Braunschweig. Mutter eines Kindes ist in Deutschland nur die Frau, die es geboren hat. Claudia Wiesemann erwartet eine Abkehr von diesem Prinzip.

Es sind zwei Enden des gleichen Themas: Dem Braunschweiger Domkantor Gerd-Peter Münden wurde fristlos gekündigt, weil er und sein Ehemann vorhaben, in Kolumbien ein Kind von einer Leihmutter austragen zu lassen. Gleichzeitig wirft der Krieg in der Ukraine Schlaglichter auf den „Leihmutterschafts-Tourismus“. Nach Medienberichten reisten bis zum Krieg jährlich rund 6000 deutsche Paare in das Land, um Leihmütter zu beauftragen. Über die aktuellen Fälle und die Frage einer Legalisierung von Leihmutterschaft hierzulande sprachen wir mit der Medizinethikerin Prof. Claudia Wiesemann.

Neugeborene die nicht abgeholt werden. Schwangere Leihmütter, die vor rechtlichen Problemen stehen, wenn sie nach Deutschland flüchten wollen. Was geht Ihnen durch den Kopf, wenn Sie solche Berichte über die kriegsgebeutelte Ukraine lesen?

Ich mache mir große Sorgen um die Frauen und Kinder, deren Leib und Leben vom Krieg bedroht werden, und die nun von der Unterstützung der Wunscheltern abgeschnitten sind. Auch die darf man in dieser Situation nämlich nicht vergessen. Denen zerreißt es das Herz, die Leihmutter und das Ungeborene in Gefahr zu wissen.

Was schwangere Leihmütter betrifft, die nach Deutschland flüchten, so haben diese keine Schwierigkeiten, einzureisen. Schwierig wird es aber, wenn das Kind hier auf die Welt kommt. Dann sind, anders als in der Ukraine, nicht automatisch die Wunscheltern die Eltern des Kindes. Das bedeutet unklare Verhältnisse für alle Beteiligten.

Und wie beurteilen Sie den Fall des entlassenen Braunschweiger Domkantors Münden?

Ich glaube, es ist an der Zeit, die Skandalisierung, ja Verteufelung der Leihmutterschaft zu beenden. Solange die Rechte der Leihmütter gesichert sind, sehe ich kein fundamentales ethisches Problem. Behauptungen, die Würde der Frau würde verletzt, oder das Kind würde „verkauft“ – solche grundsätzlichen Urteile treffen in ihrer Rigorosität nicht zu. Es gibt Länder, die sich bemühen, die Situation zufriedenstellend zu regeln. In Großbritannien etwa sind die Interessen der Leihmütter rechtlich abgesichert. Und aus Studien weiß man, dass die Kinder psychisch gesund sind.

Aber die Realität der Leihmutterschaft, ob nun in der Ukraine oder in Indien – beide Länder sind Leihmutterschafts-Hotspots, sieht anders aus. Meist besteht ein enormes sozioökonomisches Gefälle zwischen Wunscheltern und Leihmutter. Und das begünstigt Ausbeutung.

Ja, ökonomische Interessen spielen eine Rolle. Natürlich möchte die Leihmutter für ihren körperlichen, psychischen und zeitlichen Aufwand entschädigt werden. Und natürlich möchten auch die vermittelnden Agenturen bezahlt werden. Aber auch andere fortpflanzungsmedizinische Leistungen kosten Geld. Die Frage ist: Wann überschreitet man die Grenze von einem normalen Geschäfts- zu einem Ausbeutungsverhältnis? Ohne Zweifel gibt es Länder, in denen solche Ausbeutung existiert – weil die Frauen sehr schlecht informiert oder rechtlich nicht abgesichert sind, oder weil sie bei medizinischen Komplikationen schlecht oder gar nicht behandelt werden. Das heißt aber nicht, dass Leihmutterschaft grundsätzlich abzulehnen ist. Indien, das Sie erwähnt haben, hat übrigens Konsequenzen aus seinen Erfahrungen gezogen. Eine Leihmutterschaft können dort nur noch inländische Paare beauftragen. In Deutschland dagegen haben wir die unglückliche Situation, dass Leihmutterschaft verboten ist und sich Paare gezwungenermaßen ins Ausland begeben. Dabei wären viele von ihnen glücklich, wenn es hierzulande Angebote gäbe. Die meisten Wunscheltern sind ja an einem persönlichen Kontakt zur Leihmutter interessiert und möchten, dass es dieser gut geht.

