Braunschweig. Der islamistische Extremismus wird die Justiz noch lange beschäftigen. Warum das so ist, erklärt Niedersachsens Justizministerin im Interview.

Niedersachsens Justizministerin Barbara Havliza (CDU) weiß, wie die Praxis aussieht; sie ist quasi direkt vom Gerichtssaal ins Ministerium gezogen. Seit ihrem Amtsantritt hat sie sich unter anderem dafür eingesetzt, die Justiz personell zu stärken. So seien im Haushaltsplan allein für den Gerichtsbezirk Braunschweig 31,5 Richterstellen zur Bewältigung des VW-Abgas-Komplexes veranschlagt. Auch der vermehrte Einsatz etwa von beschleunigten Verfahren ist ihr ein Anliegen.

Frau Havliza, Sie haben vor Ihren Wechsel in das Justizministerium viele Jahre unter anderem als Richterin in Nordrhein-Westfalen gearbeitet. Welchen Eindruck haben Sie von der Leistungsfähigkeit der niedersächsischen Justiz?

Ich habe 20 Jahre in Niedersachsen in der Justiz gearbeitet, bevor ich dann für zehn Jahre nach Nordrhein-Westfalen gegangen bin – Niedersachsen ist mir also sehr vertraut. Mein Eindruck ist, dass wir in diesem Land sehr gut aufgestellt sind. Sicherlich kann man noch an der einen oder anderen Stellschraube drehen, was wir ja auch tun.

Was meinen Sie konkret?

Als ich angetreten bin, haben wir ermittelt, dass wir 250 neue Stellen für Richter und Staatsanwälte benötigen, um zu einer ausgewogenen Belastung und einer akzeptablen Verfahrensdauer zu kommen. Auch in anderen Justizbereichen brauchen wir Verstärkung. Inzwischen haben wir mehr als 100 neue Stellen für Richter und Staatsanwälte geschaffen und weitere Stellen für Rechtspfleger, Amtsanwälte und Servicekräfte. Wir sind also auf einem guten Weg. Ein weiteres Anliegen von mir ist es, die Justiz sichtbarer zu machen: Wir müssen noch deutlicher machen, wie wir arbeiten und wie eng beispielsweise die Verzahnung mit der Polizei ist. Die Justiz wird in der Öffentlichkeit oft nur wahrgenommen, wenn etwas schief läuft. Aber wenn man sieht, welchen Output wir tagtäglich haben, wie viele Bußgeldbescheide ausgestellt, wie viele Anklagen erhoben und Urteile im Familien-, Zivil- und Betreuungsrecht gesprochen werden, sieht man, dass die Justiz ganz überwiegend geräuschlos und gut arbeitet.

Sichtbar wird die Justiz vor allem dann, wenn auf die Tat auch eine schnelle Strafe folgt.

Ja, ein gutes Beispiel dafür sind die beschleunigten Verfahren, die mit Erfolg angewendet werden: Wenn die Beweislage einfach und eindeutig ist, können Täter innerhalb kürzester Zeit verurteilt werden. Besonders Fälle von Kleinkriminalität lassen sich so konsequent verfolgen. Viele Täter, die keinen Wohnsitz in Deutschland haben und nicht in U-Haft genommen werden können, wären doch sonst schnell über alle Berge. Sorge bereitet uns allerdings eine EU-Richtlinie, die nun in nationales Recht umgesetzt werden soll. Nach bisher geltendem Recht ist die Bestellung eines Pflichtverteidigers im beschleunigten Verfahren erst bei einer zu erwartenden Freiheitsstrafe von sechs Monaten vorgesehen. Die Umsetzung der neuen EU-Richtlinie könnte dazu führen, dass dem Beschuldigten bei Haftvorführung immer ein Anwalt zur Seite gestellt werden muss. Wenn das so käme, wäre das beschleunigte Verfahren kaum noch durchführbar.

Viele Bürger scheinen den Eindruck zu haben, dass die Justiz etwa bei Intensivtätern nicht konsequent genug vorgeht oder untätig zusieht. Wie reagieren Sie auf solche Vorwürfe?

