Osterode. 1957 erstritten die Metallarbeiter in Norddeutschland einen Erfolg: Lohn auch bei Krankheit. An ihrer Spitze stand ein Gewerkschafter aus Osterode.

Es war der wohl längste und härteste Streik in der Geschichte des Nachkriegs-Deutschlands: Der Metallarbeiterstreik 1956 und 1957. Doch was hat der 15 Wochen dauernde und 26.000 Metallarbeiter umfassende Streik mit einem Mann aus Osterode am Harz zu tun? Unsere Autorin weiß es – sie ist die Enkelin des Mannes, der in Schleswig-Holstein Maßgebliches für die Arbeiter bewegt hat:

Sie wachen morgens auf. Stechende Kopfschmerzen, dazu Husten und Schnupfen. Dabei wartet doch gerade heute viel Arbeit im Betrieb! Sie rufen den Hausarzt an: „Ich bin krank. Ich brauche eine Krankmeldung.“ Und dann legen Sie sich wieder ins Bett, sorgenfrei, denn der Lohn ist trotzdem auf dem Konto.

Das war in Deutschland nicht immer so. Wenn ein Arbeiter in den 1950er Jahren krank wurde, bedeutete das Verdienstausfall und zusätzliche Sorge für die Familie. Anders für den Angestellten, der im Krankheitsfall vollen Lohnausgleich erhielt. Ein für den Arbeiter zum Himmel schreiendes Unrecht. Doch die Arbeitgeberverbände hatten den Forderungen der IG Metall als Vertreter für die Metallarbeiter in Schleswig-Holstein ein entschiedenes „Nein“ entgegengesetzt. Daraufhin griffen die Arbeiter zum äußersten Mittel des Arbeitskampfes: Streik! So begann am 24. Oktober 1956 der größte Streik in der Nachkriegsgeschichte der jungen Bundesrepublik Deutschland. Er dauerte 114 Tage – und zehntausende Arbeiter legten die Arbeit nieder.

ARD-Doku-Drama zeigt Metallarbeiterstreik mit maßgeblicher Beteiligung aus Osterode am Harz

Die Bedeutung des härtesten Streiks in der deutschen Geschichte nach 1945 für die ganze Bundesrepublik nahmen NDR, SWR und Radio Bremen zum Anlass und produzierten ein Doku-Drama mit dem Titel „Die mutigen 56 – Deutschlands längster Streik“, das die ARD am 1. Mai um 21.45 Uhr ausstrahlt. In der ARD-Mediathek ist es bereits online abzurufen.

Hauptfigur ist die fiktive Emma Freese, Mutter einer kleinen Arbeiterfamilie, die stellvertretend für Viele steht. Sie nimmt die Perspektive derjenigen ein, deren Leben bei Krankheit maßgeblich von Not betroffen ist. Die Charaktere und ihre Geschichten sind aus Interviews mit Zeitzeugen und aus dokumentarischen Materialien verdichtet. Alle Funktionäre sind reale Figuren. Der aus Osterode stammende Streikleiter Herbert Sührig wird von Schauspieler David C. Bunners dargestellt.

Mit Spitze aus dem Harz: Das waren die Forderungen der IG Metall

Die Forderungen der IG Metall in den 1950er Jahren waren – insbesondere aus heutiger Sicht – überschaubar: Es ging um eine Lohnfortzahlung im Krankheitsfall, mehr Urlaubstage und ein zusätzliches Urlaubsgeld. Doch die Arbeitgeber in Schleswig-Holstein und der Gesamtverband der Metallindustrie befürchteten einen Präzedenzfall und wollten vor allem die Lohnfortzahlung im Krankheitsfall verhindern und suggerierten: „Sonntags besoffen, montags blau!“

Am 28. Juli 1956 kam es zur ersten Verhandlungsrunde zwischen Arbeitgeberseite und der Verhandlungskommission der IG Metall unter dem Vorsitz von Streikleiter Herbert Sührig. Dieser erklärte das Arbeitgeberangebot am 28. September 1956 für völlig unzureichend: „Der Arbeiter ist kein Arbeitnehmer zweiter Klasse“.

Einigungsversuche durch Kai-Uwe von Hassel (CDU), dem damaligen Ministerpräsidenten von Schleswig-Holstein, blieben ergebnislos und wurden in der ersten Urabstimmung, der noch drei weitere folgen sollten, am 7. Januar 1957 mit 97,4 Prozent abgelehnt – und immer mehr Betriebe schlossen sich dem Arbeitskampf an. Weitere Schlichtungsverhandlungen folgten, die schließlich am 9. Februar 1957 in Kiel zum Einigungsvorschlag führten.