Zur Person

Prof. Claudia Wiesemann leitet das Institut für Ethik und Geschichte der Medizin an der Universitätsmedizin Göttingen
Prof. Claudia Wiesemann leitet das Institut für Ethik und Geschichte der Medizin an der Universitätsmedizin Göttingen © Swen Pförtner | Swen Pförtner

Prof. Claudia Wiesemann leitet das Institut für Ethik und Geschichte der Medizin an der Universitätsmedizin Göttingen. Als Mitglied der Nationalen Akademie der Wissenschaften Leopoldina ist sie Mitautorin einer Stellungnahme zur Fortpflanzungsmedizin in Deutschland. In dem Dokument von 2019, in dem auch die Leihmutterschaft thematisiert wird, mahnen die Fachleute, die einschlägigen Gesetze den veränderten technischen Möglichkeiten und gesellschaftlichen Vorstellungen entsprechend zu überarbeiten.

Trotzdem tun sich vermutlich viele schwer mit dem Gedanken, dass eine Frau ein Kind austrägt, um dieses wegzugeben. Wiegt im Zweifelsfall nicht der Verlust eines Kindes für eine biologische Leihmutter schwerer als der nichterfüllte Wunsch eines Paares nach genetischen Kindern? Oder ist Ihnen diese Rechnung zu einfach?

Diese Rechnung ist zunächst einmal bevormundend. Sie unterstellt der Frau, die sich für eine Leihmutterschaft entscheidet, dass sie zum Opfer ihrer mütterlichen Gefühle wird. Das halte ich für falsch. In aller Regel sind die Leihmütter Frauen mit eigener Familie, die bereits Kinder haben. Sie wissen, was es heißt, schwanger zu sein. Sie sehen in ihrer Schwangerschaft eine positive Tat, eine Gabe für ein Paar, das sich verzweifelt ein Kind wünscht. Damit will ich nicht verharmlosen, dass mit der Abgabe des Kindes Konflikte verbunden sein können. Darauf müssen diese Frauen sich vorbereiten, vielleicht müssen sie sich auch psychologisch begleiten lassen. Im Übrigen ist aber durch Studien empirisch widerlegt, dass alle Leihmütter im Nachhinein bedauern, das Kind, das sie geboren haben, abgegeben zu haben.

Was Sie beschreiben, klingt nach einer selbstlosen, altruistischen Leihmutterschaft. Aber stehen hinter der behaupteten Freiwilligkeit nicht doch meist wirtschaftliche Zwänge?

Vorweg: Ich bin niemand, der einem rein altruistischen Verfahren das Wort redet. Eine Aufwandsentschädigung sollte möglich sein angesichts der Tatsache, dass eine Leihmutter Zeit investiert und körperliche Risiken eingeht. Trotzdem kann sie in ihrer Entscheidung eine schöne, altruistische Tat sehen. Viele meiner Medizinstudierenden entscheiden sich für den Arztberuf, weil sie es schön finden, anderen zu helfen. Deswegen werden sie aber nicht auf ein Einkommen verzichten. Solche gemischten Motive sehen wir bei vielen der Frauen, die sich etwa in Großbritannien oder manchen US-Bundesstaaten – nicht aus purer existenzieller Not heraus – dafür entscheiden. Das sind eben keine krassen Ausbeutungsverhältnisse. Wenn wir wirklich Ausbeutung bekämpfen wollen, sollten wir uns lieber mit den Menschen beschäftigen, die für Amazon Pakete austragen.

In Deutschland fordert der Gesetzgeber eine „verbindliche Eltern-Kind-Zuordnung“. Mutter eines Kindes ist die Frau, die es geboren hat. Sollen wir uns Ihrer Ansicht nach davon verabschieden?