Der Eindruck entsteht auch deswegen, weil in unserer schnellen digitalen Welt Berichte über Straftaten viel schneller und weiter gestreut werden. Wenn früher zum Beispiel ein Mord in Nürnberg passiert ist, hat die lokale Zeitung darüber berichtet – in Braunschweig hat das keiner mitbekommen. Heute werden im Sekundentakt im Internet Dramen verbreitet, was das Gefühl der Unsicherheit erheblich verstärkt. Dabei zeigen die Statistiken, dass die Zahl der Straftaten eher zurückgeht.

Dennoch türmen sich bei den Staatsanwaltschaften und Gerichten die Akten. Die Belastung ist immer noch groß, so dass sich manche Verfahren in die Länge ziehen. Man hört, dass es immer wieder zu personellen Engpässen kommt – etwa, wenn junge Staatsanwältinnen in den Mutterschutz oder in die Elternzeit gehen.

Gott sei Dank nehmen aber auch immer mehr junge Männer solche Auszeiten für sich in Anspruch. Wir sollten darauf achten, dass diese dann nicht abschätzig beurteilt werden – nach dem Motto: Die kümmern sich lieber um die Familie als um die Karriere.

Gibt es der Personalschlüssel es her, dass solche Stellen 1:1 wieder besetzt werden?

Wie gesagt, wir wollen in dieser Legislaturperiode so viele Richter und Staatsanwälte wie möglich neu einstellen. Wenn sich das so umsetzen lässt, gibt es der Personalschlüssel her. Momentan reißt es bei kleineren Behörden natürlich noch Lücken, wenn Kollegen kurzfristig ausfallen.

Nicht nur bei Vertretungsregelungen ist Flexibilität gefragt. Auch gibt es aufwendige Verfahren wie die zur sogenannten VW-Diesel-Affäre, die an einem Standort zu einer erheblichen Belastung führen.

Dem haben wir bereits Rechnung getragen. Im Haushaltsplan sind für den OLG-Bezirk Braunschweig aktuell 56 zusätzliche Beschäftigungsmöglichkeiten, davon 31,5 Richterstellen, zur Bewältigung des VW-Abgas-Komplexes veranschlagt. Aus diesem Kontingent konnten bislang sämtliche Bedarfsanforderungen des Oberlandesgerichts und des Landgerichts erfüllt werden. Wir müssen uns künftig aber auch darüber Gedanken machen, ob wir in einigen Bereichen nicht noch eine höhere Spezialisierung brauchen – etwa beim Baurecht oder Arzthaftungsrecht. Der Richter ist oft noch Generalist, während viele Anwaltskanzleien hochgradig spezialisiert sind.

Und viel höhere Gehälter zahlen. Der Richterbund hat deswegen bereits kritisiert, dass es immer schwieriger wird, Nachwuchs für den öffentlichen Dienst zu gewinnen. Ist das so?

Der öffentliche Dienst ist für viele immer noch attraktiv. Die großen Wirtschaftskanzleien zahlen vielleicht exorbitant hohe Gehälter. Aber die junge Generation achtet vermehrt auf andere Faktoren: Familienfreundlichkeit, ein gutes Team und relativ freie Gestaltung der Arbeitszeiten. Viele junge Leute wollen nicht nur für den Beruf leben. Und, das sage ich aus 30 Jahren Berufserfahrung als Richterin: Die innere Unabhängigkeit ist unbezahlbar.

Sie waren vor Ihrem Ministeramt als Vorsitzende Richterin am Oberlandesgericht Düsseldorf für Staatsschutzsachen zuständig. Was hat Sie an Ihrer Tätigkeit besonders fasziniert?

Das war vor allem die Frage, was einen Menschen dazu treibt, ins Extremistische abzugleiten. Tatsächlich ähneln sich die Täterprofile in entscheidenden Punkten: Meist sind es junge Leute, die Orientierung suchen, eine vermeintlich bessere Gemeinschaft, in der sie sich aufgehoben fühlen. Bei Extremisten – egal welcher Richtung – steht der Wunsch nach ganz engen Strukturen und einem straffen Rahmen im Vordergrund. In den Botschaften der Salafisten bzw. Islamisten verbirgt sich oft, dass Menschen gefügig gemacht werden sollen – das wird unter dem Deckmantel der Religion verbreitet. Doch wenn man den Koran liest und sich mit Islamwissenschaftlern unterhält, kommt man sehr schnell dahinter, dass es häufig Botschaften sind, die der Koran gar nicht hergibt.

