Braunschweig. Neurobiologe Martin Korte erklärt seine neueste Studie an Mäusen, die einen Zusammenhang von Grippe und Alzheimer andeutet.

Seine aktuelle Studie im „Journal of Neuroscience“ hat große Aufmerksamkeit erzeugt. Die Arbeitsgruppe des Neurobiologen Professor Martin Korte von der TU Braunschweig fand heraus, dass Grippe-Infektionen langfristige Schäden im Gehirn von Mäusen hervorrufen können. Mit Professor Korte sprach Johannes Kaufmann.

Time Magazine, Newsweek, FAZ, Radio, Fernsehen – Wie ist das Medieninteresse zu erklären?

Wir haben genau auf dem Höhepunkt der europäischen und der amerikanischen Grippewelle eine Studie veröffentlicht, die zeigt, dass die Grippe nicht nur auf die Lunge und den Kreislauf einwirkt, sondern auch auf das Gehirn. Es liegt also auch am Timing, was aber Zufall ist, weil ein solcher Artikel einen langen Begutachtungsprozess durchläuft.

„Infizierte Mäuse brauchen länger, um zu lernen, und können sich schlechter erinnern.“
„Infizierte Mäuse brauchen länger, um zu lernen, und können sich schlechter erinnern.“ © Martin Korte, Neurobiologe an der TU Braunschweig

Was haben Sie herausgefunden?

Wir konnten zeigen, dass verschiedene Grippe-Subtypen noch lange, nachdem die Infektion abgeklungen ist und das Influenza-Virus aus dem Körper eliminiert wurde, Spuren im Gehirn hinterlassen können. Das ist in mehrfacher Hinsicht überraschend. Zum einen haben wir solche Folgen auch bei einem Subtyp beobachtet, der das Gehirn gar nicht infiziert. Das bedeutet, dass eine starke Immunreaktion im Körper sich auch auf das Gehirn auswirkt. Darüber hinaus sehen wir langfristige Effekte. 30 bis 60 Tage nach einer Infektion sind für eine Maus, die eine Lebensspanne von zwei Jahren hat, erheblich. Bemerkenswert ist also, dass die Effekte wahrscheinlich nicht vom Virus selbst vermittelt werden, sondern durch eine Immunreaktion im Gehirn. Die geht von sogenannten Mikrogliazellen aus, die normalerweise eine Art Hausmeisterfunktion im Gehirn haben. Sie können aber vom Hausmeister zum Soldaten werden. Dann scannen sie das Gehirn nach Eindringlingen und können dabei auch Nervenzellen Schaden zufügen.

Das Immunsystem greift also die eigenen Zellen an?

Es setzt Substanzen frei, die Sauerstoffradikale generieren, und diese können indirekt Schaden anrichten. Es handelt sich um einen Nebeneffekt der Bekämpfung eines möglichen Eindringlings – so ähnlich wie die Hautrötung rund um einen Insektenstich, die auf eine Weitung der Blutgefäße zurückzuführen ist – ausgelöst durch Botenstoffe von Immunzellen.

Unser Leser William Rossmann fragt: Was wird beschädigt?

Wir haben das räumliche Lernvermögen von Mäusen 30, 60 und 120 Tage nach einer Grippe-Infektion geprüft. Diese Fähigkeit wird vermittelt von Gehirnregionen, die bei Menschen auch notwendig sind für das Erinnern und Lernen von Fakten. Die Mäuse konnten zwar noch lernen, aber sie waren signifikant schlechter als Mäuse, die nicht infiziert wurden. Es hat sich gezeigt, dass die Nervenzellen im sogenannten Hippocampus weniger Synapsen, also Kontakte miteinander, haben. Diese Hirnregion ist beim Menschen von herausragender Bedeutung für autobiografische Erinnerungen.

