Braunschweig. Drei Hausärzte aus unserer Region erklären im Interview, warum zunehmende Corona-Tests für ihre Praxen ein Problem werden könnten.

Die Sommerferien gehen zu Ende, immer mehr Urlauber kehren zurück. Das stellt die Hausärzte vor besondere Herausforderungen: In ihren Praxen melden sich Patienten, die sich auf das Coronavirus testen lassen wollen oder müssen, weil sie in ein sogenanntes Risikogebiet gereist sind. Wie sind die Praxen auf die Testungen vorbereitet? Wie sinnvoll sind solche pauschalen Tests überhaupt und wie sehen Ärzte einer möglichen Infektionswelle im Herbst entgegen? Dr. Carsten Gieseking, Vorsitzender des Hausärzteverbands in der Region Braunschweig und Allgemeinmediziner in Müden, diskutiert darüber mit der Stellvertreterin Dr. Ilka Aden und Vorstandsmitglied Dr. Heike Raupach-Rosin, die gemeinsam in einer hausärztlichen Praxis in Braunschweig-Lamme arbeiten.

Hausärzte sind bei Sorgen und gesundheitlichen Problemen meist die erste Anlaufstelle für Patienten. Wann haben Sie Ihren letzten Corona-Patienten behandelt?

Aden: Vor etwa vier Wochen hatten wir den letzten positiven Fall in unserer Praxis. Insgesamt hatten wir seit März acht positiv getestete Patienten zu verzeichnen. Es waren aber keine Schwerstkranken darunter, keine Patienten, die intensivmedizinisch behandelt werden mussten oder an beziehungsweise mit Covid-19 verstorben sind.

Gieseking: Ich hatte keinen einzigen Fall in meiner Praxis. Es gab einen einzigen Patienten von mir, der wegen einer Chemotherapie immer wieder stationär behandelt werden musste und einmal zufällig bei der Aufnahme im Krankenhaus positiv getestet worden war. Ein Hochrisikopatient, Ende 70. Von einer Corona-Erkrankung hat er nichts gemerkt.

Raupach-Rosin: Es gibt immer wieder Berichte auch von hochbetagten Patienten, die Covid-19 überstanden haben. Statistisch betrachtet, haben Hochbetagte zwar ein sehr hohes Sterberisiko. Aber das heißt nicht, dass in jedem Einzelfall zwingend mit einem sehr schweren oder tödlichen Verlauf zu rechnen ist.

Reiserückkehr aus Risikogebieten müssen sich seit dem 8. August nach ihrer Einreise testen lassen. Wer nicht in einem Risikogebiet im Urlaub war, kann es freiwillig tun, ohne dafür zahlen zu müssen. Nun erwägt Bundesgesundheitsminister Jens Spahn (CDU), die Tests nach dem Sommer wieder abzuschaffen. Die richtige Entscheidung?

Raupach-Rosin: Uns hat es sehr geärgert, dass die Testpflicht an einem Freitag angekündigt wurde und am Montag sollten wir sie schon umsetzen. Der Gesundheitsminister hatte seit April Zeit darüber nachzudenken, wie mit Urlaubern umgegangen werden soll, die aus dem Ausland zurückkehren. Aber dann wurde alles in einer Hauruck-Aktion durchgeboxt.

Aden: Tests bei gesunden Menschen vorzunehmen, sehe ich nicht als Aufgabe der Versorgungsärzte, sondern vielmehr als Aufgabe des öffentlichen Gesundheitssystems. Zugegeben, das ist zum Teil schlecht besetzt. Aber dann muss man eben dafür Sorge tragen, dass das öffentliche System gestärkt wird. Wir haben doch primär den Auftrag, kranke Menschen zu behandeln. Aber die können zurzeit weniger intensiv versorgt werden, weil ständig das Telefon klingelt und Reiserückkehrer auf ihr Recht pochen. Wir müssen dann in die Schutzausrüstung steigen und bei gesunden Menschen Abstriche machen.

Gieseking: Es gibt etliche Gesundheitsämter, die erklärt haben, sie seien für solche Tests nicht zuständig und hätten keine Kapazitäten. Sie verweisen auf die Hausärzte. Aber was ist, wenn wir sagen: Auch wir haben keine Kapazitäten? Schließlich sind wir nicht immer mit voller Mannschaft in den Praxen, etwa weil Kollegen Urlaub machen. Dann müssen andere Ärzte die Vertretung übernehmen. Wie sollen wir da noch reihenweise Abstriche machen? Man muss sich auch vor Augen halten: In unserer Region gibt es seit Wochen kaum Infektionsfälle.

