Brüssel. Bauern in Osteuropa protestieren, EU-Länder machen dicht: Die ukrainische Getreideschwemme wird zum Problem. Kommt es noch schlimmer?
Es ist eine bittere Enttäuschung für den ukrainischen Präsidenten Wolodymyr Selenskyj. Ausgerechnet Polen, einer der größten Unterstützer der Ukraine im Krieg gegen die russischen Invasoren, machte plötzlich die Grenzen dicht: Bis Ende Juni erlaubt die polnische Regierung keinen Import mehr von ukrainischem Getreide und weiteren Agrarprodukten wie Rüben, Mais, Zucker und Fleisch; nur den Transit will Polen nach Protesten aus Kiew erlauben, unter Auflagen und mit GPS-Kontrolle.
Auch Ungarn, die Slowakei und Bulgarien wollen in unterschiedlicher Intensität die Einfuhr ukrainischer Agrarprodukte blockieren, auf deren Absatz Kiew so dringend angewiesen ist. Rumänien fordert vehement Beschränkungen durch die EU. Der Grund: Die konkurrenzlos billigen Agrar-Importe aus der Ukraine haben bei den Nachbarn zu einem massiven Preisverfall vor allem bei Getreide geführt. Bauern gehen auf die Barrikaden.
Ukraine: Fehlender Weitertransport löst die Getreidekrise aus
Kurz vor Beginn der ukrainischen Offensive sind das schlechte Nachrichten für Selenskyj. Er drängt auf einen schnellen Beitritt seines Landes zur EU, auch als wichtiges Zeichen der Unterstützung Europas im Kampf gegen die russischen Angreifer. Noch in diesem Jahr müssten die offiziellen Beitrittsverhandlungen beginnen, binnen zwei Jahren könnten sie abgeschlossen sein, fordert die Führung in Kiew. Doch der Konflikt um die Getreideexporte zeigt, wie kompliziert der Unions-Beitritt der Ukraine tatsächlich wäre – und wie lang der Weg sein dürfte abseits der kühnen Aufnahme-Versprechen von Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen.
Seit einem Jahr unterstützt die Europäische Union die Ukraine dabei, ihr Getreide auf dem Landweg zu exportieren, nachdem Russland den Transport über die Häfen am Schwarzen Meer blockiert hatte. Die Einfuhrzölle für viele Agrarprodukte hat Brüssel aufgehoben. Aber das billige Getreide wird zum großen Teil nicht, wie geplant, weiter in den Nahen Osten und Afrika verschifft, sondern bleibt gleich bei den ukrainischen Nachbarn: Schienenverbindungen und Seehäfen etwa in Polen sind für die gewaltigen Mengen nicht ausgelegt, das behindert und verteuert den Weitertransport enorm, klagen Kommissionsbeamte.
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Ukraine: Getreide überschwemmt den Markt in Osteuropa
Die Folge: Das ukrainische Getreide überschwemmt den Markt in Osteuropa, sorgt dort für volle Silos und sinkende Preise. Das spürt die Branche selbst in Deutschland: „Für die deutschen Landwirte ist es zunehmend ein Problem, dass ukrainische Getreide-Exporte in Osteuropa stranden: In den letzten Wochen war zu beobachten, dass der Getreidepreis spürbar gesunken und die Nachfrage zurückgegangen ist“, sagt Johannes Meierhöfer, Fachbereichsleiter des deutschen Bauernverbands, unserer Redaktion. Doch stünden die Landwirte weiter solidarisch an der Seite ihrer ukrainischen Berufskollegen, das ukrainische Getreide werde in anderen Erdteilen ja auch dringend benötigt. „Es müssen also pragmatische Lösungen gefunden werden, es dorthin zu schaffen“, sagt Meierhöfer.
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Doch hält sich die Belastung in Deutschland noch in Grenzen. In Polen dagegen hat sich der Preis für Weizen halbiert, wütende Bauern gehen deshalb seit Wochen auf die Straße. Das ist gefährlich für die nationalkonservative Regierungspartei PiS, denn im Herbst wird ein neues Parlament gewählt.
