Wolfsburg. Samba-Fußball am Mittellandkanal: Pele und die Stars des Santos FC erweisen VW und Wolfsburg die Ehre.

Es waren die Wunderjahre einer wundersamen Stadt, in denen wie im Märchen plötzlich aus hässlichen Entlein strahlende Prinzessinnen und aus Fröschen ebenso prächtige Prinzen werden. Es ist der Sommer 1961 – die Stadt Wolfsburg am Mittellandkanal kommt gerade erst in die Pubertät und protzt und strotzt doch schon mit einer Kraft, die ihresgleichen sucht im Lande. Schaut mal her, was wir zustande bringen, tönt es aus der ehemaligen Stadt des KdF-Wagens. An diesem 3. Juni 1961 liefert Wolfsburg Spektakuläres aus der Kategorie Sport und Unterhaltung.

Zu Brasilien unterhält VW ganz besondere Beziehungen

Brasiliens am Donnerstag verstorbener Fußball-Superstar Pelé gastierte mit der galaktischen Reisetruppe des Santos FC im VfL-Stadion am Elsterweg. Ein Ding der Unmöglichkeit? Keineswegs, sondern logische Folge der rasanten Expansionsstrategie von Volkswagen. Brasilien war der erste Stützpunkt in Übersee. 1953 wird mit Volkswagen do Brasil Ltda. in Sao Paulo die erste Produktionsgesellschaft im Ausland gegründet. 1959 wird dann in Sao Bernardo do Campo eine selbstständige Produktionsstätte eröffnet. Und die Hafenstadt Santos war die wichtigste Logistikdrehscheibe für die Wolfsburger. Trotz dieser Weltläufigkeit ist die Paarung VfL Wolfsburg gegen den FC Santos eine Sensation – es war so, als würde heute der SSV Vorsfelde ein Freundschaftsspiel gegen Paris St. Germain mit Messi und Mbappé bestreiten. Wolfsburg hatte Ende der 1950er-Jahre weniger als 60.000 Einwohner. 44.000 Menschen produzierten 554.000 Fahrzeuge. Der effektive Stundenverdienst betrug 2,94 Mark. Seit einem Jahrzehnt ging es aufwärts, immer nur aufwärts in einer Stadt, die den Barackenstatus erst so gerade abgestreift hatte. Aus der Volkswagenwerk GmbH war erst im Jahr zuvor eine Aktiengesellschaft geworden.

Die erste große Wolfsburg-Party wird zu einer Welt-Schau

Feste versteht man in Wolfsburg aber schon früh zu feiern. Sie sind Ausdruck des Selbstbewusstseins, das mit jeder Erfolgsmeldung aus der Riesenfabrik wächst. Samba wird so auch schon 1955 in der spröden Industriestadt im niedersächsischen Zonenrandgebiet getanzt. Der VW-Käfer ist gerade Millionär geworden. Das Rekordauto ist golden lackiert. Gefeiert wird im August. Und wie. 100.000 Menschen feiern im Werksstadion eine internationale Show. „An den Masten wehten die Flaggen aller Nationen der Erde“, schreibt Spiegel-Autor Wilhelm Bittorf in seiner „Geschichte eines Automobils“. Damals hieß der Star nicht Pelé, sondern Heinrich Nordhoff. Der Generaldirektor zelebrierte seinen Auftritt vor den Massen, die genau wussten, wem sie Wohlstand, Glanz und Gloria zu verdanken hatten.

Weltmeister auf Tingeltour durch Europa

Pelé, der 1958, 1962 und 1970 mit Brasiliens Seleçao Weltmeister wurde und damit wohl einen Allzeitrekord setzte, war beim Gastspiel im VfL-Stadion ein aufgehender Stern. Zusammen mit den anderen Brasilien-Stars wie Garrincha, Zito, Coutinho und Pepe musste er aber trotz seiner Berühmtheit durch Europa tingeln, um Geld einzuspielen. 1961 war der Club gerade wieder auf einer Rundreise, mit Stationen bei namhaften Gegnern wie dem TSV 1860 München und Eintracht Frankfurt, aber auch dem AS Rom, dem FC Valencia und der polnischen Nationalmannschaft. Beachtliche 18 Spiele in 45 Tagen hatten die Brasilianer bereits absolviert, als sie in Wolfsburg antraten. Unvergessen blieb der 3. Juni 1961 aber nicht nur für die VfL-Spieler und die 10.000 Zuschauer, die für fünf Mark plus zehn Pfennig „Tribünengroschen“ ins Stadion kamen. Denn ehe der Ball überhaupt rollte, wurde die Mannschaft aus Brasilien im Volkswagenwerk empfangen. Die anwesende Belegschaft erlebte den Besuch der gesamten Santos-Delegation, die – zeitgemäß elegant gekleidet mit Schlips und Kragen – die Volkswagen-Fahrzeugfertigung besichtigte und exklusive Einblicke in die Käfer-Produktion bekam.

Maschinenbauer und Schlosser des VfL Wolfsburg spielen gegen Artisten

Ach ja: Fußball gespielt wurde auch noch. Der VfL Wolfsburg, dessen Spieler hauptberuflich als Maschinenbauer, Schlosser oder Installateure im Werk arbeiteten, verblüffte sein Heimpublikum in diesem Spiel gegen international erfolgreiche Profis aus Südamerika. Der erklärte „Underdog“ erspielte eine mehr als ehrenwerte 3:6-Niederlage. Sowohl in den deutschen als auch in den brasilianischen Medien wurde das Spiel ausführlich und euphorisch besprochen. „Was Pelé, Pepe oder Coutinho vorzauberten, war Fußballartistik“, jubelte unter anderem die „Neue Woche“, nicht ohne sich auch vor den Wolfsburger Spielern zu verneigen: „Eine Elf von Amateuren hat es vermocht, sich im Lauf eines Spiels so zu steigern, dass sie selbst diesem Gegner Respekt abnötigte.“

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