Braunschweig. Die Landeskirche will mit einem Opferschutz-Gesetz stärker auf Fehlverhalten von Mitarbeitern reagieren. Das Votum der Synode erfolgte einstimmig.

Nicht nur die katholische Kirche kämpft um ihren Ruf, auch die evangelischen Landeskirchen mühen sich, Licht in dunkle Kapitel ihrer Geschichte zu bringen. Dabei spielt die Aufarbeitung von Taten, die in Zusammenhang mit Missbrauch und Gewalt gegenüber Schutzbefohlenen stehen, eine entscheidende Rolle. Traumatisierende Ereignisse für die Opfer, die sich teilweise vor Jahrzehnten ereigneten und bis heute noch nicht aufgearbeitet sind.

Am vergangenen Wochenende hat die Synode der Evangelischen Landeskirche Braunschweig bei ihrer Tagung ein deutliches Zeichen gesetzt, hier eine neue Haltung einzunehmen. So beschloss das Kirchenparlament in der Braunschweiger Stadthalle einstimmig ein Gesetz, das dazu beitragen soll, insbesondere Kinder, Jugendliche und Heranwachsende in der Kirche noch besser vor sexuellen Übergriffen und Machtmissbrauch zu schützen. Außerdem regelt es das Vorgehen, wenn Fälle sexualisierter Gewalt auftreten und wie Opfern geholfen werden kann.

Landesbischof Dr. Christoph Meyns, der auch Sprecher des Beauftragtenrates der Evangelischen Kirche Deutschlands (EKD) zum Schutz vor sexualisierter Gewalt ist, betonte vor der Synode: „Jeder Fall ist ein Fall zu viel.“ Er skizzierte den Weg des Entscheidungsprozesses, der nun endlich in einem „Gewaltschutzgesetz“ münde. Dieses solle als wichtiger Baustein für „Prävention und Aufarbeitung“ dienen. Zu lange sei weggeschaut oder aus falsch verstandener Loyalität geschwiegen worden. Auch die Evangelischen Landeskirchen müssten sich vorwerfen lassen, „täterschützende Strukturen“ geschaffen zu haben. Diese gelte es, jetzt endlich aufzubrechen. Mit dem Gesetz sei ein kirchenrechtlicher Rahmen dafür geschaffen worden.

Zusammenarbeit mit Strafverfolgungsbehörden

Deswegen, so Kathrin Klooth, Vorsitzende des Rechtsausschusses aus Wolfenbüttel, regele das Gesetz unter anderem die enge Zusammenarbeit mit den Strafverfolgungsbehörden. Keine Tat dürfe verschleiert und kein Täter dürfe geschützt werden.

Konkret heißt das: Wer bewusst wegsieht, macht sich mitschuldig. „Das Gesetz bietet auch die Möglichkeit, Pfarrerinnen und Pfarrer, die von Missbrauchsfällen erfahren, diese aber nicht melden, mit Disziplinarverfahren zu belegen“, erklärte Michael Strauß, Pressesprecher der Landeskirche Braunschweig, unserer Zeitung. Personen, die sich innerhalb der Kirche nicht auf ein „öffentliches Anstellungsverhältnis“ berufen können, könnten in solchen Fällen abgemahnt oder sogar entlassen werden, erklärte Strauß.

Bekannte Missbrauchsfälle in Niedersachsen

Landesbischof Meyns hatte auf der Synode Einblick darüber gegeben, wie viel Fälle von Missbrauch der EKD bekannt sind. 942 Fälle seien bislang bundesweit durch die in den Landeskirchen geschaffenen Anerkennungskommissionen bearbeitet worden. Zwei Drittel davon beträfen ehemalige Heimkinder aus den 1950er bis 1970er Jahren.

In Niedersachsen sei bisher über 139 Anträge entschieden worden; davon 127 aus dem Bereich der Landeskirche Hannover, fünf aus dem Bereich der Kirche in Oldenburg und sieben aus dem Bereich der Landeskirche Braunschweig. Davon bezögen sich 121 Anträge auf ehemalige Heimkinder (Hannover: 115, Oldenburg: 2, Braunschweig: 4). 18 Anträge beträfen den Bereich der Kirchengemeinden (Hannover: 14, Oldenburg: 1, Braunschweig: 3). Meyns spricht in dem Zusammenhang vom „hellen Hellfeld“, dem sicherlich ein Dunkelfeld und eine Zahl noch nicht gemeldeter sexueller Übergriffe gegenüberstünden.

