Hannover. Der Landtag streitet, ob und wie sie von Unterhalts-Nachzahlungen für Flüchtlinge entlastet werden sollen.

Unser Leser Mattias Crome aus Salzgitter-Ringelheim fragt:

Haben die Bürgen das eingegangene Risiko nicht verstanden oder unterschätzt?

Die Antwort recherchierte Peter Mlodoch

Es ging um schnelle Hilfe. Als sich 2013 Bürgerkrieg und Terror auf ganz Syrien ausbreiteten, entschlossen sich Bund und Länder zum Handeln und starteten Aufnahmeaktionen für Flüchtlinge. Den bereits in Deutschland lebenden Syrern wollte man damit ermöglichen, ihre noch in Syrien lebenden Verwandten in Sicherheit zu bringen. Möglichst unbürokratisch sollte das von statten gehen, aber auch ohne große finanzielle Lasten für die öffentlichen Haushalte. Die Angehörigen mussten daher bei den Ausländerbehörden eine so genannte Verpflichtungserklärung nach Paragraf 68 Aufenthaltsgesetz abgeben. Damit sicherten sie zu, die Kosten für den Lebensunterhalt der aufgenommenen Personen zu tragen und auch sämtliche öffentlichen Mittel wie Sozialhilfe zu erstatten.

„Wir haben hier einen Finanzminister, der für alles Geld findet, aber nicht für Bürgen.“
„Wir haben hier einen Finanzminister, der für alles Geld findet, aber nicht für Bürgen.“ © Anja Piel, Landtagsabgeordnete der Grünen

Unterschrift gegen Visa – das war der Deal für diese Rettungsaktion. „Über finanzielle Folgen denkt doch in einer solchen Situation keiner ernsthaft nach“, meinte ein Experte der niedersächsischen Regierung. Die Menschen hätten nur das Schicksal ihrer Verwandten im zerbombten Syrien vor Augen gehabt. Für Warnsignale, gar für Weisheiten aus dem juristischen Studium wie „Wer bürgt, wird gewürgt“, sei bestimmt kein Raum gewesen, wehrte der Fachmann Vorwürfe ab, die Flüchtlingshelfer seien viel zu unbedarft gewesen.

Ob und wie die Helfer von den Behörden über mögliche Konsequenzen ihrer Verpflichtungserklärung vollständig aufgeklärt oder vielleicht sogar zur schnellen Unterschrift gedrängt wurden, ist zumindest umstritten. Viel spricht dafür, dass die persönliche Leistungsfähigkeit für die Bürgschaft so gut wie keine Rolle spielte. Anders ist kaum zu erklären, dass sich Familienväter noch zusätzlich den Unterhalt von zehn Verwandten aufbürden konnten. Dazu kamen die unterschiedlichen Rechtsauffassungen von Bund und Ländern. „Die niedersächsischen Ausländerbehörden haben die Helfer falsch beraten“, sagte FDP-Innenexperte Jan-Christoph Oetjen am Mittwoch im Landtag.

Niedersachsen ging wie Hessen und Nordrhein-Westfalen zunächst davon aus, dass die Bürgschaft endet, sobald die Syrer als Flüchtlinge anerkannt werden. Der Bund hatte das von Anfang an anders gesehen, 2016 aber immerhin per Gesetz die Dauer der Verpflichtung für Altfälle auf drei Jahre begrenzt. Im Januar 2017 entschied das Bundesverwaltungsgericht in einem Fall aus NRW, dass die Verpflichtung auch nach erfolgreichem Asylantrag bestehen bleibt. Dies löste die Welle von Rückforderungen aus.

In Niedersachsen geht es nach Auskunft der Regionaldirektion der Bundesagentur für Arbeit in Hannover mittlerweile um eine Gesamtsumme von 4,1 Millionen Euro. 20 der 29 Jobcenter des Landes haben Rückforderungsbescheide mit bis zu sechsstelligen Beträgen verschickt. Eine besondere Vorreiterrolle spielt dabei – wie berichtet – das Jobcenter Wolfsburg. Landesweit handelt es sich um 720 Verfahren unterschiedlicher Art – von der Bürgschaft für eine Einzelperson bis hin zu großen „Bedarfsgemeinschaften“. Einzelheiten will die Arbeitsagentur aber mit Verweis auf den Datenschutz nicht nennen.

Im Landtag entbrannte ein heftiger Streit um die Frage, wie den betroffenen Helfern aus der Patsche zu helfen ist. Grünen-Fraktionschefin Anja Piel forderte die Große Koalition auf, diesen „erbärmlichen Zustand“ umgehend zu ändern – und unabhängig vom Streit zwischen Land und Bund. „Der Landesregierung wäre es unbenommen, mit einem Hilfsfonds in Vorleistung zu treten. Wir haben hier einen Finanzminister, der überall für alles mögliche Geld findet, aber nicht für die Bürgen“, meinte Piel.

FDP-Mann Oetjen sprach sich dafür aus, zumindest für atypische Härtefälle Abhilfe zu schaffen, bevor diese bei den Gerichten landeten. „Ein freundlicher Brief an die liebe Katarina löst dieses Problem nicht“, rief der Liberale Innenminister Boris Pistorius (SPD) entgegen. Der hatte in einem dreiseitigen Brief an die geschäftsführende Bundesarbeitsministerin Katarina Barley (SPD) um eine „tragbare Lösung“ gebeten, ist damit bislang aber auf Granit gestoßen.

„Wir können diese Menschen nicht im Regen stehen lassen“, betonte der Ressortchef nun im Parlament. „Sie haben mit ihrer Hilfe verhindert, dass sich viele Menschen auf eine lebensbedrohliche Reise in überfüllten Schlauchboten begeben mussten.“ Konkrete Schritte nannte Pistorius nicht, kündigte aber an, dass er sich noch vor Weihnachten mit Barley treffen wolle, um die Erwartungshaltung der Länder zu untermauern.

Der AfD-Abgeordnete Peer Lilienthal wandte sich gegen eine Entlastung der Flüchtlingshelfer. Diese seien schließlich nicht wie beispielsweise Flutopfer unverschuldet in Not geraten, sondern ihre Verpflichtungen freiwillig eingegangen. „Jetzt zu kommen und zu sagen, die Kosten zahlt der Steuerzahler – das ist frivol von Ihnen.“ Ganz so knallhart wollte sich die AfD dann aber doch nicht geben. Wenn die Rückforderungen „existenzvernichtend“ seien, könne sich die Fraktion eine finanzielle Hilfe durchaus vorstellen.