Tag der Arbeit 2024: Das sind die Veranstaltungen der Gewerkschaften

Der Deutsche Gewerkschaftsbund (DGB) und seine Mitgliedsgewerkschaften in Südniedersachsen-Harz rufen zur Teilnahme an sieben Kundgebungen in der Region auf. Zum Tag der Arbeit am 1. Mai rücken die Gewerkschaften drängende Themen von Lohn- und sozialer Gerechtigkeit in den Blick.

Bei Demonstrationen und Maikundgebungen sind prominente Redner vor Ort. In Osterode hält etwa Sebastian Wertmüller von Verdi die Mairede, Sängerin Lenody sorgt für den musikalischen Rahmen. Die Veranstaltung beginnt am 1. Mai um 10.30 Uhr auf dem Martin-Luther-Platz. Es gibt Info-Stände der Gewerkschaften, ein Kinderprogramm sowie Grill- und Getränkestände. Alle Programme des DGB zum 1. Mai gibt es unter https://suedniedersachsen-harz.dgb.de/1-mai.

Der DGB lädt im Vorfeld zu kostenlosen Filmvorführungen ein. In der Neuen Schauburg Northiem zeigt der DGB um 11 Uhr den Film „We Want Sex“ mit einem Vortrag der Politikwissenschaftlerin Anne Engelhardt. Das Göttinger Jugendbündnis widmet sich am 30. April um 17.30 Uhr im Lumière mit dem „Verhängnisvolle Fehleinschätzung“ der Zerschlagung von Gewerkschaften durch Nationalsozialisten.

Durchbruch im Sinne der Gleichbehandlung von Arbeitern und Angestellten

Von Gewerkschaftsseite war das Verhandlungsergebnis ein Durchbruch im Sinne der Gleichbehandlung von Arbeitern und Angestellten. Die Forderungen der IG Metall nach längerem Urlaub und besserer Urlaubsvergütung wurden umgesetzt. Damit war aus Gewerkschaftssicht der längste Streik in der deutschen Sozialgeschichte erfolgreich beendet worden.

Der Deutsche Bundestag verabschiedete wenig später das „Gesetz zur Verbesserung der wirtschaftlichen Sicherung der Arbeiter im Krankheitsfall“, das als Vorläufer für die endgültige Gleichstellung durch das Lohnfortzahlungsgesetz von 1969 gilt.

Plakat des Metallarbeiterstreikes 1956/57: Wenn ein Arbeiter in den 1950er Jahren krank wurde, bedeutete das Verdienstausfall – anders war das bei Angestellten, die im Krankheitsfall vollen Lohnausgleich erhielten. Es handelt sich bei diesem Bild um ein Foto aus dem Archiv der Bergedorfer Zeitung.
Plakat des Metallarbeiterstreikes 1956/57: Wenn ein Arbeiter in den 1950er Jahren krank wurde, bedeutete das Verdienstausfall – anders war das bei Angestellten, die im Krankheitsfall vollen Lohnausgleich erhielten. Es handelt sich bei diesem Bild um ein Foto aus dem Archiv der Bergedorfer Zeitung. © BGZ

Der Streikleiter der IG Metall kam aus Osterode am Harz

Er war wortkarg und eloquent zugleich, mein Großvater Herbert Sührig. Für den aus Osterode am Harz stammenden Streikleiter des Metallarbeiterstreiks in Schleswig-Holstein 1956/57 war der 15-wöchige und zehntausende Metallarbeiter umfassende Streik der Höhepunkt seiner beruflichen Karriere. Doch sein politisches Engagement für die Belange von Arbeitern fand seinen Ursprung bereits in seiner Jugend.

Er wurde am 15. August 1900 im industriell geprägten Osterode am Harz in einfachen Verhältnissen geboren, besuchte bis zum 14. Lebensjahr die Osteroder Volksschule und begann eine Schlosserlehre in der kunstgewerblichen Werkstatt der Firma Kochendörfer in Osterode. Doch mit Ausbruch des Ersten Weltkrieges wurde die Werkstatt geschlossen und Sührig konnte die Lehre nicht abschließen. Er übernahm kleinere Arbeiten als Hilfsdreher und Schlosser. 1917 trat er in den Deutschen Metallarbeiterverband ein. Einige Monate war er Soldat im Ersten Weltkrieg. Wohl auch aufgrund seiner Kriegserfahrungen war er politisch links eingestellt und wurde 1919 Mitglied der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands.

