Braunschweig. “Wer sich von der Weihnachtsgeschichte berühren lässt, hört die Worte des Engels – ‚Fürchte dich nicht‘– als Zuspruch an sich selbst.“

Vieles ist in diesem Jahr anders: Keine Weihnachtsmärkte, keine Konzerte, keine Weihnachtsfeiern, keine Verwandtschaftsbesuche, kein Gemeindegesang. Wir erleben ein stilles Weihnachtsfest mit vielen Einschränkungen. Aber die Weihnachtsbotschaft ist und bleibt die gleiche. Vielleicht hören wir sie sogar deutlicher als im gewohnten Trubel der letzten Jahre. Vielleicht begreifen wir klarer als sonst die ungeheure, alle menschlichen Maßstäbe sprengende Provokation, die darin zur Sprache kommt.

Denn die Weihnachtsgeschichte stellt ja alles auf den Kopf: Gott begegnet uns nicht als allmächtiger Weltenherrscher, sondern als neugeborenes Kind. Er kommt nicht in einem Palast zur Welt, sondern in einem Stall. Er liegt nicht in einem Kinderbett, sondern in einem Futtertrog. Der Engel erscheint nicht den Reichen und Mächtigen, sondern Hirten, damals Tagelöhner, die ganz unten auf der sozialen Leiter stehen. Gott macht sich klein. Er erscheint in der Armut und Not dieser Welt - und macht sie zugleich hell.

Dr. Christoph Meyns, Landesbischof der Evang. Landeskirche Braunschweig.
Dr. Christoph Meyns, Landesbischof der Evang. Landeskirche Braunschweig. © Privat

Wer sich von der Weihnachtsgeschichte berühren lässt, findet in den Hirten seine eigenen Dunkelheiten und Belastungen. Er hört die Worte des Engels – „Fürchte dich nicht“ – als hoffnungsvollen Zuspruch an sich selbst. Er erlebt sich in der Begegnung mit dem Kind als von Gott geliebter und angenommener Mensch. Darin liegt eine zutiefst tröstende Kraft. Zugleich markiert die Bibel auf diese Weise einen starken Widerspruch. Die Geschichte vom Kind in der Krippe und den Hirten auf dem Felde wendet sich gegen jedes Urteil über Menschen. Maßstäbe wie Leistungskraft, Erfolg, moralische Anständigkeit, sozialer Status, Popularität, Besitz, Schönheit oder Gesundheit spielen hier keine Rolle.

Die Weihnachtsgeschichte widerspricht jeder Form von Bevorzugung oder Benachteiligung durch Alter, Geschlecht, Hautfarbe, Religion oder kulturelle Herkunft. Sie durchbricht das Denken in Schubladen. Sie führt uns hinein in den Wirkungskreis einer allumfassenden, bedingungslosen, barmherzigen Liebe. Sie beruft uns dazu, in Fürsorge und Verantwortung miteinander zu leben und ignoriert dabei kulturelle, politische, wirtschaftliche und soziale Grenzen.

Über alle Spannungen und Gräben hinweg zusammenzustehen, darauf wird es ankommen, wenn wir das Corona-Virus besiegen und seine Folgen bewältigen wollen. Zuversicht, Rücksicht und Geduld sind angesagt. Das gilt nicht nur innerhalb unseres Landes. Die Pandemie ist eine weltweite Herausforderung. Und die Menschen in anderen Ländern leiden zum Teil sehr viel stärker als wir unter den Folgen.

Dr. Heiner Wilmer, Bischof von Hildesheim.
Dr. Heiner Wilmer, Bischof von Hildesheim. © picture alliance/dpa

In Syrien, im Jemen, in Eritrea und im Sudan verstärkt die Krankheit das Leid der Opfer von Krieg und Gewalt. In Indien und in vielen afrikanischen und südamerikanischen Ländern wirken sich die Einschränkungen des öffentlichen Lebens massiv auf Straßenverkäufer und Tagelöhner aus. Dadurch wiederum verlieren Kinder die Möglichkeit zum Schulbesuch. Zugleich können hier mit vergleichsweise wenig materiellen Mitteln viele Hilfsmaßnahmen umgesetzt werden.

Zum Glück ist die Spendenbereitschaft der Deutschen noch immer hoch und wird es hoffentlich trotz aller Einschränkungen bleiben. So wie wir beiden Bischöfe hier gemeinsam schreiben, rufen auch "Brot für die Welt" und "Adveniat" in diesem Jahr gemeinsam zu Spenden auf. Und Spenden geht auch gut von zuhause. Vor allen praktischen Maßnahmen in der Nähe und in der Ferne besteht der erste Schritt jedoch darin, der Verzagtheit keinen Raum zu geben. Wir brauchen Hoffnung. Daraus wächst die Kraft, der Pandemie und ihren Folgen mit Zuversicht, Geduld und Beharrlichkeit entgegenzustehen. „Fürchtet euch nicht“, diese Worte des Engels sind in diesem Jahr die wichtigste Weihnachtsbotschaft an uns.

Es lohnt sich, von den Hirten zu lernen. Sie haben sich auf das Wort des Engels verlassen. Sie haben vertraut. Sie haben sich auf den Weg gemacht. Von dieser Zuversicht, von dieser Hoffnung können wir uns anstecken lassen. Was könnte das auslösen? In einer Nacht, in der wir vielleicht nicht gemeinsam "Stille Nacht" singen können, können wir uns dennoch darüber freuen, wie wertvoll und kostbar uns unsere Lieben sind. An einem Abend, an dem wir feiern, dass uns Christus geschenkt ist, wirken kleine Zeichen der Verbundenheit und Liebe besonders kostbar.

Vielleicht können wir überlegen, wem in diesen Tagen ein freundliches Wort, das Licht einer Kerze, ein Weihnachtsgruß besonders guttun würde. Wenn wir dieses besondere Weihnachtsfest so leben, wirkt Menschlichkeit ansteckend. Das brauchen wir gerade jetzt besonders dringlich. Stellen wir doch jetzt ganz bewusst Kerzen auf. Als Ausdruck unserer Verbundenheit und unserer Hoffnung. Für diejenigen, die jetzt Angst haben, die einsam sind, die auf den Intensivstationen liegen, für diejenigen, die am Ende ihrer Kräfte sind. Zünden wir eine Kerze an für entführte Kinder in Afrika, für ausgebeutete Flüchtlinge in Libyen und für Menschen ohne Obdach in unseren Städten. Und zünden wir ein Licht an für uns selbst. Denn auch uns gilt: Heute ist uns der Heiland geboren.