1,5 Millionen Neuinfektionen binnen einer Woche.

Besonders hoch ist die Zahl der Infizierten demnach bei den 25- bis 34-Jährigen. Für sie geben die Forschenden aus Mainz die Inzidenz mit 2226 an. Weniger stark betroffen sind den Zahlen zufolge die im Fall einer Infektion besonders gefährdeten Altersgruppen von 65 bis 74 (Inzidenz 1513) und über 75 Jahren (794).

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Eine Woche zuvor lag die Inzidenz über alle Altersgruppen hinweg noch bei 1998 – der Zenit scheint also vorerst überschritten. Darauf deuten auch weitere Zahlen des Bundesgesundheitsministeriums hin: Die bei Abwasseruntersuchungen nachgewiesene Viruslast war zuletzt (KW 44) ebenfalls geringer als noch Ende Oktober und Anfang November. Diese Entwicklung sollte aber aufgrund der wenigen Standorte, die in jener Woche ihre Werte gemeldet hatten, mit Vorsicht betrachtet werden.

Hohe Inzidenz: Wie ist die Corona-Lage in Deutschland wirklich?

Auch wenn sich die Corona-Fälle im Umfeld vieler Menschen aktuell häufen: „Das Gröbste haben wir aber hinter uns“, meint Immunologe Watzl. Die aktuell hohen Zahlen seien dabei kein Widerspruch. „Wir können heute ganz andere Inzidenzen aushalten“, ergänzt Schulze zur Wiesch. Auch laut RKI gibt es große Unterschiede zu den vergangenen Corona-Wintern:

  • Über drei Viertel der Menschen in Deutschland sind mindestens einmal gegen Corona geimpft. Selbst wenn sie sich infizieren, haben sie in der Regel weniger schlimme Krankheitsverläufe.
  • Ein Großteil der Bevölkerung war bereits mindestens einmal mit Sars-CoV-2 infiziert. Auch das führt zu einer gewissen Immunität und leichteren Verläufen.

Die Lage bleibt entspannt – doch Corona sollte nicht unterschätzt werden

Am Ende bedeuten die aktuellen Schätzungen durch Abwasserüberwachung oder die in Rheinland-Pfalz ermittelten hohen Zahlen nach Einschätzung der Experten zwei Dinge: zum einen, dass sich viele Menschen infizieren, diese aber wegen der Grundimmunität in der Bevölkerung selten schwer erkranken. „Viele haben sogar überhaupt keine Symptomatik“, ergänzt Immunologe Reinhold Förster von der Medizinischen Hochschule Hannover, Vorstand der DGfI.

Reinhold Förster von der Medizinischen Hochschule Hannover ist Vorstand der Deutschen Gesellschaft für Immunologie.
Reinhold Förster von der Medizinischen Hochschule Hannover ist Vorstand der Deutschen Gesellschaft für Immunologie. © Pressestelle/MHH | Karin Kaiser

Andererseits bedeute eine offizielle Hospitalisierungsrate von aktuell 6,7 Prozent aber auch, dass es immer noch Menschen gebe, die schwer erkranken. Eine Zahl, die das besonders verdeutlicht: Allein 2023 sind in Deutschland bislang über 16.000 Menschen infolge einer Covid-19-Erkrankung gestorben. Die klare Empfehlung von Infektiologe Christoph Spinner vom Universitätsklinikum rechts der Isar in München: „Chronisch Kranke, Menschen über 60 Jahre sowie Menschen im Umfeld chronisch Kranker sollten jetzt ihren Impfschutz gegen Influenza und Covid-19 auffrischen lassen.“

Auch darüber hinaus gelte es natürlich weiterhin, vulnerable Gruppen zu schützen, ergänzt Immunologe Watzl. „Aber auch als geimpfte Person kann einen Corona immer noch für drei bis fünf Tage mit Fieber ins Bett verfrachten. Das darf man nicht vergessen.“ Aktuell zirkulieren weiter verschiedene Omikron-Varianten – meist deutlich ansteckender als ihre Vorgänger. Der Anteil der Virusvariante EG.5 lag in der zweiten Novemberwoche bei knapp 46 Prozent, wie das RKI derzeit berichtet. Der Anteil der Variante BA.2.86 stieg demnach auf knapp 18 Prozent.

