Braunschweig. Der Politikwissenschaftler Ulrich Menzel in einem Gastkommentar über den Hintergrund eines hochinteressanten „Ampel“-Gerüchts.

Am 10. November berichtet die Tagesschau auf ihrer Internetseite unter dem Titel „Das Ende des Entwicklungsministeriums?“, aus den Ampel-Verhandlungen sei durchgesickert, das Bundesministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit (BMZ) abzuwickeln und zu einer Abteilung des Auswärtigen Amtes zu degradieren. Vordergründig ginge es darum, den Etat des BMZ von 12,43 Milliarden Euro (2021) umzuschichten, um damit Maßnahmen gegen den Klimawandel zu finanzieren.

Der BMZ-Etat gehört zu den mittelgroßen im Bundeshaushalt und beträgt etwa das Fünffache des Etats des Umweltministeriums. Die Absicht lässt sich auch als Kritik an der Afghanistan-Politik des BMZ lesen, hat dessen beträchtlicher Mitteleinsatz doch eher die Korruption gefördert als dem Land genützt, war womöglich sogar kontraproduktiv zum Einsatz der Bundeswehr. Zur Meldung passt, dass auch die britische Regierung beabsichtigt, ihre Entwicklungshilfe von 15 auf 10 Milliarden Pfund zu reduzieren.

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Wird die Entwicklungsarbeit erfolglos instrumentalisiert?

Deutsche Entwicklungshilfe
Deutsche Entwicklungshilfe © Jürgen Runo

Was sagen die Zahlen? Im Zeitraum von 1998 bis 2020 sind die öffentlichen Mittel der Entwicklungszusammenarbeit (EZ) von etwa 5 Milliarden auf 23,4 Milliarden gestiegen. Auffällig ist die sprunghafte Steigerung 2015/16, die besonders die bilateralen Zahlungen betrifft. Die Annahme liegt nahe, dass beides eine Reaktion auf die Flüchtlingskrise war. Sie wird erhärtet durch die regionale Verteilung der Gelder auf die wichtigsten Empfängerländer. Auf Platz 1, 4 und 5 (2019) stehen mit Syrien, Afghanistan und Irak die wichtigsten Herkunftsländer der Flüchtlinge, auf Platz 8 und 9 mit Jemen und Libanon zwei zerfallene Staaten, die womöglich Ursprung neuer Flüchtlingsströme werden. Irritierend ist, dass China auf Platz 3 steht, obwohl die zweitgrößte Volkswirtschaft der Welt sich selber helfen kann und auch selber in Afrika als „Entwicklungshelfer“ auftritt. Hier scheint das Motiv auf, Einfluss auf China nehmen zu können. Es bleibt der Eindruck, dass die EZ erfolglos instrumentalisiert wird.

Unentwickelten Ländern helfen, sich nach westlichem Vorbild zu entwickeln

Hintergründig geht es um vielmehr – unabhängig davon, ob die kolportierte Absicht sich bewahrheitet. Allein deren Meldung ist von großer symbolischer Bedeutung, die einen kurzen Rückblick verlangt. Begründet wurde das Politikfeld 1949 mit dem „point four“ der Inauguraladresse des frischgewählten US-Präsidenten Truman. Den unentwickelten Ländern sollte geholfen werden, sich nach westlichem Vorbild zu entwickeln, um nicht dem Sog des sozialistischen Lagers zu erliegen. Entwicklungshilfe als neues Instrument im Ost-West-Konflikt. In bundesdeutscher Version geschah das erst 1961 mit der Gründung des BMZ zur Unterfütterung der Hallstein-Doktrin zwecks Verhinderung der diplomatischen Anerkennung der DDR. Wer diese nicht anerkennt, wird mit Entwicklungshilfe belohnt. Deren Verwendung war eher nebensächlich.

Politik-Professor Ulrich Menzel.
Politik-Professor Ulrich Menzel. © Bernward Comes

Die große Zeit der deutschen EZ fiel in die Jahre 1968 bis 1974, als Erhard Eppler dem Ministerium vorstand. Erstmals sollte die Entwicklungshilfe um ihrer selbst betrieben werden. „Wenig Zeit für die Dritte Welt“ lautete der Titel seines programmatischen Buches 1971. Wie auf vielen anderen Feldern verhieß die Regierung Brandt/Scheel den großen Aufbruch, die eine ganze Generation von Studierenden und Lehrenden erfasste. Auf dem Feld der internationalen Politik strömte die eine Hälfte der Zunft zur Friedens- und Konfliktforschung (FKF), die andere Hälfte, den Autor eingeschlossen, zur Entwicklungsforschung. Neue Disziplinen wie die Entwicklungspolitik, die Entwicklungssoziologie und die Entwicklungsökonomie wurden etabliert, Institute und Zeitschriften gegründet, Lehrveranstaltungen und Tagungen kreiert, die weit über den akademischen Bereich in die Zivilgesellschaft ausstrahlten.

Entwicklungszusammenarbeit hat mehr geschadet als genutzt

Gemeinsam war allen Akteuren die Idee, Frieden und Entwicklung für die ganze Welt ist möglich, und die Wissenschaft kann dazu einen Beitrag leisten, der über die Politikberatung in entsprechende Strategien und Projekte mündet, die notwendigen Fachleute ausbildet und den öffentlichen Diskurs bestimmt, um die Politik zum Handeln zu treiben. Welche Theorie die richtige ist, wie man überhaupt zur richtigen Erkenntnis kommt, darüber wurde engagiert gestritten. Die methodische Spannbreite reichte von strukturalistischen Weltsystemtheorien bis zu mikrosoziologischen Dorfstudien. Inhaltlich verlief die Kontroverse zwischen vorrangig interner oder externer, wirtschaftlicher oder sozialer Verursachung der Entwicklungsblockaden. Unter dem Label Dependenztheorie wurden der Kolonialismus, der Weltmarkt, das Agieren Multinationaler Konzerne, unter dem Label Modernisierungstheorie traditionale Verhaltensweisen und politische Systeme verantwortlich gemacht. Die eine strategische Konsequenz lautete Neue Weltwirtschaftsordnung, die andere Bildung und Ausbildung, Bodenreformen und Demokratisierung. Die Debatten schlugen sich nieder in den vielen strategischen Wechseln über Ziele und Instrumente, die von der Uno oder der Weltbank propagiert und vom BMZ mitvollzogen wurden.

Entwicklungshilfe Empfängerländer
Entwicklungshilfe Empfängerländer © Jürgen Runo

Betrachtet man die tatsächliche Entwicklung in der früheren sogenannten Dritten Welt im Lichte der großen Theorien, ist seit geraumer Zeit eine große Ernüchterung eingetreten. So wie die FKF konstatieren muss, dass die Welt auch nach Ende des Ost-West-Konflikts nicht friedlicher geworden ist, so gilt der gleiche Befund für die Entwicklungsforschung. Es ist zwar in einer beträchtlichen Zahl von Ländern Ost- und Südostasiens zu Entwicklung gekommen, doch ist diese nicht auf die westliche EZ und die dieser zugrundeliegenden Theorien zurückzuführen. Vielmehr basiert sie auf den Eigenanstrengungen der Länder, die weder den Weltmarkt gescheut haben noch den marktwirtschaftlichen Weg gegangen sind, sondern sich am Modell des bürokratischen Entwicklungsstaates orientieren. Japan war im 19. Jahrhundert der Vorreiter, China ist es heute. Umgekehrt hat etwa in Subsahara-Afrika, da wo besonders viel Hilfe geleistet wurde, kaum Entwicklung stattgefunden, grassieren vielmehr Krieg und Staatszerfall. Es gibt sogar gute Argumente, dass die EZ mehr geschadet als genutzt hat, fördert sie doch die Rentenorientierung der Staatskassen, die nur unzureichend mit Korruption umschrieben wird.

Grundidee der Entwicklungszusammenarbeit ist eine große Illusion

In Marktwirtschaften resultieren Einkommen aus unternehmerischer Tätigkeit, aus Investitionen, Innovation und Risikobereitschaft. Im rentenbasierten System resultieren sie aus politischer Kontrolle über Ressourcen oder Institutionen wie Bodenschätze, Tropenwald, Fischgründe, aus der Besteuerung des Außenhandels, dem Zugriff auf die Entwicklungs- und sogar die Katastrophenhilfe. Die vielen Putsche gerade in afrikanischen Ländern lassen sich als Kampf um die Rente erklären. Frieden und Entwicklung beziehungsweise Krieg und Nichtentwicklung bedingen sich gegenseitig. Ein besonders eindrückliches Beispiel ist Afghanistan. Damit sind wir wieder bei den Ampel-Verhandlungen.

Allein der Bericht der Tagesschau, unabhängig davon ob und wie die Absicht realisiert wird, markiert das Eingeständnis, dass die Grundidee der EZ, Entwicklung sei von außen zu inszenieren, zumindest zu unterstützen, sich als große Illusion erwiesen hat. Entwickeln können sich die Länder nur selber, auch wenn der Weg nicht der westliche sein muss. Insofern ist es nur konsequent, wenn das BMZ tatsächlich abgewickelt werden sollte. Das heißt natürlich nicht, dass damit auch die humanitäre Hilfe ad acta gelegt wird. Sie wird in Zukunft nötiger sein denn je – und hierfür liefert der BMZ-Etat auch ein Umschichtungspotenzial.