Als sich die „Stadtwerke-Affäre“ im September 2010 zu einem Skandal mit bundesweiter Beachtung auswuchs, brach für die Redaktion der Wolfsburger Nachrichten mal wieder eine lange Woche an, die unvergessen blieb. Es war der Gipfel einer Schmierenkomödie mit immer neuen Wendungen, eines Lehrstücks um Neid, Intrigen und einen Machtpoker, der manche vielversprechende Berufslaufbahn jäh beendet hat.

Für mich war es eine Zeit der langen Nächte am Schreibtisch, ein Alltag für mich, der ich damals die Wolfsburger Redaktion leitete. Im Rückblick aber war es die wohl härteste, wenn auch spannendste Phase in meiner knapp 40-jährigen Berufslaufbahn.

Es war der September, in dem zeitweise sogar der damalige Bundespräsident Christian Wulff (CDU) involviert zu sein schien in einen dubios-anrüchigen Wolfsburger Skandal, der wohl auch die Weichen gestellt hat für den vorzeitigen Abgang des angesehenen Oberbürgermeisters Rolf Schnellecke. Die Geschichte um Vorwürfe der Korruption, Untreue und Nötigung, die Gerichte noch viele Jahre beschäftigen sollten, fing – wie so oft im Journalistenleben – mit einem Tipp an. Und den gab mir der damalige Stadtwerke-Sprecher Maik Nahrstedt, der Ende 2019 im Alter von 51 Jahren gestorben ist.

Weil er die vertraulichen Hinweise aber nicht nur mir, sondern auch dem Mitbewerber gab, standen wir von Anfang an unter Zeitdruck. Wir brauchten daher ein spezielles Team. Daher bildete ich im Verlauf der Affäre mit meinem Stellvertreter Thomas Kruse und später auch mit Polizeireporter Hendrik Rasehorn eine redaktionelle Task-Force, die immer einsprang, wenn es Neues bei den Stadtwerken gab. Denn der Verdacht, dem wir nachgingen, hatte große Brisanz: Hatte der damalige Vorstandschef der Stadtwerke, Markus Karp – Wulffs Ex-Wahlkampfmanager im Ringen um das Ministerpräsidentenamt Niedersachsens 2003 und Schnelleckes politischer Ziehsohn – mit Wissen seines Sprechers Nahrstedt Stadtwerke-Gelder für Wahlkampfzwecke der CDU genutzt? Die Vermutung wog schwer: Denn der Kronzeuge war einer, der sich selbst der Mithilfe bezichtigte (wohl aus Rache, weil er um eigene Privilegien bangen musste): Nahrstedt.

Er soll Autor anonymer Briefe gewesen sein, die ab 2009 lanciert wurden und Karp Untreue vorwarfen. Als Nahrstedt daraufhin abgesetzt wurde, ließ er die Bombe platzen, bezichtigte sich 2010 in einem 13-seitigen vertraulichen Schreiben selbst, seit 2001 auf Veranlassung von Karp während seiner Dienstzeit massiv Wahlkampfarbeit für die CDU in Wolfsburg, Hannover, Verden und Brandenburg geleistet zu haben. Dafür hätten ihm seine Vorgesetzten Dienstwagen, Handy und Laptop zur Verfügung gestellt. Karp bestritt dies, zwei Stadtwerke-Prokuristen bestätigten dagegen die Darstellung des Sprechers. Die Affäre nahm Fahrt auf, sorgte bundesweit für Schlagzeilen.

Dann geriet Ende September auch Oberbürgermeister Schnellecke selbst in den Verdacht, bei der Misswirtschafts- und Parteiensumpf-Affäre mitgemischt zu haben. Dass er seine Wahlkämpfe über die Stadtwerke mitfinanziert haben soll, bestritt er energisch, sah sich aber bald mit dem Rücken zur Wand, als die Staatsanwaltschaft wegen Vorteilsnahme auch gegen ihn selbst ermittelte, die Häuser von ihm, Karp und Nahrstedt durchsuchte. Die Folgen der Affäre waren einschneidend: Anfang 2011 verließ Karp die Stadtwerke gegen eine Abfindung. Anfang April 2011 erklärte OB Schnellecke im Stadtrat völlig überraschend seinen Rücktritt.

Doch am Ende konnte die Justiz weder Karp noch Schnellecke rechtswidriges Verhalten nachweisen. Zahlreiche leitende Mitarbeiter der Stadtwerke mussten zwar hohe Summen an die Staatskasse zahlen, aber keine beruflichen Konsequenzen fürchten. Einzig Nahrstedt wurde Ende Mai 2013 verurteilt und musste Strafe zahlen – wegen Anstiftung zur Untreue.

Der Redaktion gibt die Affäre bis heute Rätsel auf. Unbestritten ist für den Kollegen Rasehorn, der nach meinem Wechsel 2012 in die Redaktion Salzgitter am Ball blieb, dass alle Protagonisten massive Eigeninteressen in diesem Machtpoker verfolgt haben.

Doch ob es einen Zusammenhang oder im Hintergrund einen oder mehrere Strippenzieher, vielleicht gar ein Drehbuch für den Ablauf der Ränkespiele gab, ist bis heute ungeklärt. Solche Fragen geraten bei der Analyse des Falles in den Hintergrund, wenn festzustellen ist: Die Stadtwerke-Affäre war schlicht eine menschliche Tragödie.

75 Jahre Braunschweiger Zeitung

Dieser Text ist Teil unseres großem Themenschwerpunktes zum 75-Jährigen Bestehen der Braunschweiger Zeitung.

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