Braunschweig. Der ehemalige Ministerpräsident erzählt, wie er den Straßenkarneval in die Region brachte. „Anfangs zeigten uns manche einen Vogel.“

Die Karnevalsstimmung ist im Eimer. Wäre der Braunschweiger Karnevalszug nicht bereits Anfang des Jahres wegen der Corona-Pandemie abgesagt worden, hätte ihm wohl Putins Angriffskrieg in der Ukraine den Garaus gemacht. Bereits 1991 war der Zug dem Golfkrieg zum Opfer gefallen. Gerhard Glogowski, ehemaliger Oberbürgermeister von Braunschweig und Ministerpräsident von Niedersachsen (SPD), ist der Gründervater des Braunschweiger Karnevalszugs. Im Interview, das bereits in der Woche vor dem russischen Überfall geführt wurde und deshalb nicht Bezug auf die Situation in der Ukraine nimmt, blicken wir zurück auf die Entstehung und Entwicklung des Schoduvels.

Sie sind in Bonn aufgewachsen. Ihr Vater war der Chauffeur der SPD-Vorsitzenden Kurt Schumacher und Erich Ollenhauer. Wie viel rheinische Karneval-Kultur haben Sie dort aufgenommen?

Als wir 1950 nach Bonn zogen, war ich sieben Jahre alt. Für uns kleine Kinder war der Karneval etwas Tolles – vor allem natürlich die „Kamelle“. Am Meisten davon gab es am Wagen des Prinzen. Wenn es hieß „De Prinz kütt“, sind alle Kinder dort hingerannt. 1951 war eine Tüte Bonbons noch etwas Besonderes. Meine Eltern waren ja nicht gerade gut situiert. Die wären nie auf die Idee gekommen, das knappe Geld für Süßigkeiten auszugeben. Später, mit 18, war ich in Bonn auch in einer Karnevalsgesellschaft. Ich wurde sogar zum Tanzoffizier auserkoren. Das war eine Ehre erster Güte. Da ich damals ein guter Tänzer war – im Rock’n’Roll war ich sogar mal Vizemeister in Bonn – hätte ich das gern gemacht. Leider musste ich das Amt zurückgeben, weil es mit meiner Ausbildung nicht unter einen Hut zu bekommen war. Um eine Hochschulzugangsberechtigung zu bekommen, ging ich zur Abendschule. Als Tanzoffizier muss man während der Karnevalssaison aber fast jeden Abend öffentlich auftreten. Das vertrug sich nicht. Mit 19 bin ich dann aus Bonn weggezogen, um mich auf mein Studium vorzubereiten. Man kann aber sagen: Ich habe in Bonn meine Karneval-Sozialisierung erfahren. Das gehörte schon früh zu meinem Leben.

1976 wurden sie mit nur 33 Jahren Oberbürgermeister von Braunschweig. Wie haben Sie den Karneval nach Braunschweig gebracht?

Als ich schon Oberbürgermeister war, fuhr ich immer noch fast jedes Jahr zum Rosenmontag ins Rheinland. Damals habe ich mir gedacht: Karneval auf der Straße – warum soll das nicht auch in Braunschweig gehen? 1979 habe ich deshalb die Vorsitzenden der Karnevalsgesellschaften, die ich alle gut kannte, zusammengetrommelt und sie überredet, dass wir das machen.

Wie viel Überzeugungsarbeit hat Sie das gekostet?

Natürlich waren die drei Präsidenten – Hannes Mertens, Horst Melzer und Norbert Czok – schon karnevalsbegeistert. Trotzdem war es nicht einfach, sie von einem Umzug zu überzeugen. Die haben sich am Anfang noch nicht getraut, mit ihrem Karneval auch auf die Straße zu gehen. Um das zu tun, braucht man ja nicht nur innere Überzeugung, es muss einem auch Spaß machen. Aber schließlich haben sie alle mitgemacht. Vor allem haben sie in ihren Reihen schnell Leute gefunden, die bereit waren, all das zu organisieren.

„Erfolg bedeutet nun mal: immer mehr. Dem haben wir anfangs etwas auf die Sprünge geholfen“, so Gerhard Glogowski.
„Erfolg bedeutet nun mal: immer mehr. Dem haben wir anfangs etwas auf die Sprünge geholfen“, so Gerhard Glogowski. © Braunschweiger Zeitung | Bernward Comes

Uns allen war klar, dass so ein Umzug erstmal nur wenige Leute interessieren wird. Also habe ich alle Braunschweiger Kindergärten und Schulen eingeladen, teilzunehmen. Allerdings machte uns 1979 das Wetter einen Strich durch die Rechnung. Bei 50 Zentimetern Schnee war ein Umzug schlicht nicht möglich. Aber jetzt alle waren entschlossen: Dann eben im nächsten Jahr.

Wie hat die Braunschweiger Bevölkerung auf die ersten Karnevalsumzüge, die ja Kinderumzüge waren, reagiert?