Von diesem Grundsatz abzuweichen, wäre schon eine ziemliche Zäsur. Allerdings hat die Ampelkoalition sich vorgenommen, bei lesbischen Paaren die Co-Mutterschaft mit der Geburt des Kindes anzuerkennen. Hier würden wir also bereits davon abweichen. Das öffnet auch einer entsprechenden Regelung für die Leihmutterschaft eine Tür. Gleichwohl stellt uns das Thema vor schwierige Fragen: Wie geht man mit Komplikationen in der Schwangerschaft um? Wie soll eine angemessene Aufwandsentschädigung aussehen? Ich kann mir vorstellen, dass auch hierüber in Deutschland bald konstruktiv gestritten wird. Dass Leihmutterschaft radikal gegen die Menschenwürde verstößt, ist jedenfalls keine seriöse Sichtweise mehr.

Eine der heikelsten Fragen lautet: Was, wenn die Wunscheltern das Kind doch nicht wollen, etwa, weil es eine Behinderung hat?

Dem kann man rechtlich entgegenwirken, indem man festlegt: Ab der Geburt sind die Wunscheltern rechtlich zuständig. Aber dies hätte einen entscheidenden Nachteil, den Sie ja angedeutet haben: In diesem Fall hätte die Leihmutter keine Chance, das Kind selbst zu behalten, wenn sie während der Schwangerschaft doch wider Erwarten eine enge Bindung aufgebaut hat. Wenn man diesen Aspekt für wichtig hält, sollte man lieber vorgehen wie bei einer Adoption. Da hat die leibliche Mutter sechs Wochen Zeit, ihre Entscheidung zu revidieren. Man kann aber nur eins von beidem erreichen: Entweder die klare Zuordnung zu den Wunscheltern oder die Entscheidungsfreiheit der Leihmutter, das Kind zu behalten. Das sind reale Schwierigkeiten, vor denen man steht, wenn man ein Leihmutterschaftsgesetz verabschieden will. Aber denen muss man sich stellen, statt auf den nachvollziehbaren Wunsch nach Familiengründung mit fundamentaler Ablehnung zu reagieren.

Angesichts der gelebten Praxis geht es bei einer Legalisierung aus Ihrer Sicht statt um „Ja oder Nein“ nur noch um „So oder So“?

Es hat zumindest eine heuchlerische Dimension, zu beklagen, dass Frauen im Ausland ausgebeutet werden und Kinder nicht aus der Ukraine nach Deutschland geholt werden können und gleichzeitig ein derart radikales Verbot für Deutschland auszusprechen. Viele der diskutierten Fragen könnten hier bei uns zufriedenstellend gelöst werden, ohne Ausbeutung und ohne den Wunscheltern solche schweren Bürden aufzuerlegen.

Ein weiterer wichtiger Gesichtspunkt ist übrigens die Gleichstellung homosexueller Paare. Es muss darum gehen, auch den Wunsch dieser Paare nach Familiengründung ernst zu nehmen – aus moralischer Überzeugung. Es geht um Gerechtigkeit. Wir haben guten Grund, den Wunsch schwuler Paare nach Elternschaft ähnlich ernst zu nehmen wie bei heterosexuellen oder lesbischen Paaren. Und hier sollten wir uns auch dem Thema Leihmutterschaft nähern – sachlich und ohne Pauschalisierungen.

Die Möglichkeit einer Adoption steht schwulen Paaren doch auch offen.

Man muss sehen, dass die Adoption in Deutschland für Paare mit unerfülltem Kinderwunsch keine verlässliche Perspektive bietet. Pro Jahr werden in Deutschland überhaupt nur rund 1000 Kleinkinder zur Adoption freigegeben. Das Verhältnis von adoptierten Kindern und solchen, die mit Hilfe von Fortpflanzungsmedizin gezeugt werden, beträgt eins zu zwanzig bis eins zu dreißig. Adoption ist also keine Lösung – und für ein schwules Paar schon gar nicht. Diese Paare würden ewig warten, weil sie auf den Wartelisten ganz nach hinten rutschen. Die Jugendämter orientieren sich an traditionellen Vorstellungen vom Kindeswohl. Damit schwule Paare zu einem Adoptivkind kommen, braucht es schon ein ausgesprochen mutiges Jugendamt.

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