Braunschweig. Nur wenige steigen wirklich vom Auto auf Bus und Bahn um. Braunschweiger Verkehrspsychologin: Verkehrswende schafft man nicht in drei Monaten.

Die Auswertungen laufen noch. Bei vielen Studien sind noch nicht einmal die Daten fertig erhoben oder Befragungen abgeschlossen. Trotzdem wird bereits über Erkenntnisse und Schlussfolgerungen aus dem 9-Euro-Ticket diskutiert: Erfüllt es die Erwartungen? Und wie soll es im September weitergehen, wenn die Maßnahme ausläuft, mit der die Bundesregierung einen Teil der gestiegenen Energiekosten abfedern will? Auch an der TU Braunschweig wird derzeit zur 9-Euro-Fahrkarte geforscht – zu ihrer Nutzung, aber auch zu den Erwartungen und Bewertungen der Menschen. Erhoben wird das Ganze in einer mehrstufigen Befragung. „Abschließende Ergebnisse können wir erst liefern, wenn die Studie beendet ist“, sagt die Initiatorin und Studienleiterin Dr. Anja Huemer unserer Zeitung. Dennoch erklärt die Verkehrspsychologin sich bereit, einige vorläufige Erkenntnisse aus anderen Studien einzuordnen.

Extratouren mit 9-Euro-Ticket

Fest steht schon jetzt: Das 9-Euro-Ticket hat zu einer deutlich gesteigerten Nachfrage nach Bus und Bahn geführt. „Das Ticket führt zu einer höheren Nutzung des Öffentlichen Verkehrs, aber vor allem selektiv auf bestimmten Strecken – sogar soweit, dass dort der Verkehr zusammenbricht“, sagte Christian Böttger, Bahn-Experte an der Hochschule für Technik und Wirtschaft Berlin (HTW) der Deutschen Presseagentur (dpa). Eine Auswertung von Mobilfunkdaten durch das Statistische Bundesamt habe Anfang Juli ergeben: „Im Juni 2022 lagen die bundesweiten Bewegungen im Schienenverkehr im Schnitt 42 Prozent höher als im Juni 2019.“ (Siehe Grafik unten.)

Allerdings ermittelte der Verband Deutscher Verkehrsunternehmen (VDV) in einer laufenden Studie, dass rund ein Viertel der im ÖPNV angetretenen Fahrten ohne das 9-Euro-Ticket gar nicht gemacht worden wäre. Dies deckt sich mit ersten Ergebnissen einer Studie aus dem Großraum München, die die Bewegungsdaten Hunderter Teilnehmer auswertet. Sie kam zum Schluss, dass 35 Prozent der Probanden häufiger mit Bus und Bahn fuhren – aber nur 3 Prozent ihr eigenes Fahrzeug seltener nutzten.

„Keine umweltpolitische, sondern sozialpolitische Maßnahme“

Die Verkehrspsychologin Anja Huemer, TU Braunschweig, sagt: „Das 9-Euro-Ticket war ja auch keine umweltpolitische, sondern eine sozialpolitische Maßnahme.“
Die Verkehrspsychologin Anja Huemer, TU Braunschweig, sagt: „Das 9-Euro-Ticket war ja auch keine umweltpolitische, sondern eine sozialpolitische Maßnahme.“ © TU Braunschweig

Die relativ gering erscheinende Umsteigerquote von 3 Prozent kommt für die Braunschweiger Forscherin Huemer nicht unerwartet. Allerdings möchte sie diese Zahl auch nicht kleinreden. Ein massenhafter Umstieg vom Auto auf Bus und Bahn sei nicht zu erwarten gewesen, erklärt sie: „Das 9-Euro-Ticket war ja auch keine umweltpolitische, sondern eine sozialpolitische Maßnahme.“ Angesichts des parallel geltenden Tankrabatts seien 3 Prozent keine zu vernachlässigende Größe. Außerdem verweist sie wie die Autoren der Münchener Studie darauf, dass in der bayerischen Hauptstadt im Juni üblicherweise eine Zunahme des Autoverkehrs zu verzeichnen ist. Umso bemerkenswerter sei eine – wenn auch moderate – Abnahme. Auch eine Auswertung des Verkehrsdatenspezialisten „TomTom“ im Auftrag der dpa hatte in der ersten Phase des 9-Euro-Tickets auf einen Rückgang von Staus in großen deutschen Städten hingedeutet.