1920 heiratete er die in Osterode geborene Frida Lerch. Das Ehepaar bekam vier Kinder. Obwohl er nur über Volksschulbildung verfügte, bemühte sich Sührig um Weiterbildung, wobei er von SPD und Metallarbeiterverband unterstützt wurde, denen seine Eloquenz aufgefallen war. Bei Wahlkämpfen war er ein gefragter Referent. Er war Vorstandsmitglied des Orts- und Kreisvereins Osterode und ab 1928 hauptamtlicher Gewerkschaftssekretär. Als die Nationalsozialisten in der Spätzeit der Weimarer Republik auch in Osterode beträchtliche Anteile an Wählerstimmen erlangten, erkannte Sührig in ihnen schnell den politischen Hauptgegner. Ab 1931 avancierte er zu einem der wichtigsten regionalen Wortführer gegenüber Ideologie und Politik der Nationalsozialisten, die er auf Wahlkampfveranstaltungen bis 1933 scharf kritisierte.

Heute normal: In den 1950er Jahren streiken die Metallarbeiter, weil sie eine Lohnfortzahlung im Krankheitsfall fordern. Es handelt sich bei diesem Bild um ein Foto aus dem Archiv der Bergedorfer Zeitung, die ebenso wie der Harz Kurier zur Funke Mediengruppe gehört.
Heute normal: In den 1950er Jahren streiken die Metallarbeiter, weil sie eine Lohnfortzahlung im Krankheitsfall fordern. Es handelt sich bei diesem Bild um ein Foto aus dem Archiv der Bergedorfer Zeitung, die ebenso wie der Harz Kurier zur Funke Mediengruppe gehört. © BGZ

Osteroder wird für ablehnende Haltung gegenüber nationalsozialistischer Ideologie bestraft

Sührigs stadtbekannte ablehnende Haltung gegenüber der rechten nationalsozialistischen Ideologie führte nach Hitlers Machtergreifung 1933 zu sofortigen Repressalien. Er wurde seines Postens als Gewerkschaftssekretär enthoben und ins Konzentrationslager Moringen gebracht, wo er fünf Monate einsaß. In seinem Lebenslauf schreibt er: „Nach meiner Entlassung aus dem KZ Moringen wurde mir durch das Arbeitsamt jede Möglichkeit genommen, irgendeine Beschäftigung in Osterode zu bekommen. Nur geringste Arbeiten wie Steinekloppen wurden mir angeboten. Ich sah mich gezwungen, eine Handelsvertretung zu übernehmen und Osterode zu verlassen.“ Zunächst verkaufte er Heizplatten, später arbeitete er mit einigen Unterbrechungen der Arbeitslosigkeit unangemeldet als Schlosser. Von nun an war er auf der Flucht vor der Geheimen Staatspolizei. Von 1933 bis 1944 wurde er drei weitere Male inhaftiert.

Nach meiner Entlassung aus dem KZ Moringen wurde mir durch das Arbeitsamt jede Möglichkeit genommen, irgendeine Beschäftigung in Osterode zu bekommen. Nur geringste Arbeiten wie Steinekloppen wurden mir angeboten. Ich sah mich gezwungen, eine Handelsvertretung zu übernehmen und Osterode zu verlassen.
Herbert Sührig - Streikleiter des Metallarbeiterstreikes 1956/57 aus Osterode am Harz

Über Holzminden, Ammendorf, Halle und Eisleben kam er schließlich am 15. April 1934 nach Forst (Oberlausitz). „Doch die Geheime Staatspolizei, die sich für meinen Verbleib interessierte, war nach wenigen Tagen über meinen Aufenthaltsort informiert“, schreibt er. Am 1. September 1934 wurde er infolge einer Hausdurchsuchung durch die Gestapo erneut verhaftet und wegen Vorbereitung zum Hochverrat unter Anklage gestellt und zu acht Monaten Gefängnis verurteilt, die er in Berlin-Plötzensee verbüßte. Nach seiner Entlassung stand er erneut drei Jahre unter ständiger Beobachtung der Gestapo. Nach dem erfolglosen Attentat auf Adolf Hitler durch die Gruppe um Claus Schenk Graf von Stauffenberg wurde Sührig am 22. August 1944 erneut verhaftet und bis zum 13. November 1944 im Arbeits- und Erziehungslager Schwetig bei Frankfurt/Oder untergebracht. Viele Insassen, darunter Zwangsarbeiter aus ganz Europa, starben infolge von Erschöpfung, Krankheit und Misshandlungen.

