Braunschweig. Der frühere Braunschweiger Domprediger Joachim Hempel erlebt in Äthiopien, wie der Glaube Menschen eine Heimat geben kann.

Der frühere Braunschweiger Domprediger Joachim Hempel leitet derzeit interimsweise im Auftrag der Evangelischen Kirche in Deutschland die evangelische Kirchengemeinde in der äthiopischen Hauptstadt Addis Abeba, der auch die Deutsche Kirchenschule angeschlossen ist. Armin Maus und Henning Noske sprachen mit ihm über seine ersten Eindrücke und Erfahrungen.

Wie geht es Ihnen persönlich, welche Situation haben Sie vorgefunden?

Ich habe mich gut zurechtgefunden, wenngleich die Temperaturen hier überraschend niedrig waren. Auf das Frieren musste man sich einstellen, es fehlt hier das Geld, Gas einzukaufen. Ansonsten ist dieses Addis Abeba ein Moloch mit mehr als 10 Millionen Einwohnern, der immer größer wird – mit den entsprechenden für uns unvorstellbaren Schwierigkeiten bei der Infrastruktur, unzuverlässigen Netzen und schwankender Versorgung.

Wie kommt die Kirchengemeinde zurecht?

Gerade endet mit der Regenzeit die große Sommerpause, die internationalen Mitarbeiter kehren zurück. Ich hatte seit meiner Ankunft bereits die Gelegenheit, hier viele Gespräche mit äthiopischen Mitarbeitern zu führen, auch in der „German Church School“. Am Anfang waren bei mir nur drei Leute im Gottesdienst, mittlerweile sind es schon 45. Das wollen wir jetzt mal stabilisieren. Ich bin hier nicht aus Spaß, sondern um Baustellen zu bearbeiten und Lösungen zu finden.

Können Sie uns Beispiele dafür nennen?

Wir treffen hier eine Umbruchsituation an. Die Gemeindestruktur hat sich hier vollkommen verändert, weil viele Familien, die berechenbare Größen waren, in der Zeit der Diktatur das Land verlassen haben. Jetzt ist die Arbeit unüberschaubarer und kurzfristiger, die Menschen wechseln häufig, aber der Einsatz hier ist dadurch nicht weniger wichtig.

Jetzt ist es unsere Chance, letztlich eine Art Beheimatung anzubieten, wo keine vorhanden ist. Und die wollen wir als einladende Gemeinde ausbauen.

Und zu den Baustellen gehört auch, dass unsere Schule seit 50 Jahren eine ausschließlich durch Spenden finanzierte Einrichtung ist. Spenden sind jedoch volatile Größen. Einen Haushaltsplan für eine Schule mit 800 Kindern mit Kollegium, Infrastruktur und Bauunterhaltung zu erstellen, das ist vor diesem Hintergrund eine besondere Herausforderung und selten verlässlich zu machen.

In Braunschweig wurden zu Ihrem Amtsantritt in Addis Abeba im Dom und in der Domgemeinde Spenden in Höhe von 25 000 Euro gesammelt und überwiesen.

Das ändert zwar an dem Grundproblem der extremen Abhängigkeit vom Spendenaufkommen nichts, aber es hat hier Tränen der Freude ausgelöst – und hilft sehr! Wenn schon die Schule grundsätzlich nicht finanziert ist, dann wird es auch mit den Projekten der Gemeinde schwierig. Wir haben hier die Ärmsten der Armen als Klientel.

Die Kirchenschule nimmt sich besonders sehbehinderten Kindern an.

Ja, hier wird hochprofessionell gearbeitet. Lehrerkollegium und Mitarbeiter sind hochmotivierte Leute. Durch die Inklusion von sehbehinderten und blinden Kindern, von Kindern mit Beeinträchtigungen im Schulunterricht hat die Deutsche Kirchenschule ein Alleinstellungsmerkmal. Das ist in afrikanischen Gesellschaften keine Selbstverständlichkeit.

