Braunschweig. Fritz Güntzler aus Göttingen sitzt für die CDU im Wirecard-Untersuchungsausschuss des Bundestages. Er spricht über Lug und Trug beim Exbörsenliebling.

Es ist ein Wirtschaftsskandal, wie ihn die Republik noch nicht erlebt hat. Der Dax-Konzern Wirecard wollte in der Weltliga der Digitalgiganten mitspielen, dann ging er pleite, weil die Scheingeschäfte aufflogen. Fritz Güntzler, Wahlkreis Göttingen/Harz, sitzt für die CDU im Bundestags-Untersuchungsausschuss. Er zählt die Finanzaufsicht Bafin an – und Finanzminister Olaf Scholz (SPD).

Herr Güntzler, Sie erhalten als Mitglied des Wirecard-Untersuchungsausschusses einen tiefen Einblick. Der Vorstand eines Dax-Konzerns eine Betrügerbande: Hätten Sie sich das vor einem Jahr erträumen lassen?

Das, was wir jeden Donnerstag und Freitag im Untersuchungsausschuss erleben müssen, hätte ich so niemals erwartet. Wir haben hier den größten deutschen Finanzskandal der Nachkriegszeit – unvorstellbar. Ein an der Börse notiertes Unternehmen unterliegt unterschiedlichen Aufsichten. Diese haben nicht funktioniert.

Eine Truppe größenwahnsinniger Manager hat einen Scheinkonzern geschaffen. Sie sind selbst Wirtschaftsprüfer und Steuerberater. Überblicken Sie schon das ganze Ausmaß des Falles?

Das Ausmaß ist sehr breit, wir nähern uns immer weiter an. Deshalb hat sich der Untersuchungsausschuss zu Beginn einen Überblick über das Geschäftsmodell von Wirecard geben lassen. Wir haben viele Sachverständige geladen. Denn nicht alle, die Wirecard beaufsichtigt haben, haben wirklich verstanden, was Wirecard eigentlich gemacht hat. Gewisse Zahlungsdienstleistungen wurden ja erbracht. Das Problem war, dass nicht genügend Gewinne erzielt wurden und man dazu übergegangen ist, Scheingeschäfte zu generieren, um die Bilanz aufzublasen.

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Worin besteht Ihre Arbeit im Untersuchungsausschuss? Wühlen Sie sich nur noch durch Berge von Akten?

Wir haben umfassende Akten von allen Bundesministerien angefordert, die etwas mit Wirecard zu tun hatten – auch von Landesministerien, Unternehmen, von der Finanzaufsicht Bafin, vom Abschlussprüfer, der Wirtschaftsprüfungsgesellschaft EY. Das sind tatsächlich Berge. Ich kann auf Mitarbeiter der Unionsfraktion im Bundestag zurückgreifen, ich habe persönliche Mitarbeiter. Ein Großteil der Akten liegt in der geheimen Schutzstelle, da muss man sich vorher anmelden, muss sein Handy abgeben. Vor der Zeugenanhörung lese ich viele Akten, das ist sehr zeitaufwändig und zum Teil auch erschütternd, was man da so liest.

Der Fall Wirecard

  • Mindestens fünf Jahre lang soll der Vorstand des Zahlungsdienstleisters Wirecard Banken und Investoren systematisch belogen haben - bis zum Insolvenzantrag im vergangenen Juni. Neben einer unbekannten Anzahl von Wirecard-Managern wird mittlerweile auch gegen Bilanzprüfer der Wirtschaftsprüfungsgesellschaft EY ermittelt, die die manipulierten Bilanzen kontrollierten.
  • Hauptvorwurf gegen Wirecard ist, dass die Chefetage spätestens 2015 beschlossen haben soll, die Bilanzen mit Scheingeschäften aufzublähen. Das Unternehmen hat Luftbuchungen in Höhe von 1,9 Milliarden Euro eingeräumt.
  • Forderungen kommen nicht nur von Banken, Investoren und Geschäftspartnern. Die Verluste der Wirecard-Aktionäre sind noch viel größer als der mutmaßliche Betrugsschaden: Die Wirecard-Papiere haben innerhalb von zwei Jahren über 20 Milliarden Euro eingebüßt.
  • Fritz Güntzler ist gelernter Wirtschaftsprüfer und Steuerberater. Der Bundestagsabgeordnete aus Göttingen sitzt für die CDU im Wirecard-Untersuchungsausschuss. Für seine Fraktion sitzt Güntzler auch im Finanzausschuss des Bundestages.

