Wolfsburg. Der frühere sowjetische Staatspräsident Michail Gorbatschow trug sich 2011 in das Goldene Buch der Stadt Wolfsburg ein.

Der ehemalige sowjetische Staatspräsident Michail Sergejewitsch Gorbatschow hat auch in Wolfsburg seine Spuren hinterlassen. Der charismatische Politiker, der am Dienstag 91-jährig gestorben ist, hat auch viele Wolfsburger beeindruckt. Darunter auch den ehemaligen Wolfsburger Oberbürgermeister Rolf Schnellecke.

Anlässlich des Petersburger Dialogs, der im Juli 2011 in Wolfsburg und Hannover stattfand, kam Gorbatschow in die VW-Stadt. „Er war ein Staatsmann von höchstem Format, mit der allergrößten Ausstrahlung“, sagt der 77-Jährige, der von 2001 bis 2011 Wolfsburgs Oberbürgermeister war. Es sei eine Ehre gewesen, Gorbatschow in Wolfsburg begrüßen zu dürfen. „Gorbatschow hatte Charisma, eine besondere Aura. Das war ein Besuch, der in Erinnerung bleibt“, meint Schnellecke.

Rolf Schnellecke lieh Gorbatschow seinen Füllfederhalter

Er erinnert sich auch noch an eine Anekdote. Als sich Gorbatschow ins Goldene Buch der Stadt Wolfsburg eintragen sollte, reichte ihm Schnellecke seinen eigenen Füllfederhalter. „Gorbatschow sagte, dass mein Füllfederhalter sehr gut schreibe“, erinnert sich Schnellecke, der sich bei der Gelegenheit auch gleich ein Autogramm des Staatsmannes geben ließ.

Weil Gorbatschow so begeistert von dem Schreibutensil war, kaufte Schnellecke das gleiche Exemplar noch einmal und bat die Botschaft darum, das Geschenk Gorbatschow zukommen zu lassen. „Es kam aber nie eine Antwort. Ich glaube nicht, dass der Füller jemals bei Gorbatschow angekommen ist“, meint Schnellecke.

1992 besucht Gorbatschow das Wolfsburger VW-Werk

In seiner Heimat wurde Gorbatschows Wirken kritisch gesehen. Im Westen war er die Gallionsfigur einer neuen Zeit. Er ist der Vater von Glasnost und Perestroika, Offenheit und Umgestaltung. Und auch Volkswagen hat ihm vieles zu verdanken.

1992 besuchte „Gorbi“ das Wolfsburger Volkswagen-Stammwerk und wurde begeistert empfangen. Der damalige VW-Chef Professor Carl Hahn sagt anlässlich des Todes Gorbatschows: „Als Herr Gorbatschow Präsident der Sowjetunion war, gab er Abermillionen Menschen ihre Freiheit, um ihnen ein besseres und selbstbestimmtes Leben zu ermöglichen. Ich kannte ihn persönlich und schätzte sein Charisma und seine staatsmännische Art.“

So würdigt Ex-VW-Chef Carl Hahn Gorbatschow

Gorbatschow hielt sich 1992 als Teilnehmer des Kongresses der International Partnership Initiative (IPI) in der VW-Stadt auf. 30 Jahre später herrscht Krieg in der Ukraine und Eiszeit zwischen dem Westen und Wladimir Putins Russland. Und auch Volkswagen droht von diesem Konflikt schwer beschädigt zu werden. Das Werk im russischen Kaluga steht still, seine Zukunft ist ungewiss. Und wichtige Zulieferer in der Ukraine fielen aus.

Im September 1992 besuchte Michail Gorbatschow das VW-Werk. Empfangen wurde er damals unter anderen von VW-Chef Carl Hahn (rechts) und Betriebsratschef Klaus Volkert (Zweiter von rechts). 
Im September 1992 besuchte Michail Gorbatschow das VW-Werk. Empfangen wurde er damals unter anderen von VW-Chef Carl Hahn (rechts) und Betriebsratschef Klaus Volkert (Zweiter von rechts).  © BZV-Archiv | Peter Sierigk

