„Schulen müssen heute viel mehr leisten als noch vor der Jahrtausendwende. Doch es fehlen überall Lehrkräfte. Der Beruf muss attraktiver werden.“

Die neuen Schulranzen stehen seit Monaten im Kinderzimmer. Einer ist lila mit weißen Sternen und einem großen Einhorn-Sticker auf der Vorderseite, der andere grün-schwarz mit einem Panther-Kopf. Immer wieder holen unsere Zwillinge sie unter den Schreibtischen hervor, laufen mit ihnen stolz und singend im Zimmer herum: „ABC olé“. Bücher einpacken, Hefte, Stifte und Etuis sortieren – das ist zu einem beliebten Spiel geworden und selbst die Optik der Brotdose wird jetzt wichtig. Die mit dem Feuerwehrmann-Sam-Motiv? Hat ausgedient. „Wir brauchen etwas Cooleres“, sagt der Sechsjährige. Seine Schwester nickt eifrig: „Wir sind ja keine Kleinkinder mehr.“ Stimmt. Die Kleinen werden groß.

Unsere kleinen Großen stehen jetzt vor dem nächsten Abschnitt ihres Lebens und blicken mit noch banger Ungewissheit, aber auch mit kindlicher Vorfreude auf die Zukunft. Sie gehören zu jenen rund 85.000 Schülerinnen und Schülern, die heute in Niedersachsen eingeschult werden. 85.000 Kinder, die das erste Mal in einer Aula zusammensitzen, ein Klassenzimmer betreten, über Schulhöfe laufen. Es sind bis zu 12.000 Jungen und Mädchen mehr als im Schuljahr davor. Weil es ein geburtenstarker Jahrgang ist, Flüchtlinge zugezogen sind und Kinder auf Wunsch der Eltern oder Empfehlung des Schularztes im vorigen Jahr nicht eingeschult wurden.

Es fehlen Fachkräfte – und zwar an allen Ecken und Enden

Nach Jahren des Geburtenknicks ist das eine gute Nachricht. Dennoch gibt die Entwicklung auch Anlass zur Sorge, denn es fehlen Fachkräfte – und zwar an allen Ecken und Enden. Nach Einschätzungen der Bildungsverbände müssten bis zu 10.000 „Schulbeschäftigte“ allein in Niedersachsen eingestellt werden, damit wir von einer guten Unterrichtsversorgung und Betreuung sprechen können. Davon sind wir aber weit entfernt: Von den für das neue Schuljahr ausgeschriebenen 2000 Stellen für Lehrkräfte sind nach Angaben des Landes nur rund 75 Prozent besetzt. Besonders dramatisch ist die Lage an den Grundschulen, also dort, wo wichtige Weichen für die Schullaufbahn gestellt werden, wo es besonders darauf ankommt, gute Startbedingungen für den anschließenden Bildungswettbewerb herzustellen.

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Gute Startbedingungen? Kinder müssen die gleichen Möglichkeiten haben etwas zu lernen, in der Schule gut abzuschneiden und später einen Beruf zu finden, der ihnen gefällt – egal in welcher Familie sie aufwachsen. Nach der ersten Pisa-Studie im Jahr 2000 und dem anschließenden Schock hat sich zwar viel getan: Doch noch immer beeinflusst die soziale Herkunft die Chancen der Schülerinnen und Schüler erheblich. Von 100 Arbeiterkindern, die eine Grundschule besuchen, sitzen einer Studie des Stifterverbands und der Unternehmensberatung McKinsey zufolge später nur 27 in einem Hörsaal. Dagegen haben Kinder mit studierten Eltern eine dreimal so große Chance selbst zu studieren. Auch das Gehalt der Eltern spielt eine Rolle: Wer nicht so viel Geld verdient, kann seinen Kindern oft keinen eigenen Computer oder kein Tablet kaufen.

Unterrichtsstunden fallen immer wieder aufgrund fehlender Lehrkräfte aus

Gerade während der Corona-Zeit wurden die Folgen sichtbar, wenn Schülerinnen und Schüler beim Homeschooling nicht richtig mitmachen konnten. Verpasste Lerninhalte holen sie kaum oder nur schwer auf. Auch können sich nicht alle Eltern teure Nachhilfestunden leisten, damit Kinder die Rückstände ausgleichen können. Und dann gibt es noch die Sprachprobleme, die besonders Jungen und Mädchen aus Flüchtlingsfamilien haben. Wie können Lehrer die Defizite individuell auffangen, wenn Unterrichtsstunden aufgrund fehlender Lehrkräfte immer wieder ausfallen?