Was hat Sie denn am meisten erschüttert?

Das Gefühl, dass für Wirecard in Deutschland niemand zuständig war. Die Verantwortlichkeiten wurden hin- und hergeschoben. Die Finanzaufsicht Bafin sagt, sie wäre für Wirecard nur zuständig gewesen, wenn es ein Finanzinstitut gewesen wäre. Das hätte aber nur für die Tochtergesellschaft, die Wirecard-Bank, zugetroffen. Das werden wir im Untersuchungsausschuss noch einmal genau überprüfen müssen – Bafin-Vertreter waren bisher noch nicht bei uns. Auch die Rolle des Abschlussprüfers, der Wirtschaftsprüfungsgesellschaft EY, wird noch genau zu klären sein. Auch der Aufsichtsrat von Wirecard hat seine Funktion in keinster Weise wahrgenommen.

Ex-Vorstandsmitglied Jan Marsalek gilt bereits als Jahrhundertbetrüger. Er soll vor allem in Asien Luftbuchungen in Milliardenhöhe erfunden haben, um Aktionäre, Aufseher und Banken zu täuschen. Das hat er fünf Jahre lang gemacht. Wie konnte das passieren?

Auch hier hätte vor allem der Aufsichtsrat Herrn Marsalek mal auf die Finger gucken können. Da sind aber keine Alarmglocken erklungen. Die Dinge, die sich um die Person ranken, kommen jetzt auch durch Medienberichte immer mehr zum Vorschein. Das kann ich noch nicht richtig beurteilen. Kontakte zu Geheimdiensten, zu Libyen machen die Runde.

Fritz Güntzler aus Göttingen sitzt für die CDU im Wirecard-Untersuchungsausschuss.
Fritz Güntzler aus Göttingen sitzt für die CDU im Wirecard-Untersuchungsausschuss. © privat

Druck hatten nicht die Aufsichtsbehörden wie die Finanzaufsicht Bafin gemacht, sondern die Medien, allen voran die Financial Times.

Ja, das Geschäftsgebaren ist sehr frühzeitig durch Artikel der Financial Times offengelegt und gebrandmarkt worden. Die Redakteure der FT wurden nicht ernst genommen – im Gegenteil: Die Bafin hat ja sogar Strafanzeige gegen sie erstattet. Das war absurd. Neben den Abschlussprüfern von EY ist die Bafin ganz klar im Fokus unserer Untersuchungen. Die Fachaufsicht trägt Finanzminister Olaf Scholz. Das ist für ihn sicher nicht sehr angenehm. Für die Strafanzeige gegen die FT-Reporter und die falschen Vorwürfe durch die Bafin hat sich bisher weder die Bafin noch Minister Scholz entschuldigt. Warum nicht? Das kann ich nicht beantworten. Das müsste aber schleunigst geschehen, falls das noch nicht passiert ist. Wir haben einen der Reporter ja vernommen. Es war demnach schon seit 2015 deutlich erkennbar, dass Wirecard extrem unlautere Methoden an den Tag gelegt hat. Die Beteiligten waren völlig geblendet von einem Finanztechnologie-Unternehmen, von einem vermeintlichen deutschen Leuchtturm. Das hatten wir bis dahin nicht. Die notwendige kritische Beurteilung durch Dritte gab es leider nicht.

War die Vorstellung, ein deutsches Unternehmen könnte zu globalen Größen wie Amazon aufschließen, zu verlockend, waren die Beteiligten zu blind?

Zu blind will ich nicht sagen. Die kritische und nötige Grundhaltung hat aber eindeutig gefehlt. Die mannigfachen Indizien wurden nicht ernst genommen. Die mangelnde Informationspolitik von Wirecard nicht hinterfragt. Die Geschäftsberichte waren alles andere als sauber, der Aufsichtsrat sehr klein. Es gab keinen Prüfungsausschuss. In erster Linie wäre die Bafin der Adressat.

Ex-Bafin-Chef Felix Hufeld musste am Freitag seinen Hut nehmen. War das unvermeidbar?