Aden: Der Aufwand ist enorm: Wir müssen die Leute in die Infektionssprechstunde bitten – es ist ja nicht sicher, ob nicht vielleicht doch einer dabei ist, der an Covid-19 erkrankt ist. In den letzten Tagen kam es immer wieder vor, dass ich zwei Stunden drangehängt habe, dass ich solche Abstriche also in meiner Freizeit gemacht habe.

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Empörung gab es bei den Ärzten auch über die Vergütung für die Tests, einige haben diese als einen schlechten Scherz bezeichnet. Sehen Sie das auch so?

Gieseking: Für den Abstrich erhalten wir pauschal 15 Euro. Das ist für den Aufwand zu wenig. Aber uns geht es gar nicht ums Geld. Es geht vielmehr darum, dass einfach beschlossen wird, dass wir jetzt springen müssen. Das öffentliche Gesundheitswesen darf sich verabschieden, aber wir müssen parat stehen.

Sind solche pauschalen Tests überhaupt sinnvoll?

Aden: Um ein verlässliches Bild zu bekommen, müsste man die getesteten Rückkehrer eigentlich sofort in Quarantäne stecken und sie dann in fünf Tagen noch einmal verpflichtend testen. Es nützt doch überhaupt nichts, wenn ich nur einen Abstrich am nächsten Morgen mache. Dann handelt es sich doch nur um eine Momentaufnahme.

Raupach-Rosin: Wer in der Altenpflege oder in Krankenhäusern oder etwa in Kindergärten arbeitet, den bitte ich, nach fünf Tagen auf jeden Fall wiederzukommen und sich noch einmal testen zu lassen.

Aden: Grundsätzlich stellt sich die Frage, ob diese Tests immer verlässliche Ergebnisse liefern. Es kann vorkommen, dass das Virus bei einem erst kürzlich Infizierten zum Testzeitpunkt noch nicht nachweisbar ist. Zudem kann eine mangelhafte Probennahme zu einem falsch-negativen Resultat führen. Auch über die Häufigkeit von falsch positiven Befunden wissen wir zu wenig – ebenso wie über die Zahl der unauffällig verlaufenden Erkrankungen. Es gibt da noch viele Unsicherheiten.

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Seit Ende April soll es nicht mehr so viele Neuinfektionen mit dem Coronavirus gegeben haben wie in den letzten Tagen – ist das nicht Anlass zur Besorgnis?

Gieseking: Ich warne vor Alarmismus. Es ist doch klar, dass wir mehr positive Ergebnisse bekommen, wenn die Zahl der durchgeführten Tests deutlich erhöht wurde. Dadurch erhöht sich letztlich auch die Zahl der falsch positiven Ergebnisse. Wie viele Menschen tatsächlich erkrankt sind, erfahren wir nicht. (Nach Daten des Robert-Koch-Instituts waren es in der Woche vom 27. Juli bis 2. August rund 578.000 Tests, zwei Wochen später lag die Zahl schon bei mehr als 875.000, mittlerweile also bei deutlich über 100.000 Tests pro Tag. In der Woche vom 20. bis 26. April hatte die Zahl der Tests noch bei rund 364.000 gelegen. Anm. d. Red.)

Raupach-Rosin: Die sogenannten PCR-Tests sind schon sehr genau. Dennoch brauchen wir in der Tat mehr Daten dazu, wie hoch die Wahrscheinlichkeit von falsch positiven Tests ist. Ebenso zeigen die Tests aus verschiedenen Gründen nicht immer alle infizierten Patienten auch als positiv an. Auch das führt zu Problemen, vor allem, wenn die Anzahl der Infizierten steigt. Eine genauere Betrachtung zeigt allerdings, dass der Anstieg der letzten Wochen wohl nicht allein durch falsch-positive Tests bei steigenden Testzahlen erklärt werden kann.

Gieseking: Leider werden die veröffentlichten Zahlen nicht hinterfragt. Eine kritische Interpretation erwarte ich aber auch von einer unabhängigen Presse. Zurzeit erlebe ich genau dieses nicht mehr in Deutschland und ich werde mich, auch ohne Verschwörungstheoretiker zu sein, fragen dürfen, warum das so ist. Zahlen werden oft so dargestellt, dass sie in den Mainstream passen. Dadurch wird Panik geschürt.

Raupach-Rosin: Wir sollten in der Debatte beachten, dass der R-Wert, also die Reproduktionszahl, derzeit um die 1 liegt. Das bedeutet, dass ein Infizierter im Mittel etwa einen weiteren Menschen ansteckt. Im März hatten wir einen exponentiellen Anstieg, die Zahl der mit Corona infizierten Menschen stieg sehr schnell an. Das ist derzeit nicht der Fall. Wir stehen noch nicht da, wo wir im März waren, aber wir müssen trotzdem besser vorbereitet sein und achtsam sein.