Während die Leute im Rheinland den Karneval im Blut haben, ist das in Braunschweig natürlich erstmal etwas Aufgesetztes. Wir wissen heute zwar, dass es hier schon im Mittelalter einen „Schoduvel“ gab. Aber die Menschen haben den Karneval in Braunschweig lange nicht gelebt. Am Anfang hatten wir noch keine großen Wagen. Wir sind damals vom Altstadtrathaus durch die Innenstadt gezogen. Während wir winkten und Helau riefen, guckten viele Leute erstmal erstaunt oder skeptisch. Manche zeigten uns auch einen Vogel. Aber wir haben das tapfer durchgestanden. Und die Menschen haben es dann übernommen. Die Braunschweiger sind genauso lustig wie die Bonner. Sie zeigen es nur nicht so gern. Weil ich davon immer überzeugt war, hatte ich auch Wirkung und konnte die Menschen überzeugen.

Und die Geldgeber ebenfalls.

Ja. So ein Karnevalszug kostet eine Menge Geld – selbst wenn niemand etwas daran verdient. Etwa die Wagen: Für den Karneval ist wesentlich, dass die Leute etwas zu gucken haben. Es war aber von Anfang an klar, dass die Karnevalisten die Wagen nicht selbst würden bezahlen können. Also habe ich zusammen mit Dietrich Fürst, dem damaligen Generalbevollmächtigten der Nord/LB, mittelständische Unternehmer der Region eingeladen, und die haben uns sehr geholfen. Einen Karnevalswagen zu sponsern, kostete damals schon 15.000 Mark. Das war nicht wenig, wenn man bedenkt, dass der Karnevalszug anders als heute noch nicht etabliert war. Trotzdem haben wir von Anfang an vermieden, dass der Zug mit Werbung vollgepflastert wird. Die Sponsoren gaben ihr Geld, weil sie das wollten.

Zur Person

Gerhard Glogowski wurde 1943 in Hannover-Linden geboren – damals ein Arbeiterstadtteil. 1950 zog er mit seinen Eltern nach Bonn.

Von 1976 bis 1981 und erneut von 1986 bis 1990 war der konservative Sozialdemokrat ehrenamtlicher Oberbürgermeister von Braunschweig.

Der ehemalige Ministerpräsident und Innenminister Niedersachsens ist Ehrenbürger von Braunschweig und Ehrenzugmarschall des „Schoduvel“.

Wie konnte aus einem Kinderumzug der größte Karnevalsumzug Norddeutschlands werden?

Zu Kindern gehören Eltern und Großeltern. Kinder verkleiden sich gerne, Oma und Opa erstmal nicht. Zumindest war das hier damals so, anders als im Rheinland, wo man bestaunt wird, wenn man sich zu Karneval nicht kostümiert. Aber nach und nach haben sich die Leute anstecken lassen. Für diese wachsende Begeisterung waren die Kinder der Schlüssel. Auch auf den Dörfern in der Umgebung mussten die Leute erstmal begeistert werden, auch wenn es mancherorts, zum Beispiel in Schandelah, schon Karnevalsgesellschaften gab. Ich habe mir immer wieder die Zeit genommen, die Leute zum Mitmachen zu animieren. Heute ist das Umland mit vielen interessanten Wagen dabei. So wurde der Zug immer schöner und wuchs von Mal zu Mal.

Gab es einen Moment an dem ihnen klar wurde: Jetzt ist der Braunschweiger Karneval eine richtig große Sache?

Nicht wirklich. Ich hatte das eigentlich von Anfang an erhofft – und auch erwartet. Sonst hätte ich das auch nicht mit Überzeugung vertreten können. Es wuchs ja auch ganz allmählich. Erst kamen wenige Tausend Zuschauer, dann Zehntausende, dann wurden es immer mehr. Heute kann ich zugeben, dass ich anfangs auch bereit war, die Besucherzahlen etwas schönzureden. Ich habe nett zur Polizei gesagt: Es tut doch keinem weh, wenn ihr bei der Besucherzahl nun 4000 statt 2000 schreibt. Erfolg bedeutet nun mal: immer mehr. Dem haben wir anfangs etwas auf die Sprünge geholfen. Irgendwann war das aber gar nicht mehr nötig. 1992, nachdem der Karnevalszug im Vorjahr wegen des Golfkriegs ausgefallen war, kamen mehr als 250.000 Menschen. Seitdem waren es immer über 200.000.

Für viele Besucher sind die zahlreichen Musikkapellen ein Grund, sich den Zug anzusehen.

Als wir angefangen haben, hatten wir in Braunschweig noch Dutzende Kapellen. Die freuten sich über die Möglichkeit, aufzutreten. Dadurch hatten wir Musik, ohne dass es uns viel gekostet hat. Heute kann man die verbliebenen Kapellen in der Stadt leider an einer Hand abzählen. Dafür kommen Gruppen aus ganz Norddeutschland. Deren Anfahrt und Verpflegung kostet natürlich Geld. Auch dafür ist es wichtig, dass wir Sponsoren an Bord haben. VW Financial Services hat den Zug viele Jahre hinweg finanziert. Man darf nicht vergessen: Der Karneval hat keine institutionellen Förderer und lag immer außerhalb der städtischen Finanzzuweisungen. Aber geholfen hat die Stadt natürlich schon, etwa indem sie die Straßen abgesperrt und anschließend unentgeltlich wieder gereinigt hat.