Herr Scholz hat nun endlich die Reißleine gezogen. Die Vorwürfe gegenüber der Bafin wurden immer gravierender. Sie hat – wie sich immer mehr zeigt - einen großen Teil Mitschuld an dem, was passiert ist. Sie hat lange alle Kritik an der Wirecard nicht ernst genommen. Sie hat sogar Anzeige gegen die Journalisten gestellt, die seit Jahren auf den Betrug hingewiesen haben. Hier wurden die Täter geschützt. Ein Neuanfang bei der Bafin ist nötig. Dennoch wird sich Scholz die Frage stellen lassen müssen, warum er nicht schon früher als oberster Dienstherr eingegriffen hat. Er ist schließlich für die Bafin zuständig. Ich frage mich wirklich, warum Scholz solange die schützende Hand über Hufeld gehalten hat.

Mehr dazu:

Die AfD bezeichnet Hufeld als Bauernopfer für das Versagen der Bafin. Wie sehen Sie das?

Er hat Verantwortung getragen. Damit ist der Fall Bafin für uns aber noch nicht erledigt.

Minister Scholz ist also noch nicht aus dem Schneider?

Im Gegenteil. Der Blitzableiter von Scholz ist nun weg. Der Minister selber steht aber nach wie vor in der Kritik. Er wird sich unangenehme Fragen vor dem Untersuchungsausschuss gefallen lassen müssen.

Wie kann es denn sein, dass bisher kaum weitere Köpfe gerollt sind?

Ein weiterer Kopf ist ja gerollt. Der Leiter der Abschlussprüferaufsichtsstelle, Ralf Bose, musste gehen. Das ist die Prüfungsstelle der Wirtschaftsprüfer, die börsennotierte Unternehmen prüft. Bose hat in der Vernehmung gestanden, dass er selbst Wirecard-Aktien ge- und verkauft hat – in der Zeit, in der seine Stelle das Handeln des Abschlussprüfers EY geprüft hat. Die Prüfstelle unterliegt der Rechtsaufsicht des Wirtschaftsministeriums. Gleich am nächsten Tag nach seiner Aussage ist er von Minister Altmaier seines Amtes enthoben worden.

Ex-Wirecard-Vorstandsmitglied Jan Marsalek ist die schillernde Figur in diesem Spiel. Er soll wilde Partys gefeiert haben, soll V-Mann des österreichischen Verfassungsschutzes gewesen sein. Derzeit ist er auf der Flucht. Was ist das für ein Typ?

Wenige Leute haben ihn persönlich getroffen. Er war zwar Mitglied des Vorstands, am Firmensitz in München-Aschheim war er aber nur sehr selten anwesend. Auch viele Bankenvertreter haben ihn nie getroffen. Die Kontaktstelle war meistens der Vorstandsvorsitzende von Wirecard, Markus Braun. Dieser galt lange als die deutsche Version von Steve Jobs, den Ex-Apple-Chef. Braun kam daher und erzählte den Leuten blumig etwas von Strategien und Zukunftsvisionen. Zur Realität konnte er wenig sagen. Braun und Marsalek waren offenbar ein ungleiches Duo, aber in ihrer Sache erfolgreich.

Braun haben Sie selbst erlebt, ihn haben Sie im Untersuchungsausschuss ja aussagen lassen.

Der hat aber nicht viel gesagt, weil er von seinem Zeugnisverweigerungsrecht Gebrauch gemacht hat. Er muss sich ja nicht selbst belasten. Der Erkenntnisgewinn war gering. Wenn man Bilder von ihm vorher sieht und ihn dann nach mehreren Monaten in U-Haft erlebt, das ist schon bitter. Aber selbst verschuldet.

Bitter ist es auch für Zehntausende von Aktionären, die insgesamt mehr als 20 Milliarden Euro verloren haben. Sehen diese ihr Geld jemals wieder?

Die große Frage ist, wer es zahlen soll. Selbst wenn es Ansprüche gibt, wird es schwierig sein, aus dem Unternehmen überhaupt noch etwas herauszuholen. Der Insolvenzverwalter bemüht sich, die wenigen werthaltigen Dinge zu veräußern. Es geht um wenige Millionen Euro. Da sind aber erst einmal die Fremdkapitalgeber an der Reihe, bevor die Eigenkapitalgeber, also die Aktionäre, dran sind. Einige Aktionäre sind mir persönlich bekannt. Sie haben die Hoffnung, sich was vom Abschlussprüfer, also der Wirtschaftsprüfungsgesellschaft EY, zu holen. Das Haftungsrecht ist sehr komplex, da müsste man EY schon Vorsatz nachweisen. Da sind Kanzleien dran. Das Kapital von EY Deutschland dürfte kaum ausreichen. Vielleicht ist der weltweite Verbund von EY dran. Ich würde es den Aktionären gönnen, ich habe aber wenig Hoffnung, dass noch etwas ankommt.

