Braunschweig. Doppelinterview mit Medea Krüger und Dagmar Ristig: Die eine hat ganz frisch ihr Abi in der Tasche, die andere hat es vor 60 Jahren gemacht.

Zwei Frauen sitzen sich gegenüber: Die eine ist happy, ihr Abi jetzt in der Tasche zu haben und freut sich auf ihr Jahr in Israel: Medea Krüger ist 19 Jahre alt und hat soeben die Neue Oberschule verlassen. Die andere heißt Dagmar Ristig und ist 80 Jahre alt. Sie ist Kriegswaise, hat die ersten Lebensjahre in Leipzig verbracht, bis ihre Mutter 1950 in den Westen flüchtete und sie nachholte. Vor 60 Jahren hat sie ihr Abitur an der Hoffmann-von-Fallersleben-Schule gemacht. Wir haben beide Frauen zum Doppelinterview gebeten.

Dagmar Ristig: Sie arbeitet gerne im Garten, liest viel, hat 48 Jahre im Chor gesungen und liebt das Theater und die Musik.
Dagmar Ristig: Sie arbeitet gerne im Garten, liest viel, hat 48 Jahre im Chor gesungen und liebt das Theater und die Musik. © Braunschweiger Zeitung | Bernward Comes

Frau Ristig, können Sie sich noch erinnern, was Sie nach dem Abi gemacht haben?

Dagmar Ristig: Am Tag nach meinem Abiball habe ich angefangen, in der Konservenfabrik Schmalbach zu arbeiten – sieben Stunden nach der Feier habe ich am Band gestanden und Etiketten auf Haarspraydosen geklebt. Ich musste Geld verdienen, meine Mutter war ja alleinerziehend. Ich habe viel gejobbt damals, auch bei der Post und im Sozialamt. Dabei sammelt man jede Menge Lebenserfahrung, lernt sehr unterschiedliche Menschen kennen.

Haben Sie noch Kontakt zu den anderen Abiturienten von der HvF aus Ihrem Jahrgang?

Dagmar Ristig: Wir haben jedes Jahr ein Klassentreffen. 27 waren wir damals, zum letzten Klassentreffen kamen 13. Ein paar sind leider schon verstorben.

Medea Krüger: Ich hoffe, dass der Kontakt bei uns auch so lange hält. Wir sind mit 54 SchülerInnen ein kleiner Jahrgang und haben uns wegen Corona über Monate nicht gesehen, weil wir Homeschooling hatten. Später gab es dann Unterricht in halber Kursstärke. Aber mit etlichen bin ich eng befreundet, wir treffen uns oft und waren auch schon gemeinsam im Urlaub. Direkt nach dem Abi hatten wir mit 18 Leuten ein Bauernhaus n an der Nordseeküste angemietet.

Frau Ristig, welche beruflichen Träume hatten Sie?

Dagmar Ristig: Von meinen Lehrern damals hat mich keiner richtig begeistert. Nirgendwo habe ich so viel gestrickt wie im Lateinunterricht. Nur eine Lehrerin, die zuvor Schauspielerin in der DDR war, hat mich begeistert. Die war toll und hat uns alle mitgerissen. Vielleicht kam daher mein Wunsch, Theaterwissenschaften und Journalistik zu studieren. Das war meiner Mutter aber nicht Brotberuf genug. Sie hat gesagt: Drei Jahre darfst du studieren, keinen Tag länger. Ein Vollstudium war also nicht drin. Und so bin ich Lehrerin geworden. 40 Jahre habe ich an einer Hauptschule unterrichtet. Und bei mir hat niemand gestrickt (lacht). Übrigens: Ganz früher wollte ich Klempner werden oder im Zoo arbeiten. Aber da wurde mir gesagt: Als Frau hast Du da keine Chance!

Medea Krüger, 19 Jahre: Sie reitet und singt, spielt Volleyball und trifft sich gerne mit Freunden. Engagiert hat sie sich in der Schülervertretung der NO.
Medea Krüger, 19 Jahre: Sie reitet und singt, spielt Volleyball und trifft sich gerne mit Freunden. Engagiert hat sie sich in der Schülervertretung der NO. © Braunschweiger Zeitung | Bernward Comes

Medea Krüger, haben Sie auch gestrickt im Unterricht?

