Braunschweig. Der Braunschweiger Martin Korte ist einer der erfolgreichsten deutschen Hirnforscher. Er schreibt über die Rückkehr vom Home-Office ins Büroleben.

Das Vertraute übt in unseren Gehirnen oft einen fast übermächtigen, manchmal sogar geheimnisvollen Reiz aus. Ein Beispiel hierfür ist der „Namensbuchstaben-Effekt“, der sich auf die unbewusste Vorliebe eines Menschen für die Buchstaben des eigenen Namens, insbesondere für die eigenen Initialen, bezieht. So entscheiden wir uns statistisch tatsächlich gehäuft eher für Berufe, Partner und Marken, die mit unseren Anfangsbuchstaben beginnen (Jörg wird Journalist, heiratet Judith und liebt Jaffa-Kekse – kein Scherz). Ein damit verwandtes Phänomen ist der Umstand, dass uns gewohnte Wegstrecken als zeitlich kürzer erscheinen, als gleich lange unbekannte Wege.

Lesen Sie mehr:

Braunschweiger Bildungs-Expertin- Ringen um unsere Demokratie!

Braunschweiger Hirnforscher erklärt menschliche Gewalt

Braunschweiger Hirnforscher- Das Geheimnis eines gesunden Lebens

In diesem Monat vor zwei Jahren verlor all das Vertraute seinen Boden, es begann abrupt die Ära der Fernarbeit. Als die erste Welle von Covid-19-Fällen zu Schließungen führte, mussten sich die Angestellte an neue Verhaltensweisen gewöhnen. Die Abwesenheit vom Arbeitsplatz war noch nicht die Norm, die Zoom-Müdigkeit noch kein alltägliches Übel. Aber ab jetzt werden immer mehr Arbeitnehmer zumindest für einen Teil ihrer Arbeitswoche ins Büro gehen. Und hierbei müssen wir uns auch an die physische Realität gewöhnen, wieder von dreidimensionalen Kollegen umgeben zu sein - Menschen, die starren, plappern, schlürfen, keuchen, klappern, rascheln und zappeln.

Einige Anpassungen, die von uns erwartet werden sind klar: Das Tragen von Hosen ist eine Pflicht, keine Wahl des Lebensstils. Andere sind weniger offensichtlich: Augenkontakt mit den tatsächlichen Augen eines anderen herzustellen ist eine Fähigkeit, die neu erlernt werden muss, wenn sich das Büro wieder füllt. Zu kurz hingeschaut und Sie wirken uninteressiert, zu lang und Sie wirken unangenehm intensiv. Eine Studie aus dem Jahr 2016 ergab, dass drei Sekunden gegenseitiger Augenkontakt für den Durchschnittsmenschen genau richtig sind (zählen Sie aber bitte nicht laut mit!).

Die Kunst des Smalltalks

Smalltalk ist eine weitere weitgehend untergegangene Fähigkeit, denn von zu Hause muss man in der Videokonferenz nicht höflich nicken und lächeln; sich nach der Familie zu erkundigen, ist einfach komisch, wenn man mit seinem Ehepartner oder seinen Kindern spricht. Im Gegensatz dazu verlangt ein Büroleben endlose beiläufige Höflichkeiten, sei es, dass man jemanden auf dem Gang anrempelt, sich an der Kaffeemaschine trifft oder Türen aufhält und gemeinsam auf den Aufzug wartet. Und all diese Plattitüden lohnen sich: Forscher der Rutgers University fanden heraus, dass Smalltalk das Wohlbefinden und die Verbundenheit der Arbeitnehmer steigert. Aber das Plaudern „über nichts“ erfordert Übung, selbst für extrovertierte Menschen.

Besprechungen sind in der Offline-Welt völlig anders, im Guten wie im Schlechten. Zu den positiven Aspekten gehören die größere Spontanität und die Tatsache, dass niemand mitten in der Rede erstarrt und dabei sein Gesicht zu einer Grimasse verzerrt. Der Nachteil ist, dass man viele Gewohnheiten, die man sich zu Hause angewöhnt hat, bei der Rückkehr ins Büro schnell wieder verlernen muss - so kann man nicht offen an anderen Dingen arbeiten, während man jemandem zuhört, oder gar vor sich hin brummen. Auch können Sie sich nicht auf magische Weise unsichtbar machen, indem Sie eine Kamera ausschalten. Wenn Sie mit den Augen rollen, wird man es sehen; wenn Sie vor Verzweiflung mit dem Kopf auf den Tisch schlagen, wird man es bemerken.

Es werden sich neue Normen bilden

Auch kann man im Büro sinnlose Besprechungen nicht so einfach verlassen. In der virtuellen Welt ist die Rettung nur einen Klick und eine unaufrichtige Entschuldigung im Chat entfernt; in der physischen Welt wird der Abgang verfolgt von den Blicken der Anderen. Die Realitäten der körperlichen Kollegen zeigen sich auch auf andere Weise, so sind Frauen bei wärmeren Temperaturen produktiver, Männer bei deutlich niedrigeren – leider haben Frauen im Büro seltener die Kontrolle über den Thermostat als in ihren Wohnungen.

