Braunschweig. Wer den Fußball liebt, braucht den Stadionbesuch wie die Luft zum Atmen. Davon sind Allesfahrer überzeugt. Die Pandemie ändert alles.

Rheingoldstraße, Braunschweig: Hier, wo sich vor Corona Menschentrauben in blau und gelb zu Tausenden versammelten, erinnert nicht viel an Jubel, Trubel, Heiterkeit. Fünf leere Einkaufswagen, in denen sich an Spieltagen Pfandflaschen bis über den Rand stapeln, stehen trostlos ineinander verkeilt auf dem Bürgersteig vor dem Eingangstor. Niemand trinkt auf dem Weg in die Kurve noch schnell ein Pils von der Tanke oder dem Kiosk, keiner tauscht sich aus über die allgemeine und die wesentlich wichtigere sportliche Lage. Die Pandemie hat den Eintracht-Fans den Stecker gezogen.

T wie Treue

Zwar geht es seit Mitte Mai in den Profi-Ligen in Deutschland wieder um Punkte, um Meisterschaft und Abstieg – doch der Stadionbesuch ist auch heute, nach monatelangem Lockdown, nur eingeschränkt möglich. Wer auf die Tribüne darf, entscheidet oftmals das Los, wie viele Menschen reingelassen werden, die Gesundheitsämter auf Grundlage des lokalen Infektionsgeschehens. Und wer gehofft hatte, die Schlachtenrufe der gegnerischen Fans lautstark zu kontern, muss sich noch gedulden: Der Gästeblock bleibt Sperrgebiet. Die Politik sagt, man befinde sich in einer Testphase. Ausgang offen.

Am Seiteneingang zum Eintracht-Stadion verweisen Schilder auf Abstandsregeln, einzuhaltende Hygienevorschriften und darauf, dass besondere Zeiten auch besondere Maßnahmen zur Folge haben. Das Training der Mannschaft finde daher unter Ausschluss der Öffentlichkeit statt. Der Sichtschutz verhindert den Blick auf die Trainingsplätze. Nur die Akustik – Pfiffe, Rufe und klatschende Bälle – lässt erahnen, dass dahinter hart für ein großes Ziel gearbeitet wird. Eintracht Braunschweig, der Traditionsklub zwischen Harz und Heide, will die Zweite Liga meistern.

Am Horizont glänzen die metallfarbenen Absperrungen an den Stadioneingängen an diesem sonnigen Tag. Fünf an den Kassenhäuschen aufgemalte Buchstaben stechen hervor. Abgesetzt auf blau oder gelbem Hintergrund ist dort ein T, ein R, ein E, ein U und wieder ein E zu lesen. „Treue“.

Unterwegs im „Ballerbus“

Vor Corona: Eintracht-Fans nehmen im Jahr 2016 in Würzburg vor dem DFB-Pokalspiel der 1. Runde einen Biergarten in Beschlag. Die aktive Fanszene fürchtet, dass Fahrten wie diese auch nach Überwindung der Pandemie seltener werden könnten, weil Beschränkungen bleiben.
Vor Corona: Eintracht-Fans nehmen im Jahr 2016 in Würzburg vor dem DFB-Pokalspiel der 1. Runde einen Biergarten in Beschlag. Die aktive Fanszene fürchtet, dass Fahrten wie diese auch nach Überwindung der Pandemie seltener werden könnten, weil Beschränkungen bleiben. © Privat | Privat

Die Treuesten sitzen an diesem Morgen im Fanhaus, wenige Meter Luftlinie von der Südkurve. Nils, Mario und Holger sind mit Eintracht auf den verschiedensten Wegen verbunden. Auch Robin Koppelmann ist da. Er ist wie Holger Mitglied des Fan-Clubs „Ballerbus“, zudem war er langjähriger Fan-Sprecher und kandidierte 2018 für einen Posten im Aufsichtsrat der ausgegliederten Fußball-Abteilung, scheiterte aber knapp. Was alle vereint: Sie begleiten den Verein durch dick und dünn. Sie fahren nach Sandhausen, Heidenheim, Unterhaching oder in die Stadt, deren Namen man als Löwenfan nicht aussprechen darf.