Entsprechend heftig zieht die Regierung in Warschau die Notbremse. „Wir unterstützen die Ukraine. Aber eine gute Regierung unterstützt zuerst ihre eigenen Bürger“, sagt PiS-Chef Jaroslaw Kaczynski. Warschau hat deshalb den Landwirten auch großzügige Kompensationen versprochen. Aber Einfuhrstopps und üppige Agrarsubventionen dürfen einzelne EU-Mitgliedstaaten eigentlich nicht beschließen, zuständig ist allein die EU.
Ukraine-Krieg: EU-Kommission will europäische Landwirte entschädigen
Die EU-Kommission ist empört, versucht den Streit jetzt zu schlichten. In einem Brief an die osteuropäischen Regierungen kündigte von der Leyen umfassende Vorschläge an: Nach einer ersten Nothilfe will die Kommission weitere 100 Millionen Euro zur Entschädigung der Landwirte bereitstellen. Sie will zudem dafür sorgen, dass das Getreide aus Osteuropa weitertransportiert wird, etwa durch organisierte Konvois. In Brüssel wird auch diskutiert, ob die EU selbst das ukrainische Getreide aufkaufen und an die Abnehmerländer vor allem in Afrika liefern soll.
Am Dienstag beraten die EU-Agrarminister über die Krise. Landwirtschaftsminister Cem Özdemir (Grüne) warnt in Richtung Polen, die europäische Solidarität mit der Ukraine dürfe nicht kurzfristigen nationalen Einzelinteressen geopfert werden. „Das spielt nur Putin in die Hände“, sagt der Minister. Für die Ukraine ist der Getreideexport in und über die EU von größter Bedeutung: Voriges Jahr nahm das Land damit 26 Milliarden Euro ein, deutlich mehr als die 17 Milliarden Euro an europäischen Wirtschaftshilfen, wie Kommissionsbeamte vorrechnen.
Getreidekrise ist Realitätstest für EU-Beitrittspläne
Die Krise zeigt, zu welchen Verwerfungen ein schneller Beitritt der Ukraine in der EU führen würde, vor allem für den Landwirtschafts-Sektor: Die Ukraine ist einer der führenden Nahrungsmittelproduzenten der Welt. Sie zählt zu den größten Lieferanten von Weizen, Mais, Gerste oder Sonnenblumenöl. Als EU-Mitglied hätte das riesige Land nicht nur Zugang zum gemeinsamen Binnenmarkt, sondern auch Anspruch auf enorme Agrar-Subventionen aus dem Unions-Haushalt.
In Brüssel gilt der Streit deshalb als Weckruf - und als Signal, dass ein ukrainischer EU-Beitritt eher eine Sache von Jahrzehnten, nicht von Jahren sein wird. „Die Getreidekrise ist ein Realitätscheck“, sagt ein EU-Diplomat. Ohne vorherige Reform der europäischen Agrarpolitik sei die Aufnahme der Ukraine kaum vorstellbar. Aber das werde eine „Jahrhundert-Aufgabe“. Im EU-Rat der Mitgliedstaaten wundern sich Fachleute, warum Polen dennoch als ungeduldigster Befürworter des EU-Beitritts auftrat: „Was haben sie eigentlich gedacht, was auf dem Agrarmarkt passiert, wenn die Ukraine der EU angehört?“
Getreideabkommen läuft im Mai aus
Inzwischen kursieren in Brüssel Befürchtungen, dass es noch viel schlimmer kommen könnte. Russland droht damit, das von den Vereinten Nationen und der Türkei vermittelte Getreideexport-Abkommen nicht zu verlängern. Noch können Schiffe mit Getreide die ukrainischen Schwarzmeer-Häfen verlassen, aber das Abkommen läuft am 18. Mai aus.
Ohne eine Fortsetzung der Getreideausfuhr über den Seeweg steht einerseits den Ländern des globalen Südens eine Versorgungskrise bevor. Aber weil die Ukraine noch stärker auf den Transport über Land ausweichen müsste, würden andererseits die Getreidelieferungen in die EU noch zunehmen. Die Bauern in Osteuropa, warnen EU-Diplomaten, gerieten dann erst recht unter Druck.
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