Braunschweig. Interview: Impfstoff-Experte Carlos Guzmán setzt zum Schutz gegen neue Corona-Varianten auf Totimpfstoffe und lokale Immunität.

Angesichts immer neuer Mutanten erscheint die Corona-Impfung wie ein Wettlauf mit dem Virus. Mit dem Impfstoff-Experten Carlos A. Guzmán sprachen wir über Virus-Varianten, die Vakzine und deren mehr oder weniger überraschende Nebenwirkungen.

Wie gerechtfertigt war die jüngste Aufregung um die Nebenwirkungen von Corona-Impfungen?

Die Impfreaktionen, die wir nach den Impfungen mit dem Astrazeneca-Vakzin gesehen haben, sind mehr oder weniger das, was ich erwartet hatte. Im Prinzip stimmen die Impfreaktionen, die die Hersteller in den Studien beschrieben haben, mit dem überein, was sich gezeigt hat. Astrazeneca hatte vorab sogar außerordentlich genau Auskunft gegeben über die Art, die Häufigkeit und den Verlauf der Nebenwirkungen. Diese weichen auch nicht wesentlich von denen bei Präparaten anderer Hersteller ab – wie Biontech/Pfizer oder Moderna. Zwar hatte ein leicht höherer Anteil der mit Astrazeneca Geimpften Fieber, bei Kopfschmerzen und Abgeschlagenheit gibt es aber kaum Unterschiede. Und was Schmerzen angeht, schneidet Astrazeneca sogar etwas besser ab als Biontech/Pfizer.

Wie erklären Sie die Kluft zwischen den Ergebnissen der Studien und dem, was die Menschen – auch in der Region – erlebt haben? Am Braunschweiger HEH-Krankenhaus meldeten sich immerhin 37 von 88 Geimpften krank.

Überrascht war ich vor allem über das Überraschtsein der anderen. Ich vermute, dass unterschiedliche Wahrnehmungen eine Rolle gespielt haben. Während in den Studien genau definiert war, dass eine Körpertemperatur ab 38 Grad als Fieber gilt, zählt im Alltag verständlicherweise vor allem individuelles Empfinden. Viele Menschen fühlen sich schon mit 37,5 Grad schlecht und empfinden das vielleicht als Fieber. Aber für Vergleiche mit den Ergebnissen klinischer Studien mit ihren klar definierten Kategorien taugt das natürlich nicht. Ich könnte mir vorstellen, dass das ein Stück zur Verwirrung beigetragen hat. Mein Fazit: Ich sehe keinen Grund, Alarm zu schlagen. Es stimmt zwar: Etwa drei von vier Geimpften müssen kurzzeitig gewisse Unannehmlichkeiten hinnehmen – bei allen bisher zugelassenen Impfstoffen. Aber die Risiko-Nutzen-Abwägung fällt unglaublich positiv aus.

Trotzdem liegt Deutschland beim Impftempo im EU-Vergleich nur im Mittelfeld.

Das ist bedauerlich. Schließlich zählt in Deutschland rund ein Drittel aller Menschen zur Risikogruppe der Älteren und Vorerkrankten. Und vor allem die müssen wir schützen, um diese Pandemie unter Kontrolle zu bekommen. Überspitzt gesagt: Unser Problem ist nicht Covid als Infektion, sondern die Covid-Extremfälle. Den hiervon bedrohten Menschen kann die Impfung das Leben retten und die Lebensqualität zurückbringen. Je länger wir sie aber allein lassen, umso mehr drohen andere schlimme Folgen wie Depressionen. Die Risikogruppen müssen immunisiert werden, so schnell wie möglich. Wenn wir das geschafft haben, sind wir der Lösung ein großes Stück näher.

Sie befassen sich seit bald drei Jahrzehnten mit Impfstoffen. Wie gut sind die Corona-Impfstoffe, die wir jetzt haben?

Lassen Sie mich zunächst eine Sache klarstellen, die oft falsch verstanden wird: Die Angaben zur Wirksamkeit sind relativ zu verstehen. Deswegen ist diese Zahl am Ende des Tages weniger wichtig, als man vielleicht annimmt. Wenn zum Beispiel der Impfstoff von Biontech/Pfizer eine Effizienz von 95 Prozent hat,

Die verschiedenen Impfstofftypen gegen Covid-19.
Die verschiedenen Impfstofftypen gegen Covid-19. © dpa | Runo

heißt das nicht, dass fünf Prozent der Geimpften Covid bekommen. Tatsächlich geht es um eine relative Verringerung des Risikos. Wenn, wie im Fall von Astrazeneca, das eigene Risiko einer Covid-Erkrankung um 70 Prozent verringert ist, dann ist das super. Auch eine Wirksamkeit von 50 Prozent ist noch gut. Erst unterhalb dieser Marke wird ein Impfstoff nicht zugelassen. Hinzu kommen zwei weitere Dinge: Erstens wird die Schwere des Krankheitsverlaufes abgemildert. Und zweitens sorgt die Impfung für einen besseren Immunschutz als eine natürliche Infektion – und zwar auch gegen Virus-Mutationen wie die ansteckendere britische Variante.