Außerdem haben wir getestet, ob die Nervenzellen noch plastisch sind. Das bedeutet, dass sich die Stärke der synaptischen Kontakte beim Lernen verändert. Das war weniger ausgeprägt als in der Kontrollgruppe. Außerdem konnten wir feststellen, dass die Mikrogliazellen auch 30 oder 60 Tage nach der Infektion noch immer aktiviert waren. Wir konnten also von der Beobachtung der Lernleistung bis zu den einzelnen synaptischen Kontakten eine Kausalbeziehung herstellen.

Das heißt, Sie haben einen durchgehenden Wirkmechanismus festgestellt – von der Grippe-Infektion der Atemwege bis zum Schaden im Gehirn?

Zwei Fragen haben wir nicht geklärt: Wie kommt das Signal ins Gehirn? Wir vermuten, dass Botenstoffe des Immunsystems eine Rolle spielen, sogenannte Zytokine. Zweitens können wir nur indirekt aufgrund der langen Aktivierung der Mikrogliazellen schließen, dass diese verantwortlich sind. Um das endgültig zu belegen, müssten wir die Mikrogliazellen inaktivieren. Ein vergleichbares Modell haben wir aber auch für eine Sepsis, also eine bakterieller statt einer viraler Infektion. Da beobachten wir dieselben Prozesse, und in diesem Fall lassen sie sich unterbinden, indem die Mikrogliazellen inaktiviert werden. Das legt denselben Wirkmechanismus bei Viren zumindest nahe.

Mit welcher Methode haben Sie Ihre Erkenntnisse gewonnen?

Mit den Kollegen am Helmholtz-Zentrum für Infektionsforschung haben wir Mäuse mit verschiedenen Virus-Stämmen infiziert. Die Mäuse haben wir anschließend in Gruppen geteilt, bei denen entweder das Verhalten oder die Gehirne analysiert wurden. In den Gehirnen haben wir die Nervenzellen und ihre synaptischen Kontakte mit einem Färbemittel sichtbar gemacht und ausgezählt. Die Forscherin, die die Gehirne ausgewertet hat, wusste dabei nicht, welche Mäuse infiziert worden waren.

Das Verhalten wurde im „Water Maze“ untersucht. Das ist ein Schwimmbecken, das mit einer milchigen Flüssigkeit gefüllt ist. Darin befindet sich eine versenkte Plattform, welche die Maus per Zufall finden muss. Um das Becken herum sind Wegmarkierungen angebracht, und nach dem dritten oder vierten Versuch weiß die Maus, in der Nähe welcher Markierungen sich die Plattform befindet. Das weist auf Lernen über ein räumliches Gedächtnis hin. Infizierte Mäuse haben eine schlechtere Suchstrategie, brauchen länger, um zu lernen und können sich schlechter erinnern, wo die Plattform ist. Wir haben sehr junge Mäuse verwendet, die nach 120 Tagen wieder zu ihrem Ursprungsniveau zurückkehrten. Die spannende Frage ist nun, wie es bei alten Mäusen aussieht. Man weiß, dass alte Menschen viel stärker auf eine Grippeinfektion reagieren und anfangs auch verwirrter sind und stärkere Einschränkungen beim Lernvermögen zeigen.

Sind die Ergebnisse von der Maus denn überhaupt auf Menschen übertragbar?

Das muss man sehen. Allerdings sind die Nervenzellen als auch die Immunzellen im Gehirn evolutiv sehr stark konserviert. Das heißt, es gibt große Übereinstimmungen hinsichtlich der Gene, die abgelesen werden, und der Funktionsweise der Nervenzellen. Wir gehen also von einer guten Übertragbarkeit aus. Aber auch hier ist Messen Wissen: Man muss Studien am Menschen durchführen. Das ist allerdings schwieriger.

Weil man Menschen nicht einfach mit Grippe infizieren kann.

Das zum einen. Zum anderen haben wir viel mehr Mechanismen, um Einschränkungen einzelner Hirnregionen durch die Unterstützung anderer Areale zu kompensieren.

Jetzt wird über einen Zusammenhang mit Alzheimer und Depression spekuliert. Wie ist das zu erklären?

Wir wissen noch immer nicht, warum eine Alzheimer-Demenz zu einem bestimmten Zeitpunkt anfängt und warum sie unterschiedlich schnell voranschreitet. Eine Hypothese meiner Arbeitsgruppe lautet, dass entzündliche Prozesse im Körper sowohl den Beginn der Erkrankung als auch den Verlauf beschleunigen. Das kann eine bakterielle Sepsis sein oder eine starke Virus-Infektion. Relativ gut belegt ist ein Zusammenhang mit Übergewicht. Stark übergewichtige Menschen haben vor allem im Bauchgewebe eine große Ansammlung von Immunzellen, die ständig entzündliche Faktoren ausschütten. Solche Menschen haben auch ein fast vierfach erhöhtes Risiko, an Alzheimer zu erkranken.

Gibt es epidemiologische Studien, die nach einem statistischen Zusammenhang von Grippe-Erkrankungen und Alzheimer suchen?

Für die Grippe gibt es das nicht. Das ist auch schwer zu untersuchen, weil so viele Menschen im Laufe ihres Lebens zumindest einen grippalen Infekt haben. Viele gehen damit nicht zum Arzt.

Es reicht auch ein grippaler Infekt?

Es ist unklar, wie stark die Infektion sein muss. Wer fünf Tage Fieber hat, weiß, dass er in dieser Zeit kognitiv stark eingeschränkt ist – im Lernvermögen, im Aufnahmevermögen. Das Denken wird langsam. Das sind neurologische Auswirkungen während einer Grippe-Infektion. Es zeigt sich übrigens, dass entzündungshemmende Medikamente eine gewisse Schutzfunktion gegen Alzheimer haben.

Sollte man womöglich das Immunsystem herunterregeln bei nicht tödlichen Infektionen?

Wir wissen noch nicht, ob nicht möglicherweise eine schwache Anregung des Immunsystems sogar positive Effekte hat. Der Influenza-Stamm H1N1 hat in unserem Experiment nur eine schwache Immunreaktion ausgelöst und keine negativen Auswirkungen auf das Gehirn. Diese Mäuse haben sogar etwas besser gelernt als die Kontrollgruppe. Allerdings ist insbesondere bei starken Infektionen ein Impfschutz zu empfehlen.

Welchen evolutionären Sinn haben solche negativen Auswirkungen einer Immunreaktion ?

Das Immunsystem redet ständig mit dem Nervensystem. Im Gehirn kann durch das Immunsystem direkt ein krankheitsbedingtes Verhalten ausgelöst werden. Das hat wohl den adaptiven Sinn, dass wir uns ruhig verhalten sollen, wenn wir krank sind und damit dem Körper die Möglichkeit zu geben, sich zu erholen. Außerdem minimiert das die sozialen Kontakte. Beides hat evolutiv Vorteile. Die Langzeitfolgen sind eher eine Art Kollateralschaden. Es kann außerdem sein, dass diese Effekte schwach bei jungen und stark bei alten Menschen sind. Da alte Menschen sich nicht mehr reproduzieren, spielt das evolutiv keine Rolle.

Die schlimmen Folgen der Spanischen Grippe von 1918 werden auch einem Zytokin-Sturm, einer überschießenden Immunreaktion, zugeschrieben. Gab es in der Generation der Überlebenden mehr neurodegenerativer Erkrankungen?

Es gab auf jeden Fall eine große Zahl von Gehirnentzündungen und eine auffällige Häufung von Parkinson-Patienten. Das ist auch für die Folgen der Vogel- und Schweinegrippe in Asien gut untersucht. Es wurden viel mehr neurologische Fälle identifiziert, als man vorher vermutet hatte.