Gibt es eine ganz besondere Erinnerung, die Sie mit dem Braunschweiger Karneval verbinden?

Ein besonderes Ereignis war das erste Spitzentreffen zwischen ost- und westdeutschen Karnevalisten nach der Grenzöffnung. Damals war ich sehr viel in der DDR unterwegs. In Dessau lernte ich den Vorsitzenden des Karnevals in der DDR kennen. Da ich seinen westdeutschen Amtskollegen kannte, habe ich dann dieses Treffen arrangiert. Die Wiedervereinigung des deutschen Karnevals hat am 3. Januar 1990 in Braunschweig stattgefunden – in meinem Büro. Im Herbst fand dann in der Stadthalle die erste gesamtdeutsche Mitgliederversammlung statt.

Wie haben Sie die Karnevalisten aus der DDR erlebt?

„Ich habe die Karnevalisten in der DDR bewundert. Wer dort Karneval machte, stand immer mit einem Bein im Gefängnis“, sagt Gerhard Glogowski.
„Ich habe die Karnevalisten in der DDR bewundert. Wer dort Karneval machte, stand immer mit einem Bein im Gefängnis“, sagt Gerhard Glogowski. © Braunschweiger Zeitung | Bernward Comes

Vor dem Mauerfall mussten die DDR-Karnevalisten ihre Büttenreden immer vorab der Stasi zur Zensur vorlegen. Da die Stasi nicht gerade für ihren Humor bekannt ist, enthielten die Reden überhaupt keine Kritik mehr. Entsprechend waren diese Redner aber Meister darin, ihre Witze allein durch Mimik, Gestik und Betonungen auszudrücken. Ich habe die Karnevalisten dort dafür bewundert. Wer in der DDR Karneval machte, stand immer mit einem Bein im Gefängnis.

Wie erinnern Sie sich an den Karnevalsumzug 2000, als Sie erstmals nach Ihrem Rücktritt als Ministerpräsident wieder öffentlich auftraten? Viele Braunschweiger denken durchaus noch mit Rührung daran zurück.

Ich will Ihnen sagen: Ich war in dieser Zeit ziemlich angeschlagen, sonst wäre ich damals vielleicht gar nicht zurückgetreten. Aber in Braunschweig habe ich auch danach nicht einen Menschen erlebt, der mich beschimpft oder beschuldigt hätte.

Im Gegenteil, alle waren sehr liebenswürdig zu mir. Das hat mir sehr geholfen in meinem Leben, und das habe ich auch da gespürt. Praktisch alles, was ich gemacht habe und mache, auch der Karneval, hat mit der Braunschweigischen Identität zu tun. Das hat mir zwar in Hannover wenig geholfen, aber es hat offenbar dazu geführt, dass die Menschen hier mich mögen.

Wie hat man in Hannover auf das karnevalistische Treiben in Braunschweig geblickt?

Natürlich erinnere ich mich an den einen oder anderen bissigen Kommentar von Gerhard Schröder. Andererseits habe ich oft Freunde aus der Politik eingeladen, mich auf den Karnevalsumzug in Braunschweig zu begleiten. Und das hat allen immer Spaß gemacht.

Welchen Platz hat der Karneval in ihrem Lebenswerk?

Wenn ich auf mein Leben zurückblicke, ist der Karneval tatsächlich eine der wichtigsten Geschichten für mich. Und zwar, weil es mir gelungen ist, die Braunschweiger – die Vereine ebenso wie die Unterstützer – zu überzeugen, etwas zu wagen. Dass das gelungen ist, darauf bin ich heute noch stolz. Welcher Politiker kann schon von sich behaupten, dass er Hunderttausenden Menschen Freude bereitet hat? Ich war damals in der Lage, vieles positiv zu gestalten. Das ging aber nur, weil es Leute gab, die all das machten. Operativ habe ich ja nie eine Hand gerührt.

Wie sieht Ihr Programm für den Karnevalssonntag aus, wenn dieses Jahr erneut kein Schoduvel durch Braunschweig rauscht?

Dann bin ich traurig. (Schmunzelt) Aber wissen Sie, was mich sorgt? Der Neubeginn des Karnevals nach Corona. Da werden erstmal deutlich weniger Menschen da sein. Nach zwei Jahren Pause erinnern sich jüngere Kinder gar nicht mehr an ihren letzten Schoduvel. Die Begeisterung muss neu geweckt werden – eine schwierige Aufgabe für die Verantwortlichen. Wir sollten die Erwartungen daher nicht zu hoch stecken und erst langsam wieder nach oben schrauben. Aber ich bin überzeugt, dass der Karneval auch diese Pandemie überlebt. Der Bazillus Karneval ist stärker als das Virus Corona.

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