Es handelt sich ja meist um Menschen, die in westlichen Kulturen sozialisiert sind und unsere Bildungseinrichtungen durchlaufen haben. Warum wenden die sich einer so rigiden Ideologie zu?

Junge Menschen sind in einer Entwicklungsphase. Wer sich zu extremistischen Ideologien hingezogen fühlt, ist meist zutiefst verunsichert, häufig auch einsam. Eines ist mir im Laufe meiner Berufsjahre klar geworden: Extremistische Gruppierungen – dieses Phänomen können wir auch in unserer eigenen Geschichte beobachten – haben ein Gespür dafür, wo man solche Menschen packen muss. Salafisten-Prediger wie Pierre Vogel haben viel Geschick darin entwickelt, die junge Generation zu überzeugen – sprachlich, inhaltlich, mit Versprechungen.

Deswegen ist auch der Prozess gegen den Hildesheimer Prediger Abu Walaa so interessant, der vor dem Oberlandesgericht in Celle läuft: Auf der Anklagebank sitzen diejenigen, die junge Menschen radikalisiert haben sollen.

Der Abu-Walaa-Prozess ist aus meiner Sicht einer der größten Islamisten-Prozesse, die wir je hatten. Bislang lag der Fokus vor allem auf den Verführten, also diejenigen die etwa nach Syrien ausgereist sind, um sich der Terrormiliz Islamischer Staat anzuschließen. Diesmal stehen die Verführer im Fokus.

Auf dem Höhepunkt der Ausreisewelle nach Syrien 2014/15 berichteten Medien fast täglich über Themen wie Radikalisierung oder Terrorismus. Nun hat der Islamische Staat seine letzten Gebiete verloren und zahlreiche deutsche IS-Kämpfer sind entweder zurückgekehrt oder sitzen in kurdischer Haft. Haben Sie auch den Eindruck, dass der islamistische Extremismus in der öffentlichen Wahrnehmung nun nicht mehr eine so große Rolle spielt?

Die juristische Aufarbeitung beginnt erst jetzt. Wir erwarten noch eine Zunahme der Verfahren. Die Bundesanwaltschaft und die zuständigen Generalstaatsanwaltschaften ermitteln im Zusammenhang mit den Ausreisen in die ehemaligen IS-Gebiete und es wird bestimmt noch zu etlichen Anklagen kommen. Auch das, was wir als Phänomen „Homegrown-Terrorismus“ bezeichnen, wird uns noch beschäftigen: Menschen, die sich im Netz selber radikalisieren, relativ unauffällig sind und plötzlich wie aus dem Nichts Anschläge verüben.

Doch auch die Radikalisierung in sogenannten Hinterhof-Moscheen ist nach wie vor ein Problem. Wie geht die Justiz damit um, dass es eine Reibungsfläche gibt zwischen der freien Entfaltung der Persönlichkeit, der Religionsfreiheit und politischer Agitation mit der Folge der Radikalisierung und Gefährdung der öffentlichen Sicherheit?

An die geistigen Brandstifter heranzukommen, ist sehr schwer. Die Salafisten-Prediger verstehen es gut, gerade noch auf der richtigen Seite der Grenze zu bleiben. Polizei und Verfassungsschutz sind gefragt, so etwas zu beobachten und dann möglichst schnell einzugreifen, wenn die Grenze überschritten wird. Unsere Religionsfreiheit geht sehr weit, das ist auch richtig so. Aber wir müssen als Hüter der Verfassung auch sehr darauf achten, dass sie nicht ausgenutzt wird. Im Übrigen gilt die hohe Aufmerksamkeit auch anderen Extremismus-Formen: Extreme Haltungen, egal aus welcher Richtung, dürfen nicht verharmlost werden. Gewalt ist unter keinem Aspekt mit unserer demokratischen Grundordnung zu vereinbaren.

Wenn extremistische Straftäter verurteilt wurden, ist das radikale Gedankengut ja noch nicht aus ihren Köpfen verschwunden. Wie viele sogenannte Gefährder sitzen derzeit in niedersächsischen Haftanstalten?