Atemwegserkrankungen: Dieser Erreger ist deutlich häufiger als Corona

Aber: Die mit Abstand häufigsten Erreger seien aktuell Rhinoviren, die Erkältungen auslösen, sagt Infektiologe Spinner. „Sars-CoV-2 wird derzeit nur in etwa jeder fünften Probe mit Erregernachweis festgestellt.“ Aus seiner Sicht kommt es für die meisten Menschen mit Symptomen einer Atemwegserkrankung gar nicht so sehr darauf an, den Atemwegserreger zu kennen.

Christoph Spinner ist Oberarzt für Infektiologie und Leiter der Stabsstelle Medizin & Strategie am Klinikum rechts der Isar der Technischen Universität München.
Christoph Spinner ist Oberarzt für Infektiologie und Leiter der Stabsstelle Medizin & Strategie am Klinikum rechts der Isar der Technischen Universität München. © Klinikum rechts der Isar/TUM | Falk Heller

„Bei Atemwegsinfektionen sollte pragmatisch gelten: Wer krank ist, bleibt zu Hause!“, so Spinner. Das betonen auch die anderen Experten und appellieren daran, durch vernünftiges Verhalten die Ausbreitung von Krankheitserregern und Viren einzudämmen.

„Atemwegsinfektionen gehören generell zu den häufigsten infektionsbedingten Erkrankungen“, erklärt Spinner. Derzeit steige deren Zahl. Die Zahl der Menschen, die momentan wegen schwerer Atemwegsinfektionen im Krankenhaus behandelt werden müssen, bezeichnet der Experte jedoch als „stabil niedrig“.

Es ist also derzeit nicht absehbar, dass Deutschland auf einen weiteren, schweren Corona-Winter zusteuert. Vielmehr ist es für die Jahreszeit normal, dass die Zahl der Atemwegsinfektionen zunimmt. Von gänzlicher Sorglosigkeit rät er genau wie seine Kollegen dennoch ab.

Erneute Corona-Regeln? Experte geht nicht davon aus

„Ich gehe nicht davon aus, dass wir noch einmal eine vorgeschriebene Maskenpflicht oder andere Hygienemaßnahmen verpflichtend für alle brauchen“, sagt Carsten Watzl. Aber auch da sind sich die Experten einig: Wenn man infiziert ist – egal ob Corona, Schnupfen oder mit einem anderen Atemwegsinfekt – sollte man sich freiwillig von anderen fernhalten und bei Kontakt zu anderen aus Höflichkeit und um die Zahlen nicht noch weiter nach oben zu treiben, freiwillig Maske tragen – etwa beim Arzt, in Bus und Bahn oder Supermarkt. Das sei auch für Nichtinfizierte eine gute Idee. Auch der angepasste Impfstoff müsse noch stärker genutzt werden.

Denn auch wenn das Krankheitsgeschehen mit vorwiegend leichteren Verläufen selbst kein Grund zur Beunruhigung sei, sei die Lage dennoch nicht zu unterschätzen, erklärt Infektiologe Schulze zur Wiesch. „Die nächsten Wochen werden weiter gekennzeichnet sein von Krankheitsausfällen, kleineren Ausbrüchen und den daraus resultierenden Störungen des Allgemeinwesens.“

Hinzu kommt laut Förster: „Corona-Welle hin oder her, eine große Grippewelle steht uns möglicherweise erst noch bevor.“ So habe man im vergangenen Dezember schlagartig einen „Riesenpeak“ gesehen. Förster rechnet daher mit Blick auf Krankheitsausfälle beim medizinischen Personal mit einer indirekten Belastung – auch des Gesundheitssystems – und rät mit Blick auf Influenza zur Impfung.