Braunschweig. Ulrich Lilie war Festredner beim Jahresempfang der Landeskirche in Braunschweig. Im Interview nimmt er unter anderem Stellung zur Sterbehilfe-Debatte.

In seiner Festrede beim „Abend der Begegnung“ der Braunschweigischen Landeskirche sprach der Präsident der Diakonie in Deutschland, Ulrich Lilie, über die Herausforderungen, die der Ukraine-Krieg der Gesellschaft abverlangt. Aber auch andere Themen beschäftigen den gelernten Pfarrer. Im Interview mit unserer Zeitung fordert er von der Politik ein besser ausfinanziertes und gerechteres Gesundheits- und Pflegesystem. Aber auch zum „assistierten Suizid“ hat er eine Meinung.

Der Präsident der Diakonie in Deutschland, Ulrich Lilie.
Der Präsident der Diakonie in Deutschland, Ulrich Lilie. © Stefan Lohmann | Stefan Lohmann

Bereits im Februar 2020 hat das Bundesverfassungsgericht mit seiner Entscheidung des „Verbots der geschäftsmäßigen Förderung der Beihilfe zum Suizid“ festgestellt, dass das allgemeine Persönlichkeitsrecht als Ausdruck persönlicher Autonomie das Recht auf selbstbestimmtes Sterben umfasst. Nun debattiert der Bundestag darüber. Wie ist die Position der Diakonie und der Evangelischen Kirche dazu?

Evangelisch sein heißt, in Beziehung zu sein. Zu sich selbst, zu seinen Mitmenschen und zu Gott. Wir sind relationale Wesen. Das gilt eben auch bei schwierigen ethischen Fragen. Das ist das Prinzip, das wir auch in dieser Frage voranstellen. Wir wollen niemanden allein lassen, wir wollen uns aber auch nicht aktiv beteiligen. Was wir uns vorstellen können ist, Menschen auf diesem Weg zu begleiten. Nun sollte die Politik aber nicht nur einen klaren rechtlichen Rahmen definieren, sondern vor allem auch in Prävention investieren.

Was meinen Sie damit?

Wir brauchen zuallererst eine tragfähige Suizidprävention in Deutschland, die ihren Namen auch verdient. Wir müssen ein flächendeckendes Kompetenz-Netzwerk aus Psychologen, Pädagogen und Pädagoginnen, Seelsorgenden aber auch Palliativmedizinern bilden, um vermeidbare Suizide in Deutschland drastisch zu reduzieren. Da geht es auch um schnelle Erreichbarkeit und wirksame Hilfe für Menschen in Not. Suizide, die aus akuter Not und Verzweiflung geschehen, können wir mit guten Beratungsangeboten verhindern. Dieses Netzwerk braucht aber eine solide finanzielle Ausstattung. Wenn diese Voraussetzungen geschaffen sind, können wir uns als Diakonie vorstellen, im Einzelfall Menschen zu begleiten, die trotz bestmöglicher Versorgung sagen: Ich habe alles versucht, aber ich kann nicht mehr.

Wer könnte dann zu diakonischen Einrichtungen kommen?

Ich gehe davon aus, dass es in unseren Einrichtungen vereinzelt Menschen gibt, die schwer- und unheilbar krank sind, vielleicht verbunden mit einer Form der Hochaltrigkeit, die Sterben möchten. Und auch hier gilt, dass wir mit diesen Menschen zunächst über ihre Wünsche sprechen, sie beraten und Alternativen aufzeigen. Es geht darum, dieses noch sehr tabuisierte Thema besprechbar zu machen, im Gespräch zu bleiben, immer wieder zu reden. Das verschafft sehr häufig neue, auch lebensbejahendere Perspektiven, die wir mit diesen Menschen entwickeln. Es geht darum in Beziehung zu bleiben, davon bin ich als Christ überzeugt. Wir können und wir sollten Menschen mit solchen Wünschen nicht einfach aussondern. Das Beispiel der Schweiz zeigt, dass ein offenerer Umgang mit dem Thema nicht zu einem gesellschaftlichen Dammbruch geführt hat. Ich nehme an, dass wir – bei entsprechenden rechtlichen Rahmenbedingungen, die in eine Kultur und Praxis der Prävention und einem ebenfalls notwendigen Ausbau der Palliativmedizin – auch in Deutschland über eine verschwindend geringe Zahl von Menschen reden, die sich in den Tod „assistiert“ begleiten lassen möchte. Kein Mensch nimmt sich gern das Leben.

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Was ist Ihre Erwartung an die Politik?

Wir stehen ganz am Anfang einer notwendigen Debatte, die jetzt den Bundestag erreicht hat. Drei interfraktionelle Gesetzentwürfe stehen zur Wahl. Es braucht eine klare parlamentarische Mehrheit. Diese wird sich aus der jeweiligen Gewissensentscheidung der Abgeordneten bilden oder eben nicht. Ich hoffe auf eine Sternstunde der parlamentarischen Demokratie und freue mich, dass inzwischen offenbar eine große Mehrheit der Abgeordneten die Notwendigkeit eines Suizidpräventionsgesetzes sowie der Verbesserung der palliativen Versorgung erkannt haben.

