Odessa. In Kürze läuft das Getreideabkommen zwischen Kiew und Moskau aus. Ob es verlängert wird, ist ungewiss. Die Gespräche stocken.

Als Andrii Levytskyi die Ladeluke öffnet, rieselt der Mais rauschend aus dem grünen Waggon durchs Gitter auf das Förderband. Weißer Staub steigt auf, umhüllt Andrii. Geduldig wartet der 49-Jährige, bis der Waggon leer ist, dann dreht er die gusseisernen Handräder, mit denen er die Luke wieder verschließt. Seit mehr als zwei Jahrzehnten arbeitet Andrii im Hafen von Odessa. Ob er in den nächsten Monaten Arbeit hat, hängt von dem Ausgang der Verhandlungen ab, die in Kiew und anderen Städten geführt werden. Hat Andrii keine Arbeit mehr, hat die Welt ein Problem.

Der Hafen vor Odessa ist seit dem Beginn des russischen Überfalls auf die Ukraine militärisches Sperrgebiet. An den Zufahrtstraßen hat das Militär Checkpoints errichtet, Barrikaden versperren den Weg. Soldaten laufen Patrouille. Fotografieren ist normalerweise streng verboten. Wir haben eine Ausnahmegenehmigung erhalten, und können eine Firma im Hafen besuchen, die dort Getreide aus- und entlädt. Der Name darf aus Sicherheitsgründen nicht genannt werden.

Bisher ist Odessa der einzige ukrainische Hafen, für den der Getreidedeal gilt. Die Ukraine will das ändern.
Bisher ist Odessa der einzige ukrainische Hafen, für den der Getreidedeal gilt. Die Ukraine will das ändern. © dpa | David Goldman

Der Besuch verzögert sich um eine Stunde, am Morgen gellen die Sirenen des Luftalarms, und während des Alarms stoppen sie die Arbeiten am Hafen. Das Werksgelände ist gesichert wie eine militärische Einrichtung. Eine kleine, schwere braune Diesellok schiebt und zieht Waggons über die Schienen, die das Gelände durchkreuzen. Scharen von sichtlich sattgefressenen Tauben stolzieren über den Betonboden. Die vorherrschende Farbe ist Grau. Hinter dem schlichten, zweistöckigen Verwaltungsgebäude reihen sich jedoch Dutzende gut vierzig Meter hohe Betonsilos aneinander, sie sind mintgrün angestrichen.

Ukraine und Russland stemmen ein Viertel der weltweiten Getreideexporte

Der salzige Geruch des Meeres weht aus der Richtung, in der große Lastkähne in den bewölkten Himmel ragen. Dort liegen die Schiffe, die das ukrainische Getreide in die Welt bringen. Seit jeher ist das Schwarze Meer für die Ukraine der wichtigste Transportweg für ihre Exporte. Vor der russischen Invasion im Februar vergangenen Jahres wurden 97 Prozent der Agrar-Transporte über die ukrainischen Häfen abgewickelt.

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Nach dem Überfall blockiert die russische Marine die Häfen, erobern russische Landstreitkräfte Mariupol. Die ukrainischen Exporte brechen ein, mit dramatischen globalen Folgen. Das Land gilt als eine der wichtigsten Kornkammern der Welt. Gemeinsam mit Russland ist die Ukraine für ein Viertel der weltweiten Getreideexporte verantwortlich. Der plötzliche Stopp der ukrainischen, aber auch die drastische Reduzierung der russischen Exporte lassen die Lebensmittelpreise weltweit explodieren.

Getreidedeal gilt bislang nur für einen ukrainischen Hafen

Putins Krieg wird auch für arme Menschen in Afghanistan, Äthiopien, Bangladesch oder im Jemen zu einem Problem. Die Vereinten Nationen warnen vor Hungerkatastrophen und vor der Destabilisierung von Ländern, sie drängen auf eine Lösung. Im Juli kommt es schließlich zu einem Durchbruch: Unter der Vermittlung der Türkei und der Vereinten Nationen verständigen sich die Ukraine und Russland auf einen Korridor, in dem leere Schiffe Odessa anlaufen, mit Getreide beladen und wieder ablegen können, ohne unter Beschuss zu geraten. Inspektoren aller Seiten dürfen kontrollieren, ob die Schiffe tatsächlich nur Getreide geladen haben.

Andrii Levytskyi arbeitet seit zwei Jahrzehnten im Hafen von Odessa.
Andrii Levytskyi arbeitet seit zwei Jahrzehnten im Hafen von Odessa. © Reto Klar

Seitdem hat Andrii Levytskyi mehr zu tun als jemals zuvor in den zwei Jahrzehnten, die er im Hafen von Odessa arbeitet. Denn das Abkommen gilt nicht für andere Häfen wie Mykolajiw. Er ist ein hoch aufgeschossener Mann und nicht sonderlich gesprächig. Die Antworten kommen nur einsilbig aus seinem Mund, von Politik versteht er nichts, sagt er. „Ich bin froh, dass ich arbeiten kann und mein Gehalt bekomme“, sagt er und klopft sich den Mehlstaub von seiner Jacke. Er weiß aber: Was er und seine Kollegen hier tun, ist wichtig. Er rückt seinen Helm zurecht: „Ich bin stolz darauf“.