Hier werden Kinder an einer Grundschule in Brandenburg gegrüßt. Auch in Niedersachsen starten die Erstklässler jetzt ins neue Schuljahr.
Hier werden Kinder an einer Grundschule in Brandenburg gegrüßt. Auch in Niedersachsen starten die Erstklässler jetzt ins neue Schuljahr. © ZB | Bernd Settnik

Schulen müssen heute viel mehr leisten als noch vor der Jahrtausendwende – es gibt ein Recht auf inklusive Bildung, aber im Schulalltag ist es oft nicht möglich, Schülerinnen und Schüler mit Handicaps so zu fördern, dass sie ihre persönlichen Potenziale voll ausschöpfen können. Dazu kommt die Integration von Flüchtlingskindern, der digitale Wandel: Immer noch müssen viele Schulen ohne W-Lan, ohne digitale Geräte und ohne Medienkompetenz der Lehrer auskommen. Auch der Ausbau des Ganztagsangebots bleibt eine Herkules-Aufgabe. Kinder, die ab dem Schuljahr 2026/27 eingeschult werden, bekommen sogar einen Rechtsanspruch auf Ganztagsbetreuung in der Grundschule. Für berufstätige Eltern sind solche Angebote wichtig, weil sie ihre Kinder viel länger betreut wissen und beruhigt arbeiten gehen können. Aber um Lern- und Entwicklungserfolge zu bewirken, um gezielt zu fördern, müssten die Angebote auch Inhalte bieten, die mit dem Unterricht am Vormittag verknüpft sind. Das ist aber nur selten der Fall.

Grund-, Haupt- und Realschullehrer müssen besser bezahlt werden

Wo wir wieder beim Lehrkräftemangel wären: Wie soll der Ausbau gelingen, wenn nicht genug Fachkräfte da sind? Nicht nur im Ganztag fehlt es deutlich an Personal, auch bei den Kitas ist die Lücke riesengroß – ein Problem, das sich seit Jahren abzeichnet. Die Bundesländer haben also viele Hausaufgaben zu erledigen: mehr Lehrerinnen und Lehrer ausbilden, Prämien und Anreize schaffen, für ein Arbeitsumfeld sorgen, das Raum für Projekte oder regelmäßige Weiterbildungen lässt und den Beruf für den Nachwuchs attraktiver macht. Und nicht zuletzt müssen Grund-, Haupt- und Realschullehrer besser bezahlt werden – denn die Verantwortung, die sie tragen, ist riesengroß. Reden wir hier nicht von der wichtigsten Berufsgruppe überhaupt? Wie kaum eine andere entscheidet sie über unser aller Zukunft. Sie hat großen Einfluss auf unsere Lebenschancen, stellt die Weichen für großes individuelles Glück oder tragisches Scheitern. Über gesellschaftliches Weiterkommen.

Apropos Verantwortung: Wir Eltern sind mindestens genauso aufgeregt wie unsere Erstklässler. Wir sprechen immer von einem großen Abschnitt für die Kinder – doch auch für uns ist es ein großer Schritt. Wir müssen lernen, unsere Kinder ein Stück weit loszulassen, Vertrauen in sie zu haben. Sie werden selbstständiger, können und müssen jetzt viel mehr selbst entscheiden. Und es liegt auch ganz viel an uns, wie sie durch die Schule kommen, wie wir sie beim Lernen und Großwerden unterstützen. Wer alles auf die Politik oder auf die Schulen schieben will, macht es sich zu leicht. Wir können viel fordern, doch es ist auch unsere Aufgabe zu fördern – soweit es in unseren Möglichkeiten steht.

Unsere Zwillinge haben die Tage runtergezählt bis zur Einschulungsfeier an diesem Samstag: Sie haben jeden Tag eine Bären-Tatze auf einem Blatt Papier ausgemalt, das die Schule vor einem Monat geschickt hat. Sie kommen in die Panda-Klasse. Der Panda ist das Lieblingstier unseres Sohnes.

Ein gutes Omen.