Warum hat sich die CDU anfangs gegen den Wirecard-Untersuchungsausschuss gestemmt?

Wir brauchen einen klaren Auftrag für den Ausschuss, weil Sie sich sonst verzetteln. Daran haben wir konstruktiv mitgewirkt. Es war Wunsch der SPD, dass wir im Bundestag nicht zustimmen, weil es für eine Regierungsfraktion unüblich wäre. Ich habe das bedauert und habe innerhalb unserer Fraktion darauf gedrängt, doch zuzustimmen. Wir haben schließlich den Kompromiss getroffen, dass wir uns enthalten. Das ist schade, weil es den falschen Eindruck erweckt. Diejenigen, die uns beobachten, sind sehr kritisch, allen voran die Journalisten, die sich die Nächte mit uns um die Ohren schlagen. Die sind überrascht, wie tief auch wir als Union nachfragen und spüren, dass wir einen Aufklärungswillen haben.

Seitdem ist dennoch der Eindruck entstanden, dass der Union nicht allzu sehr an der Aufarbeitung des Skandals liegt. Das teilen Sie demnach nicht?

Nein. Es gibt keinen Grund dafür. Wir haben zusätzliche Termine vereinbart, denn der U-Ausschuss sollte zuerst nur donnerstags tagen. Jetzt tagen wir zusätzlich auch freitags. Wir haben auch noch Termine am Dienstag vereinbart. Das CDU-geführte Wirtschaftsministerium war das Vorbildlichste bei der Aktenbeibringung. Auch das Kanzleramt war schnell. Beim SPD-geführten Finanzministerium war das nicht immer der Fall. Die Akten sind aber alle da. Die Kollegen Toncar, De Masi und Bayaz von der FDP, den Linken und den Grünen nutzen den Ausschuss als Bühne für sich und die Opposition. Das ist völlig in Ordnung. Wenn die drei beim Satiriker Jan Böhmermann zusammen auftreten, entsteht aber der Eindruck, wir hätten kein Interesse an der Aufklärung. Da wehren wir uns gegen.

Vor Scholz war Wolfgang Schäuble von der CDU Finanzminister. Auch er hat bei Wirecard offensichtlich nicht eingegriffen.

Wir haben derzeit aber keinerlei Hinweise darauf, dass es bis 2017, in der Amtszeit Schäubles also, Hinweise im Finanzministerium auf Ungereimtheiten bei Wirecard gegeben hat. Das ist anders als in der Zeit von Scholz.

Kanzlerin Angela Merkel persönlich hat sich auf einer Auslandsreise in China für Wirecard eingesetzt. Wie konnte das passieren?

Das Bundeskanzleramt hatte zur Vorbereitung der Reise im Bundesfinanzministerium nachgefragt und Unterlagen angefordert. Das Finanzministerium hat kritische Dinge über Wirecard aber gar nicht weitergegeben ans Kanzleramt. Wir sind ja in einer Koalition und arbeiten eng zusammen. Da wurde aber nicht sauber gespielt, man hatte die Kanzlerin im Unwissen gelassen. Sie hätte das Thema Wirecard sonst bestimmt nicht angesprochen.

Welche Lehren müssen aus dem Fall Wirecard gezogen werden?

Wir ziehen Konsequenzen aus dem Bilanzskandal bei Wirecard. Ein Gesetzentwurf liegt vor. Es geht um die Bafin. Die Frage ist, ob ihre Befugnisse zu gering waren. Diese wollen wir ausbauen, damit sie ihren Job vernünftig machen kann. Es geht zum Beispiel um die Bilanzkontrolle von Unternehmen. Wir wollen auch die Aufsichtsräte stärken. Ein Prüfungsausschuss muss Pflicht werden. Mindestens einer im Aufsichtsrat muss eine Bilanz lesen können. Wir müssen auch über den Bereich der Wirtschaftsprüfung sprechen.