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Eine radikale Änderung des täglichen Verhaltens sei nicht zu erwarten gewesen, hatte auch der Leiter der Münchner Studie, Klaus Bogenberger von der TU München, seine vorläufigen Ergebnisse bei ihrer Vorstellung im Juli eingeordnet. Er zog ein positives Zwischenfazit. „Das wichtige Ergebnis ist: Viele haben die öffentlichen Verkehrsmittel in ihren Alltag integriert.“

Studie: 3000 Teilnehmer, davon rund 500 aus unserer Region

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Grafik-Diagramm Nr. 104392, Hochformat 110 x 120 mm, "Mobilität nach Verkehrsart im Vergleich zu 2019 (Wiederholung)", Redaktion: Schaller, Grafik: Bolte © dpa | dpa-infografik GmbH

Huemer warnt vor überzogenen Erwartungen an das 9-Euro-Ticket. „Nur mal für drei Monate Bus und Bahn billiger zu machen, das wird sicher keine Verkehrswende bringen“, sagt sie im Gespräch mit unserer Zeitung. Trotzdem stellt sie aufgrund der Zwischenbefunde der noch laufenden Studie eine große Aufgeschlossenheit gegenüber einem günstigen ÖPNV fest. Dies gehe aus den vorab geäußerten Erwartungen der rund 3000 Teilnehmer, davon rund 500 aus unserer Region, hervor. Nun, so Huemer, folge die Probe aufs Exempel, wenn in einer zweiten Erhebung – diese läuft gerade an – die tatsächliche Nutzung abgefragt wird. „Dann werden wir sehen, ob die Ankündigungen, das Ticket für bestimmte Zwecke zu nutzen, auch wahr gemacht werden.“ Schon jetzt deutet einiges darauf hin.

In der Vorab-Befragung hatten viele Probanden der Braunschweiger Studie erklärt, vor allem für Wege zu Freizeitaktivitäten (62 Prozent der Befragten) und für Reisen (52 Prozent) von anderen Verkehrsmitteln auf den ÖPNV umsatteln zu wollen. 53 Prozent wollten sogar zusätzliche Reisen mit Bus und Bahn unternehmen. Für alltägliche Wege wie zur Arbeit und zum Einkaufen wollten dagegen nur 30 beziehungsweise 10 Prozent umsteigen. Dies scheint sich nun zu bestätigen. Aus der Mobilfunkdaten-Erhebung des Statistischen Bundesamts geht hervor, dass die Bahn-Nutzung im Juni vor allem an den Wochenendtagen besonders stark zugenommen hat – deutlich stärker als unter der Woche, was auf eine deutlich gestiegene Freizeit-Nutzung schließen lässt.

Größenverhältnisse entscheidend

Bei der Debatte über die Verschiebungen lenkt Huemer den Blick auch auch die Größenverhältnisse: So habe der Berufsverkehr insgesamt einen viel größeren Anteil am Verkehrsaufkommen als etwa der Wochenendreiseverkehr. „Wenn extrem viele Menschen im Schnitt fünf Tage die Woche jeweils zur Arbeit und zurück fahren, macht ein Minus von drei Prozent schon deutlich mehr aus, als wenn viele Leute bei ihrem Wochenendausflug, den sie aber ohnehin nur einmal im Monat machen, von Auto auf den Regionalzug umsteigen – obwohl die prozentuale Steigerung dadurch hier deutlich größer ausfällt.“

Das für den langfristigen der Verkehrswende in erster Linie der Preis der ÖPNV-Tickets entscheidet, glauben ohnehin die wenigsten Forscher. „Wenn wir wirklich stabiles Wachstum wollen im Öffentlichen Verkehr, dann müssen wir vor allem die Kapazitäten entsprechend erweitern“, so HTW-Experte Böttger.

TU-Studie zum 9-Euro-Ticket – So nehmen Sie teil

Verkehrspsychologen der TU Braunschweig begleiten das 9-Euro-Ticket wissenschaftlich mit einer Studie. Nachdem sie im Vorfeld die Erwartungen und Einstellungen zum Ticket erfragt haben, geht es den Forschern nun darum, die Erfahrungen und Eindrücke von Bürgerinnen und Bürgern mit dem 9-Euro-Ticket zu erfahren. „Wir wollen ein ungeschöntes Bild haben“, erklärt Initiatorin Dr. Anja Huemer. Je mehr verschiedene Menschen teilnähmen, so die Forscherin, desto realistischer mit Blick auf die Gesamtbevölkerung würden die Ergebnisse. In einem dritten Schritt ist geplant, die Teilnehmer im November noch einmal rückblickend zu befragen. Die Umfrage dauert etwa 15 Minuten. Zu ihr gelangt man per Handy über folgende Web-Adresse: ww3.unipark.de/uc/9euro2

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