Weniger wirksam ist der Impfschutz aber offenbar gegen die südafrikanische Corona-Variante.

Das stimmt. Bei manchen Varianten ist die neutralisierende Wirkung geringer. Das heißt aber nicht, dass es keinen Schutz gibt. Ich nehme an, dass der Verlauf immer noch deutlich milder ist als ohne Impfung. Das Beispiel zeigt aber auch, dass die Frage nach der Wirksamkeit komplex ist – weil sie von vielen Faktoren abhängt: Um welche Varianten des Virus geht es? Reden wir vom Schutz gegen schwere oder auch gegen asymptomatische Verläufe? Ich denke: Wenn die Impfung verhindert, dass jemand wegen Covid im Krankenhaus landet, dann ist das ein großer Erfolg. Gleichwohl gibt es beim Thema Immunität nicht nur Schwarz oder Weiß. Die Sache ist eben komplizierter als ein möglicher Stempel im Impfausweis glauben macht.

Es gibt immer mehr Corona-Impfstoffe. Warum ist das wichtig?

Allein schon aus logistischen Gründen. Die nötige Kühlkette für den Biontech/Pfizer-Impfstoff zu organisieren, ist ein Alptraum. (lacht) Bei anderen mRNA-Impfstoffen, wie denen von Moderna und Curevac, sieht es schon etwas besser aus. Aber die Impfstoffe von Astrazeneca oder der russische Impfstoff Sputnik V sind deutlich einfacher zu handhaben, weil für die Lagerung ein normaler Kühlschrank ausreicht. Und auch die Kosten dürfen wir nicht vergessen. Zwischen den Preisen von Biontech/Pfizer und Astrazeneca klafft bekanntlich eine ziemliche Lücke. Andere Impfstoffe, wie der von Johnson & Johnson, versprechen, dass eine einmalige Impfung ausreicht, was auch Vorteile hätte. Aus all diesen Gründen ist eine Vielfalt von Impfstoffen eine Bereicherung. Zudem stellen die unterschiedlichen Ansätze und Technologien sicher, dass wir am Ende des Tages Impfstoffe mit der angemessenen Sicherheit und Wirksamkeit für die verschiedenen von ernsthaften Covid-Verläufen bedrohten Bevölkerungsgruppen haben. Und zuletzt der vielleicht offensichtlichste Grund: Die Menge an Impfdosen, die wir benötigen, um die weltweite Nachfrage zu stillen, könnte niemals ein einziger Hersteller alleine produzieren.

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Der Astrazeneca-Impfstoff ist vergleichsweise günstig, aber sein Image ist angekratzt. Auch bei den Experten?

Bei den klinischen Prüfungen ist manches nicht optimal gelaufen. Das Verhältnis von weiblichen und männlichen Probanden war nicht ausgewogen. Die verabreichten Dosen waren nicht durchgängig identisch. Auch die Zeiträume zwischen den beiden Dosen waren bei der Studie unterschiedlich. Das Hauptproblem aber war, dass zu wenig ältere Menschen teilgenommen haben, weshalb es hier an aussagekräftigen Daten mangelte. Deshalb war es richtig, dass die Ständige Impfkommission diesen Impfstoff für ältere Menschen über 65 Jahre nicht empfohlen hat. Auf der anderen Seite gilt: Auch dieser Impfstoff ist sicher und wirksam. Sonst hätte die Europäische Arzneimittelbehörde EMA ihn nicht zugelassen. Mittlerweile sieht die Datenbasis übrigens besser aus, weshalb man über eine erweiterte Empfehlung auch für über 65-Jährige neu nachdenken könnte.

Wie bewerten Sie den russischen Impfstoff Sputnik V?

Was über den Impfstoff bereits bekannt ist, legt nahe, dass die Wirkung und die Nebenwirkungen sich in einem ähnlichen Rahmen bewegen wie die bei Astrazeneca. Das Gamaleja-Zentrum in Moskau, das den Impfstoff entwickelt hat, hat in der Zwischenzeit die Ergebnisse seiner laufenden Phase-3-Wirksamkeitsstudie veröffentlicht. Die Studie zeigt eine Wirksamkeit von 91,6 Prozent. Allerdings war auch hier, wie schon bei Astrazeneca, der Anteil der Probanden über 60 Jahre relativ gering: rund 11 Prozent. Damit die EMA den Impfstoff prüfen und zulassen kann, müssen jetzt die noch fehlenden Daten vorgelegt werden. Dass die Impfstoff-Hersteller ein derartiges Maß an Transparenz herstellen, ist übrigens ein Novum – und auch dem großen Interesse der Öffentlichkeit geschuldet.