Als Allesfahrer werden sie bezeichnet. Natürlich wissen sie, in welcher Minute Damir Vrancic im April 2013 zu einem entscheidenden Freistoß in Ingolstadt antrat oder was Karim Bellarabi zwei Jahre zuvor machte, um für alle Blau-Gelben unvergesslich zu bleiben. Dass sie die Eintracht im Herzen tragen, wäre eine gnadenlose Untertreibung. Sie leben den Verein mit jeder Faser ihres Körpers. Aber sie lieben den Sport und das Erlebnis im Stadion fast genauso abgöttisch.

Doch mit Corona hat sich etwas geändert. Die räumliche Trennung zum Verein, aber auch zu denen, mit denen sie Triumphe und Tränen in den letzten Jahren teilten, hat sie nachdenklich gemacht. Wie Eintracht spielt, ob sie gewinnen oder verlieren, sei weiterhin wichtig, sagt Nils. „Auch heute will ich das Eintracht lieber dreckig 1:0 gewinnt als furios 4:5 verliert“, sagt er. Und dennoch habe Corona alles genommen, was der Fußball ihm bedeute. „Mit Freunden zusammensein, ein Bier trinken. Das Spiel, weil man es so liebt, als emotionales Ereignis erleben. Alles ist nicht mehr da. Und das Schlimmste ist: Ich kann daran selber nichts ändern“, sagt er.

„Ein Heimspiel in zehn Jahren verpasst“

Der junge Mann erzählt, dass er in den letzten zehn Jahren nur ein Heimspiel der Eintracht krankheitsbedingt nicht im Stadion verfolgt habe. Er ist Besitzer einer lebenslangen Dauerkarte, die ihm zuletzt auch die Chance bot, den Test gegen Rostock vor 390 Zuschauern zu verfolgen. Erstmals waren Zuschauer im Stadion erlaubt. „Anfangs war ich unwirsch. Auf dem Weg zum Stadion hatte ich schlechte Laune. Ich wollte eigentlich gar nicht hin, weil ich wusste, es wird ganz anders sein“, sagt er. Auch nach dem Spiel hatte sich an seiner Einstellung nichts geändert. Man sei zwar wieder vor Ort gewesen, aber: „Es fühlte sich gleichzeitig auch nicht richtig an.“

Das Fanhaus ist der Arbeitsplatz von Karsten König, er leitet das dort angesiedelte Fan-Projekt, das der Verein 2007 mit der Awo ins Leben gerufen hat. Es ist eine Einrichtung, die sich in ihren Grundsätzen auf die Jugend- und Sozialarbeit beruft. König organisiert die Beratung von jugendlichen Fans, für die die Eintracht oftmals alles ist.

Jetzt, wo keine Fans ins Stadion dürfen, ist auch seine Hilfestellung, die er und sein Team leisten, weniger gefragt und zugleich schwieriger geworden. Aber dennoch hört König sich um. Er sagt: „Ich habe Sachen erlebt, die ich vorher nie geglaubt habe. Menschen, für die der Fußball alles bedeutet, sind mit ihrer Freundin verreist oder am Wochenende umgezogen.“ Corona habe sie dazu gezwungen, sich auch mal mit anderen Dingen zu beschäftigen, sagt König. Viele würden auf einmal anfangen zu wandern. Er, so König, sei endlich mal wieder Angeln gegangen.

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Schnee und Jubel in Ingolstadt

Holger fährt seit Jahren mit dem „Ballerbus“ zu den Auswärtsspielen der Eintracht. Ein VW-Bulli gibt dem Fan-Club seinen Namen. In der Corona-Zeit habe er keine echte Freude am Fußballschauen gehabt. Er habe sogar überredet werden müssen, dass Spiel gegen Mannheim im Fernsehen zu sehen. „Als der Aufstieg perfekt war, war natürlich alles toll.“ Er fahre am Wochenende kreuz und quer durch die Republik, um seine Mannschaft siegen zu sehen. „Aber davon darf man nie ausgehen. Und es ist auch nicht der Grund, warum ich das mache.“

Holger erzählt von einer Auswärtsfahrt nach Ingolstadt und einem Wintereinbruch mitten im März. Auf der Hinfahrt habe es Schneeverwehungen gegeben, der Bus der Mannschaft von Carl-Zeiss-Jena sei ihnen schon entgegengekommen, weil deren Spiel abgesagt worden sei. Die Anreise sei eine Katastrophe gewesen. „Echter Horror.“ Zehn Minuten vor Anpfiff hetzte er dann in den Gästeblock. Es folgten drei bayerische Watschn: 0:1, 0:2, 0:3 in der ersten halben Stunde. Doch die sportliche Auferstehung folgte. „Dann haben wir noch drei Tore gemacht und der Jubel im Block kannte keine Grenzen.“ Es sei ein unglaubliches Erlebnis gewesen. So etwas erlebe man bei 17 Auswärtsfahrten pro Saison vielleicht zweimal. „Aber dafür lohnen sich alle Strapazen.“