Eine ganze Menge. Zum Stichtag 1. April 2019 befanden sich im niedersächsischen Justizvollzug fünf Gefangene in Strafhaft, die wegen einer terroristischen Tat verurteilt waren, sechs weitere Gefangene befanden sich deshalb in Untersuchungshaft. Und bei weiteren 35 Strafgefangenen und 6 Untersuchungsgefangenen, die wegen anderer Delikte in Haft sind, haben wir Erkenntnisse darüber, dass sie mit radikal-islamischen Überzeugungen sympathisieren. Glauben Sie mir, diese Klientel macht uns viel Arbeit.

Was machen wir mit radikalisierten Häftlingen? Wie können wir verhindern, dass sie in den Gefängnissen andere Inhaftierte radikalisieren?

Es gibt Islamisten, die im Ausland schon mit dem radikalen Gedankengut groß geworden sind, die streng muslimisch erzogen wurden und möglicherweise Ungerechtigkeiten gesehen haben. Die werden wir wohl kaum noch überzeugen können. Die Gefängnisstrafe und – wenn möglich eine anschließende Abschiebung in das Herkunftsland – ist dann unsere Art zu zeigen, dass wir eine wehrhafte Demokratie sind und Angriffe auf unsere Demokratie nicht dulden. Man muss allerdings aufpassen, dass solche Häftlinge andere im Vollzug nicht für ihre Idee begeistern.

Wie kann man dieser Gefahr begegnen?

In der Untersuchungshaft kommen hochradikalisierte Angeklagte in der Regel kaum in Kontakt mit anderen Häftlingen. Sie haben separate Hofgänge, nehmen anfangs an keinen Gemeinschaftsveranstaltungen teil. Die Frage ist nur, wie lange die weitgehende Isolation aufrecht erhalten werden sollte: Kein Mensch kann auf Dauer völlig getrennt von anderen Mitmenschen leben. Es ist eine Gratwanderung zwischen Gefahrenabwehr und einem menschlichen Umgang mit dem Gefangenen. Wenn wir Kontakt ermöglichen, dann aber nur zu Häftlingen, die nichts mit extremistischem Gedankengut zu tun haben. Zusätzlich schulen wir unsere Justizvollzugsbeamten, um auf Radikalisierungs-Erscheinungen sofort zu reagieren. Außerdem gibt es erfolgreiche Programme mit Experten, die sprachlich einen guten Zugang zu den Häftlingen haben und mit ihnen intensive Gespräche mit dem Ziel der Deradikalisierung führen können. Auch Imame können hilfreich sein: Sie können darauf eingehen, dass bestimmte Ansichten nichts mit dem Koran zu tun haben.

Die Zusammenarbeit mit den Imamen des deutsch-türkischen Moscheeverbandes Ditib ist in den niedersächsischen Gefängnissen gerade beendet worden.

Es handelte sich um drei Imame: Sie waren als türkische Beamte entsandt worden, wurden aus der Türkei bezahlt und hatten eine Berichtspflicht an die Türkei. Das wollen wir in unseren Gefängnissen nicht. Dort sitzt eine bunt gemischte Klientel: Darunter sind nicht nur Türken, sondern auch Kurden und möglicherweise Anhänger der Gülen-Bewegung, die in der Türkei verfolgt werden. Im Übrigen sind alle anderen Imame ja bei uns geblieben. Und es gibt neue Möglichkeiten: Wir sind im engen Austausch mit der Uni Osnabrück, die Imame ausbildet. Auch der neue Verband „Muslime in Niedersachsen“ ist an Gefängnis-Seelsorge interessiert.

Zur Person:

Barbara Havliza wurde am 13. März 1958 in Dortmund geboren.

1977 bis 1982: Studium der Rechtswissenschaften an der Wilhelms-Universität in Münster.

Nach dem Referendariat war sie bis 1987 als Rechtsanwältin in Osnabrück tätig.

Von 1987 bis 1992 arbeitete sie als Richterin und Staatsanwältin in den Landgerichtsbezirken Osnabrück und Oldenburg.

Ab 1992 war sie Richterin auf Lebenszeit am Landgericht und anschließend Vorsitzende Richterin in Osnabrück.

2007 wechselte sie als Direktorin zum Amtsgericht Bersenbrück.

Ab November 2007 war sie als Richterin am Oberlandesgericht in Düsseldorf eingesetzt, von 2010 bis 2017 als Vorsitzende Richterin im 6. Strafsenat für Staatsschutzsachen.

Seit 2017 ist Barbara Havliza niedersächsische Justizministerin.