Auch werden sich in den kommenden Monaten neue Normen der Begrüßung herausbilden; Händedruck, Faustschlag oder einfaches „Hallo“? Masken aufsetzen, abnehmen oder unter das Kinn klemmen, bereit, im Handumdrehen eingesetzt zu werden? Insgesamt können Unternehmen nun versuchen, die Vorteile der persönlichen Interaktion mit der Flexibilität der Fernarbeit zu verbinden, nach der sich viele Mitarbeiter sehnen. Aber es wird noch dauern, bis man sich wieder an die Nähe der Menschen gewöhnt hat.

Ist Arbeit im Büro produktiver?

Dabei ist die Anwesenheit in der Firma mit einem gewichtigen Vorurteil versehen, welches mit der Frage zusammenhängt, was genau als Arbeit gilt. Im Büro am Schreibtisch zu sitzen gilt als Arbeit, ebenso wie das Betrachten eines Bildschirms ab einer bestimmten Größe oder die Teilnahme an einer Besprechung. Dieses Vorurteil trägt dazu bei, den „Verzerrung durch Nähe-Effekt“ zu erklären, also das Risiko, dass Angestellte, die viel Zeit im Büro verbringen, mit größerer Wahrscheinlichkeit aufsteigen als Homeoffice Mitarbeiter, die weniger sichtbar sind. Das liegt daran, dass die Anwesenheit in einem Bürogebäude an sich schon als Arbeit gewertet wird. Die bloße Tatsache, am Schreibtisch gesehen zu werden, veranlasst Beobachter dazu, Menschen als verlässlich und engagiert zu betrachten.

Diese vertrauten Formen der Arbeit können jedoch aus zwei Gründen täuschen. Der erste Grund ist, dass das, was wie Anstrengung aussieht, vielleicht gar keine ist. Wer in die Tastatur tippt, aktualisiert vielleicht nur sein LinkedIn-Profil. Die Teilnehmer an einer Sitzung sind oft körperlich, aber nicht geistig anwesend. Zweitens können Dinge, die wie das Gegenteil von Arbeit aussehen – wie Tagträumen – sehr nützlich sein. An den meisten Arbeitsplätzen ist es verpönt, länger ins Leere zu starren; Sicherheitspersonal und Models kommen damit durch, aber nur wenige andere. Dabei kann Tagträumen auch eine Quelle der Kreativität sein, ein Weg, um Lösungen für heikle Probleme zu finden.

Grübeln ist in praktisch jeder Firmenfunktion wertvoll

Albert Einsteins bahnbrechende Momente sind oft durch Gedankenexperimente entstanden, bei denen er seiner Fantasie freien Lauf ließ. Wie wäre es, so schnell wie ein Lichtstrahl zu reisen fragt er sich dabei gedankenverloren. Einstein ist zugegebenermaßen eine hohe Messlatte, aber das Abschalten kann auch Normalsterblichen helfen. In einer 2021 veröffentlichten Studie wurde festgestellt, dass knifflige Probleme am Arbeitsplatz bei Berufstätigen zu mehr Tagträumen führen und dass diese wiederum die Kreativität fördern. Ein Spaziergang kann nicht nur eine Pause von der Arbeit sein, sondern kreatives Schaffen bedeuten.

Ihr Newsletter für Braunschweig & Region

Kostenlosen Newsletter bestellen und täglich das Neueste aus der Region im Postfach lesen.

Mit meiner Anmeldung zum Newsletter stimme ich der Werbevereinbarung zu.

In einem Experiment wurden die Teilnehmer gebeten, im Sitzen oder im Gehen über kreative Verwendungsmöglichkeiten für einen gewöhnlichen Gegenstand nachzudenken. Ein Spaziergang erhöhte dabei die Kreativität beträchtlich, vor allem wird hierbei das assoziative Denken gefördert. Allerdings gilt (natürlich), dass auch Faulenzen klare Grenzen hat, denn, wenn man eine Frist verpasst, weil man seelenruhig aus dem Fenster starrt, hat man trotzdem eine Frist verpasst. Auch erfordert nicht jedes Problem eine Reise ins Grüne. Wenn Sie Ihre Arbeit von vornherein nicht besonders mögen, werden Sie wahrscheinlich von anderen Dingen träumen….. Aber Zeit zum Grübeln ist in praktisch jeder Firmenfunktion wertvoll, so können Kundendienstmitarbeiter eine gute Quelle für Ideen zur Verbesserung der Produkte eines Unternehmens sein, aber sie werden oft nur danach beurteilt, wie gut sie sich an einen vergebenen Zeitplan halten.

Das Überdenken der Arbeit nach der Pandemie konzentriert sich auf die Fragen des „Wann“ und „Wo“. Es wird viel darüber nachgedacht, wie man auch hybride Arbeitsformen zum Erfolg führen kann. Die Frage „Was ist Arbeit?“ wird viel weniger beachtet. Die Voreingenommenheit gegenüber vertrauten Formen der Tätigkeit ist hierbei tief verwurzelt. Aber wenn Sie demnächst einen Kollegen sehen, der durch den Park schlendert oder die Decke betrachtet, sollten Sie nicht davon ausgehen, dass nicht gearbeitet wird. Was wie Müßiggang aussieht, kann genau der Augenblick sein, in dem der Heureka-Moment eintritt.

Erfolgsautor Prof. Martin Korte („Wir sind Gedächtnis“) von der TU Braunschweig ist einer der bekanntesten deutschen Gehirnforscher.