Braunschweig. Ist die Demokratie wirklich stärker als die Diktatur? Das fragt unsere Kolumnistin Ursula Hellert angesichts des Krieges in der Ukraine.

In diesen Tagen bin ich wieder Oma geworden. Die Sorge darum, wie es der Mutter, dem Kind und der ganzen kleinen Familie gehen wird, wechselte sich ab mit der Vorfreude auf ein so winziges, verletzliches und unbeschreiblich bezauberndes neues Familienmitglied. Und jetzt mit großer, unbeschreiblicher Freude. Ja, das ist es, was mich beschäftigte und beschäftigt.

Und dann ist da noch dieses Diktum aus Moskau: Krieg ist ein legales Mittel, um seinen Machtbereich nach eigener Vorstellung zu vergrößern unter Brechung aller Verträge und jeden Rechts. Und die Sorge hat plötzlich ganz andere Gründe.

Am 13. Februar 2022 wurde unser nächster Bundespräsidenten gewählt. In seiner Rede – noch vor dem Moskauer Diktum – richtete der Frank Walter Steinmeier sich direkt an den russischen Präsidenten: „Aber, meine Damen und Herren, ich kann Präsident Putin nur warnen: Unterschätzen Sie nicht die Stärke der Demokratie!“ Als Argument für diese Stärke führt Steinmeier an, dass die Demokratie auf den Schultern ihrer Bürgerinnen und Bürger steht und nicht auf Anweisungen oder Befehlen von oben. Ist das so? ist die Demokratie stark, stärker als eine Diktatur?

Es gilt, sich auf den Wesensunterschied zwischen Diktaturen und Demokratien zu besinnen

Nehmen wir als Beispiel die Bekämpfung einer schweren epidemischen Krankheit: Kinderlähmung. Diese brach nach dem zweiten Weltkrieg in Deutschland massenhaft aus. Die DDR hatte Polio 1961 so gut wie ausgerottet, die BRD nicht. Der Bund prüfte damals noch, einzelne Bundesländer machten aber schon vorab ihre eigene Politik: Impfangebot, also Impfen auf freiwilliger Basis. In der DDR war die Impfpflicht schnell von der Führung entschieden und eingeführt worden. Weit weniger Menschen wurden in der DDR für ihr ganzes Leben durch diese Krankheit gezeichnet als in der BRD. War das nicht gut?

Gehen wir einmal von positiven Motiven bei Diktatoren aus. Ihr Credo lautet, dass die Führung am besten weiß, was für alle gut ist. Wenn man sich umschaut in der Welt, dann möchte man manchmal sogar wünschen, dass demokratische Wahlen nicht alles entscheiden. Wer da so alles ganz legal an die Macht kommt, da kann man sich nur wundern.

Risiko ist also definitiv in beiden Systemen, dem diktatorischen und dem demokratischen. Die jetzigen Zeiten können dazu verführen, nur auf Macht zu setzen. Und die ist unmittelbar in einer Diktatur viel besser zu organisieren und einzusetzen. Mit solchen Systemen könnte man sich in Europa sehr leicht der russischen Macht gegenüberstellen. Aber was gäbe es dann gegenüberzustellen?

Also gilt es, sich auf den Wesensunterschied zwischen Diktaturen und Demokratien zu besinnen. Gefahr gibt es in beiden – das haben wir Nachkriegsgenerationen nur fast vergessen. Aber die Perspektive in beiden Systemen ist eine grundsätzlich verschiedene: Das eine System schaut auf den Staat und das andere schaut auf das Individuum.

„Ich habe nicht die Überzeugung, dass ein im Kern freies Land quasi automatisch ein starkes Land ist.“

An der Bedeutung des Einzelnen im staatlichen Handeln kann man immer erkennen, in welchem System man sich befindet. In einer Demokratie zu leben, schließt Verpflichtungen und damit Einschränkungen durch den Staat für den Einzelnen nicht aus; ebenso wenig, wie es in einer Diktatur selbstverständlich positive Maßnahmen für die einzelnen gibt.

Wir müssen uns auf den Kern konzentrieren: frei denken, frei sprechen, frei glauben, frei handeln – immer begrenzt durch die Würde und das Recht eines jeden anderen.

Freiheit führt nämlich direkt zur Pflicht, sich um die anderen zu kümmern. Wie viel ist mir diese Freiheit wert? Wie viel ist uns diese Freiheit wert? Ich habe nicht die Überzeugung, dass ein im Kern freies Land quasi automatisch ein starkes Land ist. Aber ich bin sicher, dass der Drang nach Freiheit sich nicht ausrotten lässt. Demokratie gibt es nicht umsonst. Der Preis wird gerade höher. Wir müssen füreinander einstehen, in unserem Land und in Europa. Bequemlichkeit und Annehmlichkeiten sind in Frage zu stellen, damit wir in eine freie Zukunft gehen können.

Eine freie Zukunft für das Baby und neue Familienmitglied, auf das ich sehnlichst wartete und dem ich bei allem Glück jetzt ebenfalls diese Zukunft wünsche: frei denken, frei sprechen, frei glauben, frei handeln – nur begrenzt durch die Würde und das Recht eines jeden anderen ...

Ursula Hellert erzählt Geschichten über das lebenslange Lernen.

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