Auch Mario lebt die Eintracht. Mit den Spielen verbindet er liebgewonnene Rituale. Das beginne schon am Vormittag beim Müll runterbringen. Er sehe dann oft seinen Nachbarn. „Der ist schon in voller Eintracht-Montur auf dem Weg zu seinen Freunden und fragt, welche Bahn ich denn zum Stadion oder zum Bahnhof nehmen würde?“ Ab diesem Moment sei der Tag ein anderer, so Mario. Es steige die Vorfreude und gleichzeitig die Anspannung. Alles kribbele. Dieses Spieltagsgefühl fehle aktuell und sei durch nichts kompensierbar.

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Allesfahrer auf Entzug

Mario und Nils sind nicht nur Allesfahrer, sondern auch Groundhopper. Ein Hobby, das in der Krise Zulauf erhielt, sagen sie. Auch Robin Koppelmann zählt sich zu dieser Spezies. Alle drei verfolgen Fußballspiele rund um den Erdball. Je ungewöhnlicher die Partie und der Austragungsort, desto besser. Am Ende des Jahres machen sie dann ein persönliches Ranking: Wie viele Spiele in wie vielen Ländern habe ich gesehen? Und wie ist die Bilanz im Vergleich zum Vorjahr? Es gehe aber nicht nur um das Abhaken von Plätzen, den „Grounds“, an deren Rand man sein Bier getrunken hat, sagen sie. Es gehe auch darum zu spüren, was Fansein in anderen Kulturen bedeute. Das vielleicht einzig Positive an Corona formuliert Koppelmann so: „Wir sind ja alle nicht naiv. Zur Zeit ist schon etwas mehr Geld am Monatsende im Portemonnaie, es fehlen ja die Auswärtstouren.“

Im Lockdown waren sie alle auf Entzug vom Fußball. Ende Juni löste man sich von den auferlegten Fesseln und fuhr los, das Infektionsgeschehen immer im Blick. Zufällig traf man sich bei einem Spiel der zweiten tschechischen Liga. Usti Nad Labem gegen Trinec. Endstand: 3:3. Ein irres Spiel, ein irres Gefühl, endlich wieder in einem Stadion zu stehen, sagen Nils und Robin.

Auch Mario erzählt von einer Tour, die er zuvor gemacht hatte. Dasselbe Land, ein anderer „Ground“. Da beobachtete er in der Amateurklasse einen jungen Mann, der als einziger Fan mitgereist war und sein Team 90 Minuten unerbittlich anfeuerte. „Ich musste ihn die ganze Zeit beobachten. Leidenschaft pur. Wunderbar.“

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Bleiben die Beschränkungen?

Der beschwerliche Weg für die Fans zurück ins Stadion ist das eine, worüber sich die Allesfahrer Gedanken machen. Das andere ist, welche Rolle Fans im Profi-Fußball künftig generell spielen werden.

Dass die vier nichts von der stetigen Kommerzialisierung des Sports halten, müssen sie nicht groß betonen. Ob sie sich als Ultras verstehen? Wahrscheinlich nur in dem Sinn, dass sie an die Faszination des Spiels glauben und nicht an eine Industrie, die es vermarkten will. Was sie nicht wollen, ist klar. Der Profi-Fußball dürfe nicht zu einem Event verkommen, dass sich die einen leisten könnten, die anderen aber nicht. „Was passiert eigentlich“, fragt Robin Koppelmann, „wenn es einen Impfstoff gibt, aber die Maßnahmen, die jetzt gelten, aufrecht erhalten bleiben?“ Es habe ja während Corona auch funktioniert, könnten die Befürworter von personalisierten Tickets, Gästefan-Ausschluss und Alkoholverbot ins Feld führen. „Wenn das mit Hilfe der Pandemie durch die Hintertür eingeführt würde, wäre das fatal“, sagt er. Wo diese Reise im Fußball hingehe, wisse aber selbst er nicht.