Medea Krüger: Nein. Wir hatten sehr viele junge Lehrer, die gar nicht so viel älter waren als wir. Das war richtig cool, gerade in der Oberstufe hatten wir viel Spaß. Viele von ihnen sind sehr technikaffin, das hat beim Homeschooling natürlich geholfen, wenn wir über Tablets und iPads unterrichtet wurden.

Dagmar Ristig: Tablets, iPads, Filme – das gab es bei uns alles nicht. Und junge Lehrer habe ich vermisst. Mein ältester Schüler ist inzwischen übrigens 73 Jahre alt.

Als Sie zur Schule gegangen sind, Frau Ristig, durften Lehrer ihre Schüler und Schülerinnen auch noch körperlich züchtigen. Wie haben Sie das erlebt?

Dagmar Ristig: Schläge gab es bei uns nicht. Vor unserem Klassenlehrer, der ziemlich groß war und sehr streng, hatten wir anfangs einen Heidenrespekt. Später wurde er uns ein guter Freund und kam sogar lange zu unseren Klassentreffen. Für mich war er eine Art Vaterfigur. Schläge gab es keine – aber damals hat es sich in der Regel nach dem Bildungsgrad der Eltern gerichtet, ob jemand Abitur macht oder nicht. Der Arztsohn musste Abi machen, ob er wollte oder nicht.

Medea Krüger, wissen Sie schon, was Sie beruflich machen wollen?

Medea Krüger: Ich möchte Aufnahmeleiterin beim Film werden. Dazu braucht man ein Volontariat, das ich zum Beispiel gerne beim NDR machen würde. Vorher muss man aber einen mediennahen Beruf erlernt oder ein Studium abgeschlossen haben. Da ist meine Entscheidung, was genau es werden soll, noch nicht gefallen. Ich habe noch etwas Zeit, da ich erstmal für ein Jahr nach Israel gehe und meinen Internationalen Jugendfreiwilligendienst mache, und zwar in einem interreligiösen Kindergarten. Dafür habe ich mich schon im 10. Schuljahr bei der Stiftung Ökumenisches Lernen beworben.

Dagmar Ristig: Du bist ganz am Anfang Deines Lebens, jetzt öffnet sich alles [Anmerkung der Redaktion: gleich zu Beginn des Gesprächs hatten die Frauen ausgemacht, sich gegenseitig zu duzen.] Das ist ein schöner Ausblick. Ich werde so etwas nicht mehr erleben – mit 80 Jahren gucke ich eher zurück auf das, was ich schon erlebt habe. Ich habe ein Enkelkind, vermutlich werde ich nicht mehr sehen, wie es sich entwickelt. Das finde ich schade.

Aber Sie haben ja auch schon eine Menge erlebt in 80 Jahren!?

Dagmar Ristig: Das stimmt. Zum Beispiel bin ich damals mit meinem Mann im VW-Käfer nach Istanbul gereist. Als Schülerin hätte ich gerne an einem Austausch mit Seattle teilgenommen, aber meine Mutter konnte den Flug nicht bezahlen. Das war’s dann. Ich weiß nicht, ob der Jugend heute bewusst ist, wie privilegiert viele von ihnen leben, welche Chancen sie in unserem Bildungssystem haben...

Medea Krüger: Für mein Jahr in Israel hatte ich mich um ein Stipendium beworben. Grundsätzlich ist es natürlich so, dass wir in einer Blase leben: In meinem Freundeskreis haben wir alle ähnliche Interessen und Anschauungen, sind finanziell abgesichert. Als wir einen syrischen Schüler zu uns in die Klasse bekommen haben, der auch zu unserem Freundeskreis gehört, ist mir bewusst geworden, wie privilegiert wir sind und was meine Eltern mir ermöglicht haben an Hobbys und Urlauben. Das ist nicht selbstverständlich. Allerdings gebe ich sonst nicht viel Geld aus, Kleidung kaufe ich meistens Secondhand. Ansonsten lege ich Wert auf Fairtrade: Das kostet etwas mehr Geld, und das verdiene ich mir beim Babysitting.

Dagmar Ristig: Medea, ich wünsche Dir viel Glück und dass Deine Erwartungen sich erfüllen. Das Leben ist so reich!

Medea Krüger: Ich wünsche Dir auch alles Gute und Gesundheit!

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