Das weiß die Braunschweiger Landeskirche über die Täter

Als Täter in Niedersachsen seien laut Meyns sechs Pfarrer, zwei Pfarrverwalter, zwei Jugenddiakone, zwei Kirchenmusiker, ein Küster, ein Kirchenvorsteher und ein ehrenamtlicher Jugendgruppenleiter identifiziert worden. Kirchensprecher Strauß betonte gegenüber unserer Zeitung: Die Zahl der ermittelten Täter und Taten in Niedersachsen beziehe sich nur auf Einrichtungen der sogenannten „verfassten Kirche“. Sie schließen nur die Taten in den Räumen der Kirche oder durch deren Mitarbeiter ein. Fälle von sexualisierter Gewalt in pflegerischen Einrichtungen der Kirche wie der Diakonie seien in dieser Statistik nicht aufgeführt.

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Landesbischof Meyns betonte auf der Synode, er erwarte, dass die Leitungsorgane, Führungskräfte und Mitarbeitenden in der Kirche ihrer Verantwortung mit Blick auf das Thema gerecht werden. Es sei wichtig, dass alle in eine Haltung hineinfinden, die „Machtausübung, Machtmissbrauch und sexualisierte Gewalt nicht tabuisiert“.

Zur Arbeit der Anerkennungskommission erklärte Kirchensprecher Strauß: Diese befasse sich fast ausschließlich mit Fällen, die aus juristischer Sicht verjährt seien. Sie sei gegründet worden, um Menschen Hilfestellungen zu geben, ihnen aber auch Hilfeleistungen in Folge von erlittenem Unrecht zukommen zu lassen. „Streng genommen zahlen wir keine Entschädigung, sondern Anerkennungsleistungen, die wir aus einem dafür eingerichteten Finanztopf ausschütten.“ Über die Höhe der Zahlungen an die Opfer würde die Kommission selbst entscheiden. In ihr säßen keine Vertreter der Kirche, sondern sie würde in der Regel von Juristen oder pensionierten Richtern geleitet. Opfer, die sich meldeten, müssten gegenüber der Kommission „plausibel erklären“, warum eine finanzielle Unterstützung aus ihrer Sicht angemessen sei.

„Es geht hier um die Aufarbeitung von Verfehlungen in der Vergangenheit, während das jetzt durch die Synode beschlossene Gesetz den Blick in die Zukunft richtet.“ Mit diesem solle künftig Machtmissbrauch in und durch Vertreter der Kirche bestenfalls verhindert werden, zumindest aber schwerer möglich sein, so Strauß weiter.

Pfarrerin: Gut, dass das Thema endlich offen angesprochen wird

Oberlandeskirchenrat Professor Christoph Goos, Leiter der Rechtsabteilung, stellte für die Landeskirche fest, dass man mit dem Gesetz eine Richtlinie der Evangelischen Kirche in Deutschland umsetze, die der Rat der selbigen beschlossen habe. Ziel sei eine bundesweit einheitliche Regelung. Goos betonte, man folge somit dem kirchlichen Auftrag, jedes Leben zu schützen. Das beinhalte auch den Schutz der sexuellen Selbstbestimmung. So steht es auch in der Präambel des Kirchengesetzes. Laut Sprecher Strauß befände man sich jedoch noch „mitten im Prozess der Umsetzung. Die Frage, ob man im Vergleich zu anderen Kirchen beim Umgang mit sexualisierter Gewalt eine Vorreiterrolle einnehme, verneinte er. Man hinke aber auch nicht hinterher.

Die Goslarer Pfarrerin Annemarie Pultke, Ansprechperson in der Landeskirche für Menschen, die von sexualisierter Gewalt betroffen sind, erklärte auf der Tagung in Braunschweig, sexueller Missbrauch sei stets ein Angriff auf die ganze Person. Er richte sich auch gegen das Gottvertrauen und den Glauben der Betroffenen. Deswegen müssten Mitarbeitende in der Kirche sensibel dafür sein, Grenzen achten und stark sein, um ausreichend konfliktfähig zu sein.

Man habe innerhalb der verfassten Landeskirche Braunschweig bislang sehr wenige Missbrauchsfälle ermittelt. Das sei erfreulich, beinhalte aber stets das Risiko, sich nicht mit dem sehr „unangenehmen Thema zu beschäftigen“. Sie sei froh, dass man endlich auch „oben auf dem Podium der Synode und sich nicht unten irgendwo“ diesen Problemen stelle, sagte Pultke vor den Synodalen. Pultke führt seit 2014 die Funktion als Opferberaterin in der Landeskirche aus.