Nur eine Beispiel: Es gibt hier eine Karategruppe, die blinde und körperbehinderte Kinder einschließt. Man bekommt Tränen in die Augen, wenn man sieht, wie gut das funktioniert – und was es an Selbstvertrauen bringt!

Was ist denn Ihre wichtigste Botschaft nach den ersten Wochen?

Es gibt hier mit der Gemeinde und der Kirchenschule ein funktionierendes Entwicklungsprojekt, das sich jetzt 50 Jahre lang, also nachhaltig, halten konnte. Da sind solche großartigen Spenden, wie jetzt die 25 000 Euro aus Braunschweig, mehr als nur ein kleiner Tropfen auf einen heißen Stein. Und ich kann Ihnen schon verraten: Es gibt bereits jemanden, der das gesamte Spendenaufkommen dieser Aktion verdoppeln möchte.

Sie halten sich jetzt in einer Region auf, die gerade eine Art politisches Wunder erlebt – Frieden zwischen Äthiopien und Eritrea. Das konnten auch viele Leser kaum glauben. Was sieht man davon in der äthiopischen Hauptstadt?

Es gibt eine Aufbruchstimmung im Land. Premierminister Abiy Ahmed ist ein Glücksfall. Die äthiopischen Kollegen sagen: Betet, betet, dass er am Leben bleibt! Die alten Kader sind noch nicht vollständig aus dem Verkehr gezogen, aber die Aufbruchstimmung in der Gesellschaft ist spürbar.

Gerade das beobachte ich hier gern: Die Presse und die Journalisten schwimmen sich frei, im Reformprozess ist das besonders wichtig. Jetzt werden Themen behandelt, die früher tabu waren, zum Beispiel das Zusammenleben von 80 verschiedenen Ethnien in Äthiopien.

Jetzt geht es um das, was zusammenhält – und da ist Pressefreiheit ein ganz wichtiger Baustein. Freie Journalisten gehören zu einer freien Gesellschaft, sonst funktioniert sie nicht.

Äthiopien hat 100 Millionen Menschen, die alle hoffen, dass etwas besser wird. Gerade die Verständigung mit Eritrea könnte sich segensreich auswirken, weil sie den Handel belebt und Äthiopien, das nur noch einen Hafen hat, jetzt zwei weitere Seehäfen nutzbar machen könnte.

Als jetzt der deutsche Entwicklungshilfeminister Gerd Müller zu Besuch in Addis Abeba war, konnte ich mit ihm sprechen. Von seinen Eindrücken, die er hier gewonnen hat, war ich sehr angetan. Er hat verstanden, dass man jetzt hier etwas tun muss, damit Menschen eine Perspektive haben – und eben nicht auf die Idee kommen, mit ihren Fähigkeiten ins Ausland zu gehen.

So sehe ich das auch. Und sage: Wer hier in der Deutschen Kirchenschule war und eine Ausbildung bekam, der hat in Äthiopien Perspektiven! Der bleibt hier, der geht nicht weg.

Übrigens: Wenn die Menschen hier nicht so stark in ihrem Glauben verankert wären, wie sie es sind, dann wären von den 100 Millionen noch viel mehr unterwegs in Richtung Europa. Glauben ist also auch eine Vergewisserung der eigenen Identität, die auch an die eigene Heimat gebunden ist. Das unterschätzen wir in der Flüchtlingsdiskussion. Mit Schrecken höre ich, was im Moment in Deutschland in Chemnitz los ist. Da muss ich sagen: Wenn manche Leute im Gottesdienst gewesen wären und mehr über Liebe, Respekt und Achtung gehört hätten, würden sie vielleicht nicht so viel Hass säen.

Wer hier eine Ausbildung bekam, hat in Äthiopien Perspektiven! Der bleibt, der geht nicht weg.
Joachim Hempel