Ich möchte, dass Kirchengemeinden ihren Sozialraum neu wahrnehmen und dabei die Nöte der Menschen in den Blick nehmen, die um sie herum leben.

Protestanten und Katholiken sind Geschwister im Glauben. Sie gründen sich auf Gott als ihren gemeinsamen Vater. Sie leben aber in verschiedenen Kirchen. Wie in einer Patchwork-Familie erleben sie beides gleichzeitig: Verbindendes und Trennendes. Diese Spannung bildet sich im Reformationstag ab.

Für die einen erinnert er an die Erneuerung der Kirche, für die anderen an ihre Spaltung. Die einen verbinden mit dem Reformationstag Aufbruch, die anderen den Schmerz der Kirchentrennung. Für die einen ist Martin Luther ein Glaubensheld, für die anderen ist er verantwortlich für Konflikte und Antisemitismus.

Ich kann mir den Reformationstag deshalb nicht als protestantische Jubelfeier vorstellen, sondern nur als ökumenisches Fest, das dazu einlädt, die Reformbewegungen des 16. Jahrhunderts in ihrer ganzen Vielfalt samt den damit verbundenen Spannungen und Widersprüchen wahrzunehmen. Es gilt, Leistungen zu würdigen, Schattenseiten kritisch zu benennen und Impulse für die Gegenwart herauszuarbeiten.

Ich bin aus diesem Grund außerordentlich froh, dass Bischof Heiner Wilmer aus Hildesheim unserer Einladung folgt und am 31. Oktober im Braunschweiger Dom predigt. Auf diese Weise können wir in Braunschweig einen starken ökumenischen Akzent setzen. Mit dem Besuch einer Delegation unserer lutherischen Partnerkirche aus Japan wird außerdem deutlich, dass die Reformation kein nationales Ereignis war, sondern weltweite Bedeutung hat. Zugleich halte ich die Trennung der Konfessionen nicht für das größte Problem im Blick auf die Einheit der Kirche.

Viel bedrohlicher für den Zusammenhalt der Christenheit sind die Tendenzen zur sozialen Selbstabschließung innerhalb der Konfessionen. Immer wieder erlebe ich Gemeinden, die sich selbst genug sind, die sich um sich selbst drehen und dabei den Blick für die Menschen verlieren, die um sie herum leben. Ich habe als Bischof deshalb ein Themenjahr „Diakonie“ gestartet. Ich möchte, dass Kirchengemeinden ihren Sozialraum neu wahrnehmen und dabei die Nöte der Menschen in den Blick nehmen, die um sie herum leben. Ich möchte, dass sie sich fragen, was sie für andere tun können.

Und ich wünsche mir, dass Kirche und Diakonie eng zusammenarbeiten. Ich werde deshalb nach dem Gottesdienst am Reformationstag einen „diakonischen Rundgang“ durch die Braunschweiger Innenstadt machen. Er endet in der St. Andreaskirche, in der die Ausstellung „Kunst trotz(t) Ausgrenzung“ gezeigt wird. Sie erteilt eine künstlerische Absage an Fremdenfeindlichkeit und Rechtspopulismus, an Ideologien von angeblicher Ungleichheit und Ungleichwertigkeit von Menschen. Sie macht uns Mut, dass wir uns kreativ mit der Gestaltung einer offenen, vielfältigen und inklusiven Gesellschaft auseinandersetzen.

In diesem Sinne wünsche ich uns allen einen fröhlichen und nachdenklichen Reformationstag.