Sührig kehrt nach Kriegsende zurück nach Osterode am Harz

Am 1. April 1945 kehrte Herbert Sührig nach Osterode zurück und stellte sich in den Dienst der amerikanischen Kommandanturen. Er war maßgeblich an der Neugründung der SPD in Osterode beteiligt, dessen Kreisvorsitzender er wurde. 1946 erreichte er in den ersten freien Kreistagswahlen seit der nationalsozialistischen Herrschaft die absolute Mehrheit für die SPD und wurde zum ersten stellvertretenden Landrat gewählt. Im neu gegründeten Landtag in Hannover hatte er einen Sitz.

Sührigs Politik im Osteroder Kreistag war auf zwei Ziele fokussiert: Zum einen auf eine schnelle Verbesserung der Versorgungslage der Bevölkerung, darunter auch der vielen tausend Flüchtlingen aus den deutschen Großstädten und den Vertriebenen aus den Gebieten östlich der Oder-Neiße. Zum anderen eine rigorose Entnazifizierung, wonach überzeugte Nationalsozialisten aus leitenden Stellen von Wirtschaft, Industrie und öffentlicher Verwaltung entfernt werden sollten. Sührig hatte bereits Mitte 1945, also noch vor der ersten Kreistagssitzung, die Entfernung einiger nationalsozialistischer Ortsbürgermeister im Kreis Osterode gefordert. Aufgrund seiner Einstellung zur Entnazifizierung kam es zu heftigen Auseinandersetzungen mit den bürgerlichen Parteien im Kreistag. Diese gipfelten in Vorwürfen, Sührig habe seine Befugnisse überschritten. Ein britisches Militärgericht verurteilte Sührig letztlich 1947. Er beteuerte seine Unschuld und ging erfolgreich in Revision.

Im Auftrag des Parteivorstandes der SPD übernahm Sührig das Bezirkssekretariat der SPD im Bezirk Nord-West in Bremen. Der neugebildete Bezirk Weser-Ems wählte ihn am 13. Juni 1947 zu seinem Bezirkssekretär. Als Streikleiter im größten Streik der deutschen Nachkriegsgeschichte 1956/57 hat er sich einen Namen gemacht. Bereits im Frühjahr 1956 erlitt er einen Herzinfarkt. Der zweite Infarkt folgte im Sommer 1957. Am 12. August 1959 starb Herbert Sührig infolge eines dritten Herzinfarkts in Hamburg im Alter von 59 Jahren.

Foto aus den Tagen während des Metallarbeiterstreikes, auch Werftenstreik 1956/57. Archivbild der Bergedorfer Zeitung.
Foto aus den Tagen während des Metallarbeiterstreikes, auch Werftenstreik 1956/57. Archivbild der Bergedorfer Zeitung. © BGZ

Mehr aktuelle News aus der Region Osterode, Harz und Göttingen:

Sie entscheiden, auf welche Art Sie unsere Nachrichten empfangen möchten. Das sind alle digitalen Kanäle des Harz Kurier im Frühsommer 2024:

  • Bei Facebook und X (ehemals Twitter) finden Sie unsere altbewährten Social-Media-Auftritte
  • Bei Instagram bereiten wir Nachrichten visuell auf und posten kurze Videos in Form von Reels, die Sie manchmal auch in Artikeln wiederfinden
  • Unsere HK News-App hat mit dem aktuellen Update vor allem Funktionen für Vielleser in petto, wie eine Leseliste
  • Über die App und unser Nachrichtenportal auf www.harzkurier.de können Sie außerdem Push-Nachrichten abonnieren, um zeitnah über Geschehnisse informiert zu sein - einfach das Glocken-Symbol auswählen
  • In unserem abendlichen Newsletter „HK Kompakt“ schreiben unsere Redakteurinnen und Redakteure über Themen, die sie gerade persönlich bewegen
  • Auf WhatsApp finden Sie unseren neuen Kanal „Harz Kurier“ über das Symbol „Aktuelles“ und die Suche im Abschnitt „Kanäle“, oder direkt unter kurzelinks.de/hkwa