Das Wort für sich sei keine Beleidigung. Das stimmt – wenn man den Kontext ignoriert. Aus dem Mund eines Neonazis ist es das aber sehr wohl.

Hier schreibt die Judenpresse. Meinen ersten Artikel veröffentlichte ich in der „Jüdischen Allgemeinen“. Für meine Dissertation beschäftigte ich mich mit teils beeindruckendem Journalismus in israelischen Zeitungen. Judenpresse – das kann auch ein Qualitätssiegel sein.

So hat der Braunschweiger Neonazi das Wort aber sicher nicht gemeint, als er es – wie diese Zeitung berichtete – Medienvertretern am Rande einer Demonstration entgegengeschleuderte. Man kann durchaus argumentieren, dass das keine Volksverhetzung darstellt. Seltsam mutet allerdings die Begründung der Staatsanwaltschaft zur Einstellung des Verfahrens an: Das Wort für sich sei keine Beleidigung. Das stimmt – wenn man den Kontext ignoriert. Aus dem Mund eines Neonazis ist es das aber sehr wohl. So wie leider auch Jude auf vielen Schulhöfen dieses Landes als Schimpfwort gemeint ist.

Die vollständige Bedeutung eines Wortes ist abhängig von der Intention des Sprechers und der Funktion im Satz. Wird dieser Zusammenhang ignoriert, kann das absurde Folgen haben. So verlor kürzlich der Corona-Chefreporter der „New York Times“, Donald McNeil, seinen Job, weil er vor anderthalb Jahren in einem Gespräch mit Jugendlichen das Wort „Nigger“ ausgesprochen hatte. McNeil war damals ein Video gezeigt worden, in dem das Wort fiel, und um den Kontext zu verstehen, wiederholte er es bei seiner Frage danach, ob damit eine Person angesprochen worden war.

Zweifellos handelt es sich hierbei um ein rassistisches Schmähwort, aber McNeil hat es nicht als solches benutzt, was sein Arbeitgeber auch einräumte. Trotzdem musste er seinen Hut nehmen, denn in den USA ist das Wort tabu. Erlaubt ist nur noch, vom „N-Wort“ zu sprechen. Das Ganze erinnert an den Monty-Python-Film „Das Leben des Brian“, wo ein jüdischer Hohepriester bei der Steinigung eines Mannes, der den Namen Gottes, Jehova, ausgesprochen hat, selbst gesteinigt wird, weil er dazu aufruft, nicht sofort jeden zu steinigen, der Jehova sagt.

Noch absurder ist der Fall eines Professors in Kalifornien, der in einer Vorlesung die Funktion von Füllwörtern wie „äh“ oder „tja“ erklärte. Dabei wiederholte er ein Wort aus der chinesischen Sprache Mandarin, das etwa wie “ne-geh” ausgesprochen wird – und verlor daraufhin seinen Lehrauftrag, weil es inakzeptabel sei, dass Dozenten „Wörter benutzen, die die psychologische Sicherheit unserer Studenten verletzen können“, so die Begründung des Dekans der Universität.

Das ist das magische Denken des religiösen oder abergläubischen Tabus. Tabuisierte Dinge besitzen gefährliche Kräfte und müssen daher gemieden werden. Bei „Harry Potter“ wird über den teuflischen Oberschurken nur als „Der, dessen Name nicht genannt werden darf“ geflüstert, im Horrorfilm erscheint der Mörder, wenn man dreimal seinen Namen ruft – und in der Gegenwart wird manchen Lautfolgen eine kontextunabhängige, geradezu übernatürliche Macht zugeschrieben. Dabei ist Jude manchmal eine Beleidigung – und das „N-Wort“ manchmal keine.