„Immer mehr Sozialdemokraten scheinen zu spüren, dass die Verluste nicht nur der Regierungsbeteiligung unter einer dominanten Kanzlerin Merkel zuzuschreiben sind.“

„Regieren ist der Ernst des Lebens. Nicht nur dessen Kommentierung.“ Wolfgang Roth

Der weitblickende Politikprofessor Ulrich Menzel betrachtet das Berliner Koalitionsdrama mit Nachsicht. „Ich werde mich nicht am beliebten Politiker-Bashing beteiligen“, sagte er am Donnerstagabend beim Orakel-Blick unserer Zeitung in die Zukunft. Seine Milde hat gute Gründe. Die beiden größten Parteien stehen unter Druck: Union und SPD kassierten am Wahlabend massive Missfallensbekundungen des Souveräns. Sie müssten sich neu finden, programmatisch wie personell. Und tun sich schwer damit.

Wer mit Karacho gegen die Wand gelaufen ist, braucht ein Weilchen, bis er klar sieht. Die SPD im Bund hat damit wesentlich größere Probleme als die CDU in Niedersachsen, die nach ihrer Niederlage bei der Landtagswahl erstaunlich rasch handlungsfähig war. Allerdings muss die in Partnerschaft und Wettbewerb mit der Weil-SPD nun zeigen, was sie für die Bürger zu leisten versteht.

SPD-Chef Schulz empfiehlt nun Sondierungen über eine Große Koalition mit der Union. Möge der gestrige Tag das Ende der Hängepartie markieren – und des Eiertanzes im Sinne des „Wir wollen nur ein bisschen regieren“, auch bekanntgeworden als „Kooperationskoalition“.

Die SPD hat in den Jahren des gemeinsamen Regierens mit der Union Substanz verloren. Nur aus ihren Hochburgen, Niedersachsen vor allem, kann sie noch den Anspruch ableiten, Volkspartei zu sein. Aber: Sie hat im Verlauf ihrer langen, stolzen Geschichte noch immer ihre Verantwortung wahrgenommen. Und immer mehr Sozialdemokraten scheinen zu spüren, dass die Verluste der SPD keineswegs nur der Regierungsbeteiligung unter einer raffiniert-dominanten Kanzlerin Angela Merkel zuzuschreiben sind.

Das Problem vieler SPD-Landesverbände beginnt früher. Häufig prägen Berufspolitiker das Bild, die nur flüchtigen Kontakt zum alltäglichen Leben und Arbeiten der normalen Bürger in unserem Land haben. Funktionäre vom Schlage einer Andrea Nahles gerieren sich als Volkstribune, aber sie sind es nicht.

Die SPD hätte vor diesem Irrweg gewarnt sein müssen: Die Entwicklung der bayerischen Landespartei zeigt seit Jahrzehnten, welche Folgen die Emanzipation vom Wähler hat. Die Parlamentsarbeit der bayerischen Landespartei wird fast ausschließlich von Listenabgeordneten wahrgenommen. Sie haben nie, im Werben von Haus zu Haus, ein Direktmandat erkämpft, das sie dann auch über die Legislaturperiode hinweg zu rechtfertigen hatten. Nicht zufällig vertreten diese Abgeordneten überdurchschnittlich häufig eine stramm linke, nicht selten esoterisch-ideologische Politikrichtung, hinter der sich kaum mehr als ein Fünftel der bayerischen Bürger versammeln mochte. Die frühere Bundestagsabgeordnete Sigrid Skarpelis-Sperk, eine der schärfsten Kritikerinnen der Agenda 2010, steht exemplarisch für eine Partei, die sich aus der Ideologie und nicht aus dem Wählerauftrag einer potenziellen Klientel definiert. Die ist durchaus bürgerlich und materiell gut versorgt.

In unserer Region ist die Partei besser geerdet. „Von uns ist jeder in zehn, zwölf Vereinen. Das kriegt man schon mit, was die Leute denken“, sagt ein erfolgreicher Kommunalpolitiker. Es wäre ein spannendes sozialwissenschaftliches Projekt, die Korrelation zwischen Wahlergebnissen und gesellschaftlichem Engagement der politisch Aktiven zu messen.

Auch ohne wissenschaftlichen Hosenboden sei eine Prognose gewagt: Das Schicksal der SPD wird sich weniger an der Großen Koalition entscheiden als an der Fähigkeit, Wurzeln im Alltag der Bürger zu schlagen und zu einer Politik zurückzukehren, die sich aus diesen Wurzeln nährt. Parallel zum Ja oder Nein steht die SPD vor einer grundlegenden Richtungsentscheidung.

Wie viel Optimismus darf ein Demokrat hegen, der diese Partei für einen notwendigen Pfeiler unserer Republik hält? Dass die Einheitskrankenversicherung, die die SPD anheimelnd „Bürgerversicherung“ nennt, neuerdings zur Conditio sine qua non der Regierungsbildung erhoben wird, stimmt skeptisch. Erfolg reimt sich nicht auf das Parteitags-Krähen Andrea Nahles’: „Bätschi, sag ich dazu nur. Und das wird ganz schön teuer.“

Zweifellos ist die Zukunft unseres Gesundheitssystems ein wichtiges Thema. Die meisten Wählerinnen und Wähler dürften sich aber wenig für ideologisch aufgeladenes Imponiergehabe interessieren. Sie wird man nicht gewinnen, indem man die private Krankenversicherung abschafft, die – gerade in wirtschaftlich weniger attraktiven Regionen – viele Arztpraxen über Wasser hält. Diese Bürger wollen, dass unser Gesundheitssystem für sie da ist, wenn sie es brauchen. Sie ärgern sich, wenn sie bei ihrem Arzt vor verschlossenen Türen stehen. Und sie haben kein Verständnis, wenn in Krankenhäusern Pflegepersonal so weit überlastet wird, bis es selbst das medizinisch Notwendige kaum noch leisten kann. Die Bürgerversicherung würde daran nichts ändern. Statt die Ideologie-Karte zu ziehen, könnte sich Politik an solche Missstände herantrauen. Der Versorgungsqualität würde es dienen. Und es würde den Bürgern zeigen, dass die Politik tatsächlich verstanden hat.

Wenn die SPD sich auf die Interessen der Menschen besinnt, die sie vor wenigen Jahren noch gewählt hätten, kann die Regierungsbeteiligung ihre größte Chance werden. Tut sie es nicht, wird der Abstieg weitergehen. Dagegen hilft auch kein Rückzug in die Opposition.