Wolfsburg. Mal nörgelt er rum, mal lobt er Wolfsburg über den grünen Klee. So richtig wird niemand schlau aus Herbert Diess. Ist er ein Romantiker?

Herbert Diess ist und bleibt vielen Entscheidungsträgern in Wolfsburg ein ewiges Rätsel. Warum kritisiert der Volkswagen-Chef in kleiner Runde immer wieder die urbane Langeweile der Konzern-Hauptstadt? Welche Atmosphäre vermisst er? Wie sollte die Autostadt in Stadt, Region, Land und Welt ausstrahlen? Die Antwort ist vielleicht in England zu finden. In London, der Hauptstadt und Weltmetropole? Nein. In Birmingham, im Herzen der Midlands. Dort, wo einst Schlote und Halden die industrielle Revolution des Königreiches symbolisierten und wo sich heute eine Metropolregion entwickelt hat, die Diess offenbar immer noch imponiert.

Um Glamour geht es dem VW-Chef nicht

Was vermisst der Top-Manager in Wolfsburg? Ist es Glamour, Schicki-micki, der Duft der großen weiten Welt? Wohl eher nicht. All diese Dinge kann der Chef von weltweit 670.000 Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern ständig auf seinen Dienstreisen erleben – in chinesischen Millionen-Metropolen ebenso wie in New York, Paris, London oder Berlin. So paradox es erscheint: Diess scheint in Wolfsburg eher das Aroma einer echten Industriestadt, geprägt von einer selbstbewussten Arbeiterkultur, zu vermissen. Der knallharte und erfolgreiche Sanierer und Transformator scheint ein heimlicher Romantiker zu sein. Und in diesem Punkt sorgt Wolfsburg offenbar für Frust und Enttäuschung.

Wo sind die Kuttenträger, wo die typischen Arbeiterkneipen?

Wo sind die Arbeiterkneipen, wo sind die Kutten tragenden Fans des VfL, warum entwickelt die vor Ort so hoch geschätzte Autostadt keine stärkere Strahlkraft? Diess scheint nach Antworten zu suchen, aber nicht fündig zu werden. Der Abstecher in Brunos Tunnelschänke im Vorjahr war sicherlich auch ein gelungener PR-Auftritt für die sozialen Medien. Aber dahinter steckt wohl mehr. Welche Identität hat die Hauptstadt dieses gigantischen Konzerns? Der Chef scheint bei der Ursachenforschung auch in seinem siebten Jahr am Mittellandkanal nicht weiter zu kommen. Auch deshalb bedient er sich dann gerne des Mittels der Provokation. Doch die erzielt nicht die gewünschte Reaktion. Politik und Verwaltung in Wolfsburg würden es dem Entscheider von der anderen Seite des Kanals ja gerne recht machen. Aber sie wissen nicht wie. Denn ohne massive finanzielle Intervention von Volkswagen gäbe es hier kein Bundesligastadion inklusive einer hoch bezahlten Mannschaft, kein Phaeno, kein Kunstmuseum – ja eigentlich gar nichts von bundesweiter Strahlkraft.

Birmingham steht für die gelungene Transformation eines Industriestandortes

Einige Monate nach seinem Amtsantritt als Konzernchef im Frühjahr 2018 hat Diess in einem Handelsblatt-Artikel die Folgen disruptiver wirtschaftlicher Entwicklungen an die Wand gemalt. Als abschreckende Beispiele nannte er den Untergang der Autoindustrie in Detroit, Oxford Cowley und Turin. Birmingham, wo er im Auftrag von BMW auch ein Jahr arbeitete, nannte er nicht. Der Vergleich mit Wolfsburg verbietet sich eigentlich, denn Birmingham ist eine Millionenstadt. Was Diess offenbar imponiert, ist der Umstand, dass die alte Industriestadt sich trotz aller Probleme zu einem multikulturellen Dienstleistungsstandort gemausert hat. Es gibt eben neben der industriellen Transformation auch eine kulturelle und intellektuelle Transformation.

Wolfsburgs Macher würden es Diess gerne recht machen - aber wie?

Auch Wolfsburgs Standort-Manager sind sich dieser Herausforderung durchaus bewusst. Mit einem neuen Quartier am Nordkopf und weiteren punktuellen Aufwertungsprojekten in der Innenstadt wollten sie die Stadt hübsch und attraktiv machen für kaufkräftige neue Mitarbeiter von Volkswagen. Ironie der Geschichte: Romantiker Diess spricht von Arbeiterkultur und sorgt durch seine Strategie dafür, dass es davon in Wolfsburg immer weniger gibt. Es ist nicht der einzige Widerspruch, der die so willige Verwaltung vor Rätsel stellt und zugleich unter Zugzwang setzt. Denn so ganz nebenbei wischte Diess die bisherigen Pläne des Nordkopf-Entwicklers Signa vom Tisch. Zusätzlichen Büroraum braucht VW nämlich in Zeiten des hybriden Arbeitens und der eigenen ambitionierten Großprojekte mit Sicherheit nicht. Doch die Österreicher wollen genau das: einen potenten Ankermieter wie Volkswagen, der ihnen durch langfristige Mietverträge sichere Einnahmen garantiert.

Wolfsburg bemüht sich – aber das Tempo ist zu hoch

Der Vorstandsvorsitzende hat den historischen Widerspruch zwischen Wolfsburg als ganz normaler Kleinstadt und dem Sitz des Weltkonzerns Volkswagen offenbar auch für sich persönlich noch nicht lösen können. Dabei muss man fairerweise konstatieren, dass die Stadt sich ja tatsächlich im Schlepptau der Volkswagen-Krisen und des steten wirtschaftlichen Wandels doch immer tapfer angepasst hat. Auch in Wolfsburg steckt ein bisschen Birmingham. In Sachen Integration zum Beispiel geht die Stadt voran. Sie ist mindestens so international wie die Belegschaft. Dienstleistungen, wenn auch primär im Bereich der Entwicklungsdienstleister oder der Zulieferbranche, hat man in harter Arbeit gleichfalls ansiedeln können. Auch das Bemühen, ein touristisches Ziel zu werden, wurde beharrlich verfolgt. Lösungen aus einem Guss gelingen in einer jungen Stadt wie Wolfsburg aber eben nicht so leicht. Auch dazu trägt der ehrgeizige Diess nicht unwesentlich bei, weil er ständig aufs Tempo drückt und selten ganz zufrieden zu stellen ist.

Diess ist eben kein Carl H. Hahn

Heimat, so viel steht fest, wird Wolfsburg nicht für Diess. Dafür ist der gebürtige Münchner viel zu sehr Südlicht. Aber auch das ist im historischen Volkswagen-Kontext nichts Ungewöhnliches. Es muss und kann nicht immer eine lebenslange tiefe Verbindung zur Stadt herrschen wie bei Heinrich Nordhoff oder Carl H. Hahn. Im Falle Diess reicht voll und ganz die produktive Reibung zum hoffentlich beiderseitigen Nutzen. Dass dabei eher Funken stieben als dass Wärme entsteht, muss nicht schlecht sein.

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