Ukraine: Russland sabotiert Abkommen „in gewisser Weise“

Ob Andrii und seine Kollegen weiterarbeiten können, liegt in der Hand von Politikern. Im November wurde das Getreideabkommen um 120 Tage verlängert. Jetzt verhandeln die vier Parteien erneut, am 18. März läuft das Abkommen aus. Die Gespräche verlaufen zäh, die ukrainische Seite ist nicht zufrieden damit, wie die Russen sich verhalten. Die russischen Inspektoren „sabotieren den Getreidekorridor in gewisser Weise“, sagt Markijan Dmytrasewytsch. Er ist der stellvertretende Landwirtschaftsminister der Ukraine. Anstatt der möglichen sechs oder sieben Schiffe am Tag kontrollierten die Russen lediglich eines. Die Folge: Es kann weit weniger Getreide Odessa verlassen als eigentlich möglich wäre.

Zudem fordern die Ukrainer eine Verlängerung des Abkommens nicht nur um erneute 120 Tage, sondern um ein ganzes Jahr, um mehr Planungssicherheit zu haben. Zudem fordere Kiew auch, den Schwarzmeer-Hafen Mykolajiw zu öffnen, so Dmytrasewytsch. Mehr Getreideexporte würden der ukrainischen Landwirtschaft helfen, die wegen des Kriegs unter massiven Problemen leidet.

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Der stellvertretende Landwirtschaftsminister beziffert die bisherigen kriegsbedingten Verluste in der Landwirtschaft auf rund 40 Milliarden Dollar. Nahezu ein Viertel der Böden könnten nicht bewirtschaftet werden, die Preise für Düngemittel, Saatgut und die Logistikkosten seien enorm gestiegen. „Vor der Invasion haben sie 40 Dollar pro Tonne Getreide gezahlt, jetzt sind es 100.“ Zudem sei die Arbeit der Landwirte enorm gefährlich geworden, weil vielerorts Blindgänger und Minen liegen. „Wir hören jeden Tag von Explosionen“, sagt Dmytrasewytsch.

UN: Stopp des Getreidedeals hätte „gravierende Konsequenzen“

Vor allem aber argumentieren die Ukrainer mit den globalen Folgen eines Scheiterns der Verhandlungen. Zwischen August vergangenen Jahres und dem 6. März seien knapp 6,5 Millionen Tonnen Weizen über das Schwarze Meer exportiert worden. „Diese Menge spielt eine entscheidende Rolle bei der Eindämmung der anhaltenden Nahrungsmittelkrise“, heißt es in einer Mitteilung der Regierung. Schließlich seien 43 Prozent der Weizenexporte direkt in Länder mit niedrigem, oder niedrigem mittleren Einkommen verschifft worden, auch nach Bangladesch (655.000 Tonnen), Jemen (205.000 Tonnen), Äthiopien (202.000 Tonnen) oder Afghanistan (130.000 Tonnen).

Das Welternährungsprogramm der Vereinten Nationen (WFP) misst dem Abkommen eine enorme Bedeutung bei. Es habe „geholfen, die Preisspirale auf dem Weltmarkt zu stoppen und damit Nahrungsmittelpreise vor allem für arme Menschen stabilisiert“, betont Martin Frick, der Direktor des Berliner und Brüsseler WFP-Büros. Das Getreideabkommen sei ein „diplomatischer Erfolg und Lichtblick“ gewesen. Allein WFP habe dank des Abkommens 500.000 Tonnen Lebensmittel direkt in Hunger-Brennpunkte liefern können, so Frick. Jetzt müsse es „dringend verlängert werden“, ansonsten drohten „gravierende Konsequenzen“ für diejenigen, die von Armut bedroht seien.

Wie wichtig den Vereinten Nationen das Getreideabkommen ist, zeigte sich am Mittwoch. Da traf UN-Generalsekretär Antonio Guterres in Kiew ein. Am Donnerstag sprach er dem ukrainischen Präsidenten Wolodymyr Selenskyj über den Stand der Verhandlungen.

LandUkraine
KontinentEuropa
HauptstadtKiew
Fläche603.700 Quadratkilometer (inklusive Ostukraine und Krim)
Einwohnerca. 41 Millionen
StaatsoberhauptPräsident Wolodymyr Selenskyj
RegierungschefMinisterpräsident Denys Schmyhal
Unabhängigkeit24. August 1991 (von der Sowjetunion)
SpracheUkrainisch
WährungHrywnja