Eine Sternstunde, die Sie sich vermutlich auch bei der Frage der Einführung einer Allgemeinen Corona-Impfpflicht gewünscht hätten. Dazu kam es nicht. Wie ist diese Entwicklung zu bewerten?

In der Tat, das hätte ich mir gewünscht. Stattdessen gab es hier eher einen parlamentarischen Ausfall.

Was hat Sie geärgert?

Mich ärgert, dass die Dinge nicht bis zu Ende gedacht werden. Die Politik hat als ersten Schritt die einrichtungsbezogene Impfpflicht eingeführt, die nun – ohne zweiten Schritt – völlig in der Luft hängt. Wir haben diese Initiative als Diakonie unterstützt, weil es unsere Aufgabe ist, sich um die zu sorgen, die besonders verletzlich sind. Getreu dem Bonhoeffer-Zitat „Die Opfer unter dem Rad verbinden“. Wir haben aber immer gefordert: diese Entscheidung muss sinnvoll eingebettet sein, und am Ende steht eine Impfpflicht für alle. Mit dieser Nicht-Entscheidung, wie sie aus taktischen Erwägungen im Bundestag gefällt wurde, sind nun ausgerechnet die Mitarbeitenden, die zwei Jahre lang die Wasserträger in der Corona-Krise waren und die an der Front das Virus bekämpft haben, die einzigen, die sich impfen lassen müssen. Und gleichzeitig kommen nun ungeimpfte Besucher und Besucherinnen und infizieren die Verletzlichen, um deren Schutz es doch gehen sollte? Das kann doch nicht sein. Wir werden die Koalition, aber genauso die Opposition, sehr energisch fragen, was sie sich dabei gedacht haben, wenn im Herbst wieder eine Mutante Stillstand über unser Land bringt. Die Pandemie ist nicht vorbei, wie uns ein Blick nach Asien lehrt.

Welche Konsequenzen kann diese Entscheidung darüber hinaus nach sich ziehen?

Ich fürchte, dass diese politische Handlungsunfähigkeit bei vielen der Gutwilligen, der Engagierten, den Frust über eine solche Politik, die keine Verantwortung zu übernehmen bereit ist, enorm verstärkt. Diese Nichtentscheidung könnte sich als Bärendienst erweisen, der weit über die Corona-Krise hinaus auch einen demokratiepolitischen Schaden anrichtet. Es ist nun an Herrn Lauterbach zur Vernunft und Weitsicht zu rufen, seine Arbeit zu machen und mit seiner Koalition an einer konsistenten Lösung zu
arbeiten, die uns im Herbst helfen wird.

Der Minister muss aus Ihrer Sicht, also – weg vom Gewissen des einzelnen Abgeordneten – eine eigene parlamentarische Mehrheit auf die Beine stellen?

Selbstverständlich. Die Wahlergebnisse in NRW zeigen doch, dass grade viele ältere Menschen der FDP eine nachhaltige Quittung für ihre freiheitseuphemistische Perspektive auf Corona ausgestellt haben. Zur Freiheit gehört eben nicht nur die möglichst freie eigene Entfaltung, sondern eben auch die Freiheit derer, die Schutz brauchen. In dieser Frage hat sich die ältere Wählergruppe von der FDP offenbar nicht wahrgenommen gefühlt.

Sie haben das gebeutelte Personal in den Pflegeeinrichtungen erwähnt. Jetzt gibt es eine Pflegeprämie und eine Milliarde Euro extra. Reicht das?

Wenn das als Antwort auf die Herausforderungen in der Pflege herhalten soll: sicher nein. Die Politik hat hier die Spendierhosen angezogen, wir freuen uns über Anerkennung. Aber die Pflege-Aufgaben in einer älter werdenden Gesellschaft sind herausfordernd und umfassend: Darum fordern wir eine grundlegende Reform der Pflegeversicherung mit begrenzten Eigenanteilen für die zu Pflegenden und deren Angehörigen. Es geht auch um bessere Pflegeschlüssel und eine sektorenübergreifende Versorgung, in der es nicht nur die Alternative Heim oder Zuhause gibt. Gesellschaftlicher Beifall muss mit einer wirklichen Anerkennung des Pflegeberufs einhergehen. Es fehlen nach wie vor zigtausende Fachkräfte. Es geht aber nicht nur um Geld, sondern auch um eine bessere Work-Life-Balance, die in der Pflege oft ein Wunschtraum bleibt. Wir verlieren viele qualifizierte Menschen, weil das eben nicht gegeben ist und für viele die Last im Alltag unerträglich geworden ist.

Was fordern Sie als Diakonie, um diesen Zustand zu ändern?

