Ihr in Braunschweig geborener Sohn stellte daher auch fest: „Sie war nie antisemitisch – ihr Lebtag nicht. Und sie war kein Nazi im engeren Sinn“.

Als ich in meiner Studentenzeit die Schriftstellerin Luise Rinser nach einer Lesung aus ihren frühen autobiographischen Erzählungen in einem längeren Gespräch näher kennenlernte, war ich vor allem eins: sehr verblüfft. Die gerade 60-jährige Lichtgestalt der frühen Bundesrepublik als Kämpferin für Frieden und Gerechtigkeit nahm sich trotz zahlreicher Professoren, darunter der Germanist Walter Hinck, und Honoratioren, die auf eine Begegnung mit der damals berühmten Schriftstellerin warteten, in gelassener Ruhe Zeit, die Fragen der sie umringenden Studierenden zu diskutieren.

Für uns galt sie als legendäre Widerstandskämpferin gegen nationalsozialistisches Unrecht, wussten wir doch, dass Luise Rinser Ende 1944 in Haft saß und ihr ein Prozess wegen Wehrkraftzersetzung drohte. Dazu kam es allerdings in den Auflösungserscheinungen des Systems nicht mehr. Über ihre Haftzeit hat sie aber im „Gefängnistagebuch“ berichtet und von der damals erlittenen Qual des Wartens ein bewegendes Zeugnis abgelegt.

Mit ihrem Bericht prägte Luise Rinser das Bild der Legende jener Frau, die sich zukünftig „in den Dienst der Menschlichkeit und der sozialen Gerechtigkeit stellte. Es wurde die Rolle einer „Diva der Friedensbewegung“, die sie wirkungsmächtig verkörperte und als Höhepunkt 1984 durch die Grünen zur Wahl des Bundespräsidenten nominiert wurde.

Schon kurz nach Beginn meiner Braunschweiger Amtszeit erinnerte ich mich bei der Sammlung von literarischen Stimmen zu Braunschweig wieder an Luise Rinser, denn 1981 hatte sie in ihrer Autobiographie „Den Wolf umarmen“ ein Braunschweiger Kapitel aus ihrem Leben beschrieben: „Am 1. September 39 begann ich zu schreiben. Ich schrieb, um mich zu retten, nicht um Schriftstellerin zu werden. Ich erwartete unser erstes Kind. Ich mußte mich um den Haushalt kümmern und um Lebensmittel Schlange stehen. Aber ich schrieb weiter. Ich schickte das Geschriebene an Peter Suhrkamp. Er lobte es sehr, aber fand, das gebe noch kein Buch, ich müsse noch einige Kapitel dazu schreiben. Ich schrieb sie, auf Bestellung. Dann war das Buch fertig.“

Dies war der Anfang ihrer Laufbahn als Schriftstellerin, in der sie allerdings auch nach dem Ende des Krieges gekonnt die eigene Vita zum Akt des Widerstands unter Hitler erfolgreich umgedeutet hatte.

Zur Zeit der Anfänge ihrer Romanarbeit lebte Luise Rinser mit ihrem Mann Horst Günther Schnell in Braunschweig im Hause Sackring 54. Der Ehemann war Komponist und Dritter Kapellmeister am Landestheater Braunschweig. Luise Rinser war schwanger und der Sohn Christoph wurde am 27. Februar 1940 hier geboren. Wenige Monate später war das Manuskript ihres ersten Buches „Die gläsernen Ringe“ fertig, das 1941 erschien. Die anrührende Kindheitsgeschichte wurde ein Welterfolg.

Zu ihrem 100. Geburtstag 2011 aber war Luise Rinser in die Diskussion geraten, denn sie war offenbar stärker in den Nationalsozialismus verstrickt, als dies bis dahin vermutet worden war. Bereits 1934 und 1936 hatte sie in der nationalsozialistischen Zeitschrift „Herdfeuer“ glühende Gedichte auf den „Führer“ veröffentlicht, die „in reinstem Blut-und-Boden-Stil“ verfasst waren: „Todtreu verschworene Wächter heiliger Erde,/des großen Führers verschwiegene Gesandte,/Mit seinem flammenden Zeichen auf unserer Stirn,/Wir jungen Deutschen, wir wachen, siegen oder sterben./Denn wir sind treu!“. Sie war auch in einigen NS-Organisationen aktiv, aber nie Parteimitglied.

Ihr in Braunschweig geborener Sohn stellte daher auch fest: „Sie war nie antisemitisch – ihr Lebtag nicht. Und sie war kein Nazi im engeren Sinn“. Die Veränderung ihrer Haltung, die Ambivalenz ihrer Persönlichkeit und ihr überzeugter Kampf für demokratische Grundwerte in der Bundesrepublik werfen noch immer Fragen auf. Als ihre Verstrickungen durch eine neue Biographie 2011 breiter bekannt und öffentlich diskutiert wurden, war auch die Frage noch interessant, wie es dazu einst gekommen war und wie die Umdeutung des eigenen Lebenslaufes möglich war. Ihre literarischen Werke aber waren und sind dagegen längst in Vergessenheit geraten, aus Sicht der Kulturgeschichte allerdings zu Unrecht.