Man hört immer wieder, dass Patienten unter dem Vorwand, von einer Reise zurückgekehrt zu sein, einen kostenlosen Corona-Test verlangen. Wie können Sie überprüfen, ob es sich tatsächlich um einen Reiserückkehrer handelt?

Gieseking: Das können wir nicht kontrollieren. Ich werde keinen Nachweis verlangen, ob jemand tatsächlich in Dänemark war oder in den Niederlanden. Das ist auch nicht meine Aufgabe.

Aden: Ich befrage aber meine Patienten: Welche Symptome haben sie, wo kommen sie her? Sind sie im Flugzeug gereist oder mit dem Bus. Das schreibe ich auf, um gegebenenfalls – wenn mehrere Infizierte auftauchen sollten – Rückschlüsse ziehen zu können.

Wie gehen Sie mit Patienten um, die sich per Attest von Maskenpflicht befreien lassen wollen?

Aden: In den letzten Wochen hatten wir tatsächlich mehr Nachfragen vor allem von jüngeren Leuten nach einem solchen Attest. Aber ich mache ganz klar: Das bekommt nur, wer durch das Tragen einer Maske ernsthafte gesundheitliche Probleme hat, etwa wenn bestimmte Lungenerkrankungen vorliegen. Masken-Verweigerern oder Verschwörungstheoretikern stelle ich kein Attest aus.

Gieseking: Ich halte den Leuten noch einmal vor, dass sie im Alltag in der Regel ja nur Masken in öffentlichen Verkehrsmitteln oder beim Einkaufen tragen müssen. Und dass es mitunter unangenehmer oder anstrengender sein könnte, im Supermarkt lang und breit erklären zu müssen, warum man keine Maske trägt. Die meisten lassen sich dann auch überzeugen.

Im März fehlte es an allem, selbst einfache Masken zu bekommen, war ein riesiges Problem. Der Hausärzteverband hatte sich in unserer Region sogar mit einem Spenden-Appell an die Öffentlichkeit gewandt. Wie sehen Sie sich nun gerüstet?

Aden: Wir haben unsere Praxen umorganisiert und Infektionssprechstunden eingerichtet. Auf diese Erfahrungen können wir nun zurückgreifen. Und wir haben derzeit keinen Engpass an Schutzkleidung. Was allerdings nach wie vor schwierig ist: Die Ärztinnen in unserem Team haben alle Kinder. Was ist, wenn die Schulen und Kitas dicht machen? Was ist, wenn in diesem Winter eine schwere Grippewelle wie in den Jahren 2017/2018 auf uns zurollt, noch Corona-Fälle dazu kommen und Ärztinnen ausfallen, weil sie ihre Kinder betreuen müssen? Da können wir schnell an unsere Kapazitätsgrenzen kommen.

Bund und Länder wollen nun darüber diskutieren, ob bestimmte Lockerungen der Corona-Auflagen wieder zurückgenommen werden sollten. Was halten Sie davon?

Gieseking: Dass wir jetzt durch eine gesteigerte Zahl an Tests mehr positive Abstriche verzeichnen, sollte nicht zu Aktionismus führen. Als die Läden wieder geöffnet wurden, hatten alle Sorge, dass dann die Zahl der Infizierten ansteigen könnte. Was ist passiert? Nichts. Auch nach den Großdemos etwa wie die in Berlin hatten wir keinen nennenswerten Anstieg. Diejenigen, die am meisten vor einer möglichen Infektion geschützt werden müssen, sind vor allem die alten Leute. Ich bin viel in Altenheimen unterwegs: Wenn man die Bewohner mal fragt, ob sie lieber Besuch empfangen oder in Isolation leben wollen, antworten sie meist: Wir wollen besucht werden. Einen zweiten Lockdown kann sich unsere Gesellschaft und Wirtschaft nicht leisten.

Raupach-Rosin: Ich finde es besonders wichtig, dass die Kinder wieder in die Schulen und Kindergärten gehen können. Sie sind in der ganzen Diskussion zu kurz gekommen. Interessant wird es zu untersuchen, wie sich diese Öffnungen auf das Infektionsgeschehen auswirken werden.

Aden: Es ist schwierig, wenn die Träger von Kindertagesstätten oder die Leiter der Pflegeheime so unterschiedlich entscheiden. Als Resultat der letzten Monate sind viele verunsichert und möglicherweise auch übervorsichtig. Unser Glaube, dass uns mehr Technik und mehr Wissen schützen, gerät an die Grenze. Regeln, die gestern sinnvoll erschienen, gelten heute nicht mehr. Die Ungewissheit auszuhalten, ist sehr schwer. Es wäre aber gut, wenn sich mehr Entscheider auf einen mutigeren Umgang mit Unsicherheiten einlassen würden.