Halt! Hier Grenze – das steht auf dem Schild in der Mitte der Allerbrücke zwischen Grafhorst und Wahrstedt. Nur einige hundert Meter entfernt liegt Oebisfelde – quasi unerreichbar Anfang Oktober 1989. Noch trennt die deutsch-deutsche Grenze die Menschen aus Ost und West. Nicht alle – bereits zu Monatsbeginn sind Züge mit DDR-Flüchtlingen aus den Botschaften in Prag und Warschau in der Bundesrepublik angekommen. Umarmungen, Freudenfeste, grenzenlosen Jubel gab es auf den Bahnhöfen in Helmstedt und Hof.

An diesem Morgen wird ein weiterer Zug aus Warschau erwartet. Er fährt diesmal die Bahnstrecke Stendal-Oebisfelde-Wolfsburg-Hannover. Die heutige ICE-Trasse. Vor 32 Jahren eher eine Rumpelstrecke, Oberleitungen gibt’s nicht. Einen Zeitplan auch nicht. In den Morgenstunden soll der Zug die Grenze passieren. Das reicht als Hinweis, als Idee für ein Bild. Und so stehe ich seit der Morgendämmerung auf einem Acker nahe der Allerbrücke. Dort, wo heute die B188 verläuft, hab ich den alten Käfer, Baujahr 1968, geparkt. Die Nikon FE mit Motor und 200er Objektiv und 400er Schwarz-Weiß-Film liegt griffbereit in der Fototasche.

Nebelschwaden liegen über der Allerniederung. Irgendwo hinter der Grenzbefestigungsanlage der DDR kläffen Wachhunde. Soldaten der Grenztruppen beobachten mich mit dem Fernglas. Ein Zug ist weit und breit nicht in Sicht. In Oebisfelde läuten die Kirchturmglocken. Es ist acht Uhr. „Sie läuten, als wollen sie etwas ankündigen“, heißt es später im Text. Zwei Minuten später kommt der Zug aus Warschau. Eine Diesellok der Bundesbahn mit vier Personenwagen nähert sich der Grenze. Menschen öffnen die Fenster, winken, als sie die Grenze passieren. Immer mehr drängen sich an die heruntergeschobenen Scheiben. Selbst der Lokführer schaut heraus, freut sich. Die Nikon arbeitet zuverlässig, Bild an Bild entsteht. Augenblicke der Freude, der Freiheit, des Glücks, festgehalten für die Ewigkeit. Ganz großes Kino, nur ist dieser Film Realität.

Diese Gänsehautmomente gehören zu den großartigsten Erlebnissen meiner Volontärszeit. Diese Bilder sind nach mehr als 30 Redakteursjahren noch in meinem Kopf. Auf der eigenen Festplatte sozusagen. Der große Jubel mag in Hof und Helmstedt gewesen sein. Doch dieser Augenblick an der Allerbrücke, allein auf dem Acker an der Grenze – das bleibt einzigartig!

Klar bin ich dem Zug dann bis Hannover hinterhergefahren. In der Halle 21 der Hannover Messe werden die 633 Botschaftsflüchtlinge versorgt. Drei von ihnen sind Silvio Küchler, Elrona Trüber und ihre Tochter Denise. Sie erzählen ihre Geschichte. Die drei stammen aus Zwickau, wollten eigentlich Verwandte in Polen besuchen, sind dann aber nach Warschau gefahren und in die Botschaft geflüchtet. „Das Maß war voll“, erzählt Silvio, jeder Mensch mit einem gesunden Verstand verzweifele in der DDR. Ihr Ziel ist jetzt Baden-Württemberg. „Wir wollen arbeiten, das ist unsere Zukunft“, sagen sie.

Was aus ihnen geworden ist, fast 32 Jahre nach der Flucht, ist offen. Die Recherche dauert an...