Hannover. In Krisenzeiten seien die Menschen immer besonders anfällig für alle Formen von Irrationalität, sagt Franz Rainer Enste.

Der Antisemitismusbeauftragte des Landes Niedersachsens, Franz Rainer Enste, hat vor antisemitischen Verschwörungstheorien in der Corona-Krise gewarnt. Derzeit im Internet kursierende Theorien bezeichnete Enste in einem Interview der Deutschen Presse-Agentur als „völlig unsäglich“.

Herr Enste, wenn es größere Katastrophen oder Krisen gibt, geistern schnell oft antisemitische Verschwörungstheorien herum. Trifft das auch für die gegenwärtige Corona-Krise zu?

Ja, solche Theorien findet man im Internet durchaus. Es ist erschreckend, aber letztlich auch nicht verwunderlich, dass jetzt wieder antisemitische Verschwörungstheorien herumgeistern. So wird das Coronavirus etwa als eine gegen die westlichen Staaten oder gegen die muslimische Welt gerichtete jüdische Biowaffe bezeichnet. Das ist natürlich völlig unsäglich und angesichts der uns alle zurzeit bedrückenden riesigen Probleme nicht sonderlich hilfreich.

Wie erklären Sie sich das?

In Krisenzeiten sind die Menschen offenbar immer besonders anfällig für alle Formen von Irrationalität. Wir müssen daher sehr genau darauf aufpassen, dass sich der Mechanismus, in Krisen die Schuld bestimmten Bevölkerungsgruppen zuzuweisen, nicht - wieder - Bahn bricht.

Können Sie konkret dagegen etwas tun?

Wir müssen den Formen von Hass und Hetze im Internet immer stärker begegnen und dürfen das Netz nicht den Rechtsradikalen überlassen. Wir sind aber schon ein gutes Stück weiter, wenn - wie mit der Änderung des Netzwerkdurchsetzungsgesetzes vorgesehen - die Identifizierbarkeit von Tätern erleichtert werden wird.

Haben Sie Sorge, dass Ihr Anliegen - der Kampf gegen Judenfeindlichkeit - an Bedeutung verliert, weil es auch in der Politik derzeit fast nur um das Coronavirus geht?

Das glaube ich nicht. Das kann ich auch angesichts der in der Tat sehr großen Wachsamkeit im gesamten politischen Umfeld so sagen. Natürlich wird derzeit alles von Corona überlagert, aber das grundsätzliche gesellschaftliche Thema bleibt ja bestehen.

Das Justizministerium hat in den vergangenen Tagen auf Projektmittel von 75 000 Euro zur Vorbeugung von Antisemitismus hingewiesen. Das ist auch angesichts der Summen, die derzeit bewegt werden, nicht viel Geld.

Es geht um die Erhebung bereits bestehender Modelle im zivilgesellschaftlichen Bereich im Kampf gegen Antisemitismus und um ein Monitoring antisemitischer Vorfälle, um die Dunkelziffer zu minimieren und Täterprofile zu erfassen. Ja, das ist zunächst einmal ein sehr kleiner Ansatz. Wir müssen später sehr genau prüfen, ob dieser Haushaltsansatz reicht oder nicht. Wir müssen aber auch sehen, dass es in diesem Bereich weitere von Bund und Land finanzierte Förderungen gibt.

Sie sind seit fünf Monaten Antisemitismusbeauftragter des Landes Niedersachsen. Haben Sie Ihre bisherigen Ziele erreicht?

Derzeit bin ich natürlich auch im Standby-Modus. Ich wollte im März eigentlich so richtig loslegen. Ich sollte etwa bei der Woche der Brüderlichkeit die Festrede halten und bei einem Antisemitismus-Seminar der Polizei zu dem Thema referieren. Es gab alle möglichen anderen Gesprächstermine, die jetzt aber natürlich alle erstmal auf Eis gelegt sind.

Und wenn Sie die jüngste Corona-bedingte Entwicklung mal ausklammern?

Ich habe Dutzende Gespräche auf allen möglichen Ebenen geführt. Dabei konnte ich einen intensiven Kontakt zu den beiden jüdischen Landesverbänden aufbauen. Auch mit Sicherheitsbehörden und Vertretern der Zivilgesellschaft habe ich mich intensiv ausgetauscht. Mir war es sehr wichtig, persönlichen Kontakt aufzubauen.

Oft wird diskutiert, ob der Besuch einer KZ-Gedenkstätte fester Bestandteil des Schulunterrichts werden soll. Wie ist Ihre Meinung?

Ich halte das für unbedingt erforderlich. Wir haben mit Bergen-Belsen und vielen anderen Gedenkstätten die Möglichkeit, die Erinnerungskultur vor Ort zu fördern. Das sollten wir gerade in diesen Zeiten nutzen. Gerade in Bergen-Belsen sind großartige Konzepte entwickelt worden. Es wäre ein unverantwortlicher Verlust, wenn man das dahinter stehende Wissen nicht weiter transportieren würde.

In Niedersachsen wurde im vergangenen Jahr deutlich häufiger wegen judenfeindlicher Straftaten ermittelt. Heißt das auch, dass es mehr Taten gab oder werden sie häufiger zur Anzeige gebracht, weil mehr Menschen genau hingucken?

Es gibt eine bedenkliche Zunahme der Taten. Die Aufgabe, sehr wachsam zu sein, wird nicht kleiner. Eine Entwicklung stimmt mich aber optimistisch: In der Corona-Krise erleben wir große Wellen von gegenseitigem Respekt, Anteilnahme und Achtsamkeit. Ich hoffe, dass davon etwas bleibt.

Zur Person

Franz Rainer Enste (66) hat im November 2019 die neu geschaffene ehrenamtliche Position des Antisemitismusbeauftragten des Landes Niedersachsen übernommen. Der Jurist arbeitete in den 90er Jahren als Sprecher des Landtags in Hannover und war von 2010 bis 2013 als Regierungssprecher unter dem damaligen Ministerpräsidenten David McAllister (CDU) in der Staatskanzlei tätig.

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