Wir müssen die gesamte Finanzierung der Pflege auf stabilere Füße stellen. Ich will ein Beispiel geben: Jede Tariferhöhung schlägt sich derzeit auf die Eigenanteile der Angehörigen oder auf die der zu pflegenden Bewohner in den Alten- und Pflegeheimen nieder. Diese liegen in einigen Bundesländern bereits bei rund 2400 Euro im Monat. Wenn sie das mit der durchschnittlichen Rente von etwa 1200 Euro in Deutschland vergleichen, dann wird das auch für die Kommunen schnell zu einem Problem.

Warum ist das so?

Weil im Fall der Unterfinanzierung der örtliche Träger der Sozialhilfe für die Kosten der Pflege einspringen muss. Das sind in Deutschland die Kommunen. Dieses merkwürdige öffentliche Refinanzierungssystem führt dann dazu, dass die bereits hochdefizitären Kommunen aus diesem Strudel immer höherer Schulden gar nicht mehr herauskommen. Schlimmer noch: So verfestigen sich hochdefizitäre Strukturen. Da brauchen wir neue Lösungen.

Was sind weitere Folgen?

Eine Folge ist, dass immer mehr Menschen sagen, wir lassen uns, solange es irgendwie geht, zu Hause pflegen, im Zweifel von überlasteten Angehörigen. In der häuslichen Situation wird viel improvisiert, manches ist wirklich schlimm. Aber da schaut lieber niemand hin. Jetzt hat das Bundesarbeitsgericht geurteilt und entschieden, dass die häusliche Pflege durch Kräfte aus Osteuropa nicht mehr den gesetzlichen Mindestlohn unterschreiten darf und der für die 24 Stunden zu entrichten ist, in denen diese Menschen in den Haushalten leben. Das vorläufige Ende dieses sogenannten „Live-in-care“-Systems mit seinen ganzen Schattenseiten ist die nächste Herausforderung, für die die Politik nun schleunigst eine verantwortliche und zugleich praktikable Lösung finden muss.

Mit mehr Geld?

Im Zusammenhang mit dem Ukraine-Krieg ist soeben ein Sondervermögen von 100 Milliarden Euro für die Bundeswehr auf den Weg gebracht worden. Sich angesichts solcher Summen für eine Milliarde Euro für Prämien zu rühmen, ist mit Blick auf die vielfältigen Probleme im deutschen Pflege- und Gesundheitswesen ein schlechter Scherz. Es muss neben der Pflegeversicherung und höheren Beitragszahlungen zukünftig auch Unterstützung aus Steuermitteln geben. Es sollten zukünftig auch nicht alle gleich viel bezahlen müssen oder gleich viel mehr. Es gibt Menschen in Deutschland, die können mehr bezahlen als andere.

Gegen die Einführung der Erbschaftsteuer zugunsten des Pflegesystems hätten Sie also nichts einzuwenden?

Ich freue mich immer mit allen, die etwas erben, aber ich finde, ab einer bestimmten Summe sollten sich alle mitfreuen dürfen. So eine Steuer darf aber nicht zum Aufbau neuer Bürokratie führen. Diese Gefahr besteht leider in Deutschland auch immer auf vielen Politikfeldern.

Befürchten Sie, dass angesichts des Krieges in der Ukraine der notwendige Umbau des Gesundheits- und Pflegewesens in Deutschland wieder auf die lange Bank geschoben wird?

In diesem Koalitionsvertrag stehen einige Dinge, über die sich die Diakonie als Teil der freien Wohlfahrtspflege sehr gefreut hat, für die wir engagiert gekämpft haben: Die Kindergrundsicherung, eben die Reform der Pflegeversicherung, das Bürgergeld, eine zukunftsfähige und pragmatische Migrationspolitik, und ich könnte weitere Punkte nennen. Aus guten Gründen hat der Angriffskrieg auf die Menschen in der Ukraine jetzt alles überlagert. Aber wir sollten miteinander aufpassen, dass die wichtigen Politikanliegen, die der Koalitionsvertrag mit der Überschrift „sozial-ökologische Transformation“ überschreibt, nun nicht einfach den Bach runtergehen.

Erst Corona und jetzt der Krieg: der Grad an Einseitigkeit der Diskussionen, auch der medialen, lässt Schlimmes erahnen. Wie sehen Sie das?

Die Menschen in Deutschland sind großartig und solidarisch mit den UkrainerInnen, die flüchten müssen und wohl länger bleiben werden. Angesichts der systematischen Zerstörung der gesamten Infrastruktur, die der Aggressor Russland betreibt, ist davon auszugehen. Wir werden einen langen Atem brauchen und uns lange für die Geflüchteten engagieren müssen. Und dennoch: Die Menschen erwarten angesichts der `Zeitenwende` auch etwas von dieser Bundesregierung über die Bewältigung dieser Riesenherausforderung hinaus. Das ist eine Lehre auch aus den vergangenen Landtagswahlen. Wir als Diakonie werden diese Koalition an ihren eigenen Ambitionen und Versprechungen auf dem Feld der Gesundheits- und Sozialpolitik messen. Wir sind gerne Partner, werden aber auch genau hinsehen, ob die Ampel hier liefert. Diese Hoffnung habe ich noch nicht aufgegeben.