Braunschweig. Heute ist der Tag der vermissten Kinder. Nach über 500 Kindern aus Niedersachsen wird aktuell gesucht. Was getan wird, um sie zu finden.

Erwachsene sind (sofern geistig und körperlich fit) für sich selbst verantwortlich. Niemandem müssen sie Rechenschaft darüber ablegen, wo sie sich aufhalten oder wohin sie reisen, selbst engsten Angehörigen gegenüber nicht. Bei Jugendlichen und Kindern ist das anders. Den Eltern obliegt das Aufenthaltsbestimmungsrecht – auch eine Pflicht. Sie müssen wissen, wo sich ihr Nachwuchs aufhält.

Bei vermissten Kindern fährt die Polizei ihren Apparat schnell hoch. Lokale Rettungsdienste leisten Unterstützung. Die wichtige Erkenntnis: Die allermeisten jungen Vermissten kehren innerhalb kürzester Zeit heim. Aber es kann auch ein Unfall geschehen sein – oder ein Verbrechen. Verschwinden Kinder aus dem gewohnten Lebensumfeld, sollte niemand zögern, die Polizei zu informieren, genauso wie ein
jeder aufmerksam sein sollte, wenn er auf ein hilfloses Kind trifft.

Der Fall Etan

Es sollte für den 6-jährigen Etan Patz aus dem New Yorker Stadtteil SoHo ein kleiner Schritt zu mehr Selbstständigkeit werden. Am 25. Mai 1979 hatten seine Eltern ihm erlaubt, erstmals alleine zum Schulbus zu gehen. Auf dem Weg zur Haltestelle verschwand er spurlos.

Der Junge war das erste Kind, dessen Gesicht in den USA auf Milchtüten gedruckt wurde, um die Öffentlichkeit bei der Suche zu mobilisieren. 1983 erklärte der US-Präsident Ronald Reagan den 25. Mai zum nationalen Gedenktag für vermisste Kinder. In Deutschland gibt es diesen Aktionstag seit 2003.

Etans Schicksal blieb viele Jahre ungeklärt. Erst 2012 konnte ein Tatverdächtiger überführt werden. Der Mann gestand, dass er das Kind auf der Straße angesprochen, mit dem Versprechen auf eine Limo in seinen Laden gelockt und im Keller erwürgt hatte. Die Leiche entsorgte er im Straßenmüll.

Der Fall Maddie

Das weltweit berühmteste vermisste Kind ist Madeleine „Maddie“ McCann. Das 3-jährige Mädchen verschwand am 3. Mai 2007 abends aus dem Appartement der Familie im portugiesischen Praia da Luz. Spuren führen zum mehrfach vorbestraften Christian B.. Er lebte zum Zeitpunkt von Maddies Verschwindens in der Nähe der Hotelanlage und verließ kurz danach Portugal. Zuletzt wohnte er in Braunschweig.

Im Juni 2020 wurde bekannt, dass im Fall Maddie gegen ihn ermittelt wird. „Wir haben einige neue Fakten gefunden, einige neue Beweise“, erklärte erst vor wenigen Tagen der Sprecher der Staatsanwaltschaft Braunschweig, Christian Wolters, in einem TV-Interview. Derzeit werden Anklagen gegen B. vorbereitet wegen zwei Fällen sexuellen Missbrauchs von Kindern und in drei Fällen wegen Vergewaltigungen von Frauen. „Der Abschluss der Untersuchungen sollte im Juni so weit sein“, kündigte Wolters an.

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Derweil scheint die schnelle Aufklärung des Falls Maddie ungewiss. Die Eltern Kate und Gerry McCann veröffentlichten auf ihrer Internetseite vor einigen Wochen aus Anlass des 15. Jahrestags des Verschwindens ihrer Tochter eine Erklärung. Sie gaben einen Einblick in ihre Gefühlswelt: Dieser Tag fühle sich nicht schwerer an als alle anderen, schrieben sie, „aber auch nicht leichter. Es ist eine sehr lange Zeit. Viele Leute sprechen von der Notwendigkeit, einen Schlussstrich zu ziehen. Das war schon immer ein seltsamer Begriff. Unabhängig vom Ausgang wird Madeleine immer unsere Tochter sein. Es wurde ein wirklich schreckliches Verbrechen begangen. Diese Dinge bleiben. Es ist jedoch wahr, dass Unsicherheit Schwäche erzeugt. Wissen und Gewissheit geben Kraft, und deshalb ist unser Bedürfnis nach Antworten, nach der Wahrheit wesentlich.“

Der Fall im Podcast: Tatort Niedersachsen - Der Fall Maddie

Die Ermittler

Die Suche nach Vermissten obliegt in Deutschland den örtlichen Dienststellen der Polizei. Erst seit 2018 erhebt das Bundeskriminalamt Gesamtzahlen für Deutschland. In den Jahren 2018 bis 2021 wurden durchschnittlich 15.700 Kinder im Jahresverlauf als vermisst gemeldet. Die Aufklärungsquote liegt jährlich im Schnitt bei nahezu 97 Prozent. Insgesamt gibt es rund 1600 ungeklärte Fälle vermisster Kinder (Stand 15. März 2022). Mehr als die Hälfte dieser Kinder sind unbegleitete Flüchtlinge, gehören zu den sogenannten Dauerausreißern oder wurden ihren Sorgeberechtigten entzogen.

Aus Anlass des Gedenktages veröffentlicht auch das Landeskriminalamt Niedersachsen aktuelle Zahlen (und weist hin: Die Vermisstendatei ändere sich täglich mehrfach, da neue Fahndungen hinzukommen und andere gelöscht werden). Derzeit sind insgesamt 1231 Personen als vermisst gemeldet, davon 661 Erwachsene, 388 Jugendliche bis 17 Jahren sowie 182 Kinder im Alter bis 13 Jahren. „In 69 Fällen besteht der Verdacht, dass die Personen Opfer eines Kapitalverbrechens geworden sind“, ergänzt LKA-Sprecher Simon Ebbertz auf Nachfrage. 51 aktuelle Vermisstenfälle gibt es im Zuständigkeitsbereich der Polizeidirektion Braunschweig derzeit – darunter sind keine Kinder (Stand 24. Mai 2022).

Die Helfer

Die Initiative „Vermisste Kinder“ mit Sitz in Hamburg hat es sich zur Aufgabe gemacht, vor allem die Angehörigen von langzeitverschollenen Vermissten zu unterstützen. Ihr Vorsitzender Lars Bruns erklärt die Problematik für die Polizei: Der Großteil der Vermisstenfälle kläre sich innerhalb von Stunden auf. „Daneben gibt es jedoch eine geringe Zahl von Fällen, die größte Sorgen bereiten, weil wahrscheinlich ein Verbrechen vorliegt.“ In jedem Bundesland gebe es solche Langzeitvermissten, sagt Bruns. Bekannte Fälle aus dem norddeutschen Raum sind:

  • Hilal Ercan aus Hamburg, vermisst seit Januar 1999
  • Katrin Konert aus Bergen an der Dumme (bei Salzwedel), vermisst seit Januar 2001
  • Mandy Müller aus Nienburg (bei Hannover), vermisst seit September 2008
  • Inga Gehrike aus Schönebeck (bei Magdeburg), vermisst seit Mai 2015

Vermisste seien in den örtlichen Dienststellen Teil des Alltagsgeschäfts. Gerade in den kritischen Fällen stehe der Polizei anfangs oft nur eine diffuse Hinweislage zur Verfügung. Das erschwere die Einschätzung, was zu tun sei, meint Bruns. „Bis klar ist, dass sich ein Kind nicht verlaufen hat, vergeht oft zu viel Zeit.“ Er weist auf eine Studie des US-Bundesstaates Washington hin. Laut der waren bei Kindesentführungen mit tödlichem Ausgang die ersten drei Stunden ausschlaggebend. Drei Viertel der Kinder überlebten diese Zeit nicht. Fast 90 Prozent wurden innerhalb der ersten 24 Stunden getötet.

Eine Entscheidung für eine Öffentlichkeitsfahndung ziehe sich in Deutschland meistens lange hin, kritisiert Bruns. „Ermittlern muss es möglich sein, schnellstens alle Menschen, die zum Zeitpunkt des Verschwindens in der Nähe waren, zu erreichen.“ Sein Vorschlag lautet, in Fällen, in denen ein Kind akut gefährdet sein könnte, an alle Menschen in einem definierten Umkreis eine SMS zu verschicken. „In Belgien oder den Niederlanden wird dies bei Vermisstenfällen längst genutzt.“ Deutschland ist noch nicht so weit. Erst in ein paar Monaten soll das Cell-Broadcast-System für den Katastrophenschutz Premiere feiern. Eine weitere Forderung von Bruns lautet, spezialisierte Einheiten bei der Polizei einzurichten, mit 24-Stunden-Rufbereitschaft. Gibt es Verbesserungspotenzial bei der Polizei? Der Landesvorsitzende der Deutschen Polizeigewerkschaft Niedersachsen, Patrick Seegers, kennt keine Mängel: „Technik, künstliche Intelligenz und moderne Methoden, länderübergreifender Austausch und intensive Kommunikation müssen Basis polizeilichen Arbeitens sein. Wir müssen uns also auch im Kontext von Vermisstenfällen, jedoch nicht exponiert nur hier, dieser Techniken bedienen und die Werkzeuge effektiv nutzen.“