Hannover. Der Verein „Beraten“ hilft radikalisierten Jugendlichen und deren Angehörigen.

Unser Leser Robert Green fragt auf unseren Facebook-Seiten:

Haben die jugendlichen Radikalen ein eher homogenes Persönlichkeitsprofil und eine homogene Biografie, so dass man hier bei der Hilfe ansetzen kann?

Die Antwort recherchierte Katrin Schiebold

Den Verdacht hatten Ermittler schon lange, dass im Umfeld des Hildesheimer Salafistenvereins „Deutschsprachiger Islamkreis“ junge Männer und Frauen radikalisiert und dazu bewegt werden, sich dem sogenannten Islamischen Staat (IS) anzuschließen. Wer sind diese jungen Menschen? Was macht sie anfällig für salafistische Botschaften und wie kann man verhindern, dass weitere radikalisiert werden?

„Zynischerweise sind Salafisten oft die besseren Sozialarbeiter.“
„Zynischerweise sind Salafisten oft die besseren Sozialarbeiter.“ © Christian Hantel, Leiter der Beratungsstelle gegen salafistische Radikalisierung

Der Verein „Beraten“ in Hannover versucht seit mehr als zwei Jahren, radikalisierten Jugendlichen und deren Angehörigen in Niedersachsen Wege aufzuzeigen, wie sie sich von der gewaltbereiten und extremistischen Ideologie abwenden können. Mehr als 100 aktive Fälle haben die fünf Berater schon betreut; die Nachfrage nach dem Beratungsangebot ist inzwischen so groß, dass die Mitarbeiter an ihre Grenzen kommen.

Bei diesen „Fällen“ geht es meist um junge Menschen unter 30 Jahren aus allen gesellschaftlichen Schichten und aus allen Teilen des Landes, wie Christian Hantel, Leiter der Beratungsstelle, betont. Der Sozialpädagoge erlebt häufig, dass schnell die Erklärungsmuster „männlich, Muslim, Unterschicht, ungebildet, ultra-religiös“ herangezogen werden. Doch das greife viel zu kurz und gehe an der Realität vorbei: „Jeder kann sich radikalisieren, das hat nichts mit der Herkunft oder der Bildung zu tun“, sagt er. Auch Kinder von Ärzten, Lehrern oder Polizisten können anfällig für radikale Botschaften sein.

Wo sich salafistische Zentren bilden, sei oft Zufall – es hänge auch damit zusammen, wo sich Moscheeräume anmieten lassen und charismatische Persönlichkeiten predigen. Islamistische Propaganda und Botschaften wie die des Hildesheimer Predigers Abu Walaa oder des bundesweit aktiven Pierre Vogel fallen wiederum dort auf fruchtbaren Boden, wo es Brüche in der Biografie gibt. Oft liegen einer Radikalisierung Gewalterfahrungen zugrunde, Konflikte in der Familie, spannungsvolle Verhältnisse zu den Eltern oder fehlende Perspektiven. „Es handelt sich meist um Menschen, die labiler sind.“

Vielen Jugendlichen gehe es zunächst um Provokation: Sie wollen sich abgrenzen, auflehnen gegen das Elternhaus, gegen gesellschaftliche Normen. „Insofern ist der Salafismus auch eine Protest-Bewegung“, sagt Hantel. Darüber hinaus spielt die Sehnsucht nach Halt und Orientierung eine große Rolle; „Salafisten werden zur Ersatz-Familie“. Hantel spricht von „Kindern einer entgrenzten Gesellschaft, die nach einer Begrenzung suchen“. „Zynischerweise sind Salafisten oft die besseren Sozialarbeiter“, sagt er. „Sie geben jungen Menschen das Gefühl, Teil einer exklusiven Gemeinschaft zu sein. Es geht um eine Anerkennungskultur, die uns abhandengekommen ist.“

Die Salafisten selbst bezeichnen sich als Gruppe der besten Menschen; sie sind Teil der zweitgrößten Weltreligion und verstehen sich in dieser als Elite. Der Rückzug auf alte Werte sei für anfällige Jugendliche deshalb so attraktiv, weil er einen sicheren Rahmen bietet und einfache Antworten in einer immer komplexer werdenden Welt. Überraschend sei es deshalb nicht, dass es bei der Hälfte der Fälle, die der Verein betreut, um Konvertiten geht – also um Nicht-Muslime, die dem Islam beigetreten sind.

Auch sind es längst nicht mehr nur Männer, die sich für salafistische Botschaften begeistern. Bei 28 Prozent der bearbeiteten Fälle hatten es die Mitarbeiter von „Beraten“ mit jungen Frauen zu tun. „Hier findet Radikalisierung weniger in der Gruppe von Gleichgesinnten statt, sondern eher über das Internet“, sagt Hantel. Außerdem spielen persönliche Beziehungen eine große Rolle: Die Frau hat sich in einen Mann verliebt, der aus dem salafistischen Umfeld kommt.

Die Mitarbeiter von „Beraten“ versuchen deshalb nicht, mit den Frauen und Männern über Religion zu diskutieren. Sie treten vor allem mit den Eltern, Freunden, Lehrern oder Bekannten in Kontakt, wollen herausfinden, was den Betroffenen antreibt und wo die Gründe für die Radikalisierung liegen. Wenn die Beziehung zwischen Eltern und Kind gefestigt wird, sei man oft schon auf einem guten Weg, weiß Hantel aus Erfahrung. Wer ein intaktes soziales Umfeld hat, der ist für radikale Ideologien weniger empfänglich.