30.000 VW-Mitarbeiter feiern Gorbatschow auf Betriebsversammlung

Auf der Betriebsversammlung 1992 in Halle 11 des Stammwerkes war von alldem nichts zu spüren. VW hatte unter Carl Hahn die Chancen genutzt, die die Öffnung des Ostblocks inklusive der DDR geboten hat. Russland hingegen versank in ein chaotisches Interregnum, das der Bevölkerung nichts Gutes bescherte. „Gorbi“ aber, der mit seiner Frau Raissa angereist war, wurde von der Belegschaft überschwänglich gefeiert. Unsere Zeitung schrieb damals: „Russische Lieder erklingen und verbreiten eine eigenartig vertraute Atmosphäre. Das VW-Werksorchester stimmt am Freitag, 18. September 1992, rund 30.000 Mitarbeiter in Halle 11 auf einen besonderen Gast ein. Begeisterung und Verehrung für diesen Gast spiegeln sich in der fast liebevollen Kurzform seines Namens wider: Gorbi.

Gorbatschow ließ Mauern und Grenzen einreißen

„Herzlich willkommen, Herr Gorbatschow“, hieß es in kyrillischen Lettern über dem Podium. Michail Gorbatschow hatte die Herzen der Deutschen gewonnen, seit er im Kreml alte Strukturen aufbrach und Reformen verhieß. Glasnost und Perestroika, Offenheit und Umgestaltung, stehen für den Wandel, den wohl niemand im kommunistischen Riesenreich Sowjetunion für möglich gehalten hätte. Gorbatschow wagte es, Mauern und Grenzen einzureißen – am Ende auch die Berliner Mauer und die innerdeutsche Grenze. Er schaffte das nicht allein, aber der entscheidende Anstoß ging von ihm aus.

Michail Gorbatschow und der damalige VW-Chef Professor Carl Hahn. 
Michail Gorbatschow und der damalige VW-Chef Professor Carl Hahn.  © Privat | Büro Carl Hahn

Gorbatschow lobte in Halle 11 die Leistungen des Unternehmens und seiner Mitarbeiter. Er konnte nicht ahnen, dass Volkswagen im neuen Jahrtausend ein modernes Werk in Kaluga bauen sollte. Es droht ein Opfer des neuen Kalten Krieges zu werden.

Westhagens Ortsbürgermeisterin Ludmilla Neuwirth fungierte als Dolmetscherin

Eine kuriose Erinnerung teilt Ludmilla Neuwirth aus Westhagen an ihre Begegnung mit Michail Gorbatschow beim Petersburger Dialog, der im Juli 2011 in Wolfsburg und Hannover stattfand. „Ich habe kurz für eine Moderatorin des NDR übersetzt“, erzählt die Vorsitzende der Deutsch-Russischen Gesellschaft in Wolfsburg. Nach dem Plenum am ersten Veranstaltungstag in der Autostadt hätten noch viele Teilnehmer mit Gorbatschow sprechen wollen, doch die Übersetzerin sei weggewesen. Die Moderatorin, so erinnert sich die 68-Jährige, habe den ehemaligen Präsidenten der Sowjetunion gefragt, ob er stolz sei, an der Veranstaltung teilzunehmen. Und Gorbatschow sagte: „Eigentlich habe ich jetzt Hunger. Ich gehe jetzt zum Abendbrot.“

Eisige Stimmung zwischen der russischen Delegation und Gorbatschow

Neuwirth erklärte sich die wirsche Antwort, die sie übersetzte, damit, dass die russische Delegation nicht gerade herzlich mit Gorbatschow umgegangen sei. Noch immer, erklärt sie, stehe ja der Vorwurf im Raum, dass er den Zerfall der UdSSR vorangetrieben habe. „Man hat die Kälte gespürt“, so die CDU-Ratsfrau und Ortsbürgermeisterin von Westhagen. Lediglich der russische Botschafter habe Gorbatschow in seiner Rede begrüßt.

Sowjetischer Ex-Präsident Gorbatschow mit 91 Jahren gestorben

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    Gorbatschows Gesetze ermöglichten Spätaussiedlern die Ausreise

    Ludmilla Neuwirth dagegen nutzte die Gelegenheit, um sich bei Gorbatschow zu bedanken. „Er hatte mit neuen Gesetzen für Spätaussiedler die Ausreise ermöglicht.“ Während Ausreiseanträge zuvor sehr häufig abgelehnt worden seien, habe es unter seiner Ägide als Generalsekretär des Zentralkomitees der Kommunistischen Partei der Sowjetunion ab etwa 1985/86 die Richtlinie gegeben, ihnen stattzugeben. „Wir sind 1987 aus der Sowjetunion ausgereist“, erinnert sich Neuwirth.

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