Ein Problem bei Vektorvirusimpfstoffen kann die bereits vorhandene Immunität gegen die Trägerviren sein. Das kann dazu führen, dass der Körper des Geimpften das Vektorvirus ausschaltet und die Immunantwort gegen Corona später schwächer ausfällt. Bei Sputnik V und Johnson & Johnson umgeht man dieses Problem durch die Nutzung von Trägerviren die nur selten in der Bevölkerung zirkulieren. Astrazeneca hat es bei seinem Vektorimpfstoff anders gemacht: Dort wurde zwar auch auf harmlose Adenoviren gesetzt – allerdings auf solche von Schimpansen. Diese Vektorviren hat unser Immunsystem noch nie gesehen, deshalb haben sie, vereinfacht gesagt, eine bessere Chance, durchzudringen. Es muss noch untersucht werden, ob die Immunantwort die wir gegen den heutigen Trägervirus sehen, zukünftig die Effizienz von anderen Impfstoffen auf Basis dieser Trägerviren beeinflusst.

Die zugelassenen Impfstoffe sind Vektorviren- und mRNA-Impfstoffe. Es gibt aber auch die Gruppe der Totimpfstoffe. Welche Besonderheiten haben diese?

Bei diesen Impfstoffen, von denen bislang noch keiner von der EMA geprüft wird, werden Partikel abgetöteter Coronaviren gespritzt. Zu dieser Gruppe gehören die chinesischen Vakzine von Sinopharm und Sinovac. Nach allem, was man hört, sind diese sehr verträglich. Allerdings fehlt es hier an veröffentlichten Daten, die uns erlauben würden, die Wirksamkeit zu beurteilen. Aus der Türkei, den Vereinigten Arabischen Emiraten und Bahrein, wo sie verabreicht werden, kommen vielversprechende Meldungen. Deshalb brauchen wir schnellstens mehr Informationen. Es besteht Hoffnung, dass diese Impfstoffe besser als unsere zugelassenen einen Immunschutz gegen die verschiedenen Varianten des Coronavirus schaffen. Da diese Totimpfstoffe nicht nur einzelne Corona-Spike-Proteine enthalten, sondern dem Immunsystem den Steckbrief des ganzen Coronavirus präsentieren, dürfte es neuen Mutanten schwerer fallen, der Immunantwort zu entkommen.

Wie aufwendig ist es, die Impfstoffe anzupassen, damit sie gegen die Varianten schützen?

Ich bezweifele, dass man dasselbe Vektorvirus beliebig oft nutzen kann, um eine Impfung aufzufrischen. Aber es laufen bereits Studien dazu, inwieweit verschiedene Impfungen kompatibel sind und sich kombinieren lassen. Den Impfstoffen von Astrazeneca oder Biontech ein Upgrade zu verpassen, etwa für die südafrikanische Corona-Variante, wäre relativ einfach. Ich könnte mir gut vorstellen, dass man für solche Fälle ermöglicht, dass die präklinischen und klinischen Studien dann etwas einfacher und schlanker ablaufen. Wir kennen das von den Grippeimpfstoffen. Denn auch hier müssen wir jedes Jahr eine veränderte Zusammensetzung auf den Markt bringen, um auf neue Varianten zu reagieren.

Wir dürfen aber auch nicht vergessen, dass wir immer noch nicht wissen, wie die Impfstoffe auf längere Sicht wirken. Alle Corona-Impfstoffe sind noch in der dritten Phase der klinischen Studien. Die EMA-Zulassungen sind bislang nur vorläufig. Wir wissen noch nicht, wie lange der Immunschutz anhält oder wie dieser aussieht, wenn die Zahl der Antikörper im Blut nachlässt. Und dann bleibt die offene Frage, wie sich die besorgniserregenden Virusvarianten entwickeln. Mutationen sind aber nicht zwangsläufig gefährlich, sie können auch zu milderen Verläufen führen – wie von anderen Viren bekannt. Erst die Zeit wird also zeigen, ob wir den Impfschutz später werden auffrischen müssen.

Zunehmend ist von einer neuen Generation Impfstoffe die Rede. Was ist damit gemeint?

Wir brauchen einen breiteren Ansatz – auch weil es nicht unwahrscheinlich ist, dass neue Varianten, wenn sie auftreten, gar nicht gleich erkannt werden. Am HZI haben wir gerade ein Projekt gestartet, in dem es darum geht, durch synthetische Varianten der Corona-Antigene eine breitere Immunantwort hervorzurufen, die gegen mehr verschiedene Abarten des Virus schützt. Dieser Ansatz oder die Nutzung von inaktivierten – also abgetöteten Viren – könnten vielversprechend sein. Zudem brauchen wir sogenannte mukosale Impfstoffe, also solche, die über die Schleimhäute verabreicht werden. Auch daran forschen wir im HZI. Bei diesen lokal wirksamen Impfungen geht es darum, einen Immunschutz auf Ebene der oberen Atemwegen zu schaffen und das Virus zu stoppen, bevor es in die Lunge eindringt. Eine solche Barriere hätte übrigens auch den Vorteil, dass man weniger Viren weitergibt und die Übertragung reduziert.

Zur Person

Carlos A. Guzmán leitet seit 2005 die Abteilung „Vakzinologie und angewandte Mikrobiologie“ am Helmholtz-Zentrum für Infektionsforschung (HZI) in Braunschweig.

Der Argentinier ist seit 1989 in der Impfstoffforschung aktiv. Seit 1994 lebt und forscht er in Braunschweig.

Guzmán ist seit 2005 außerplanmäßiger Professor